Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule

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3.3.3 Zusammenschau und Diskussion der Ansätze

In den vorangegangen Kapiteln wurde einige Kernthesen des Radikalen und des Sozialen Konstruktivismus erörtert und zum Teil mit praxisrelevanten bzw. kritischen Kommentaren versehen. Nachfolgend sollen die beiden Ansätze im Sinne einer Zusammenfassung verglichen werden, danach wird sich eine kurze kritische Reflexion der konstruktivistischen Ansätze (als Ganzes betrachtet) anschließen.

3.3.3.1 Radikaler und Sozialer Konstruktivismus: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Was die beiden Ansätze vereint, ist die Tatsache, dass beide die Vorstellung der objektiven Erkenntnis ablehnen und die Wirklichkeit als eine Konstruktion auffassen, die von uns aktiv vollzogen wird. Viele Vertreterinnen und Vertreter des Sozialen Konstruktivismus distanzieren sich jedoch von erkenntnistheoretischen Fragen. Gergen (2002) vertritt beispielsweise die Ansicht, dass es nicht darum geht, zu entscheiden, was real ist und was nicht, da dies ohnehin nicht möglich sei: „Was immer ist, ist einfach. Sobald wir jedoch das, was ist, zu artikulieren versuchen – und festlegen wollen, was tatsächlich und objektiv der Fall ist –, betreten wir eine Welt des Diskurses“ (Ebd., 276). Eine ähnliche Position vertreten Baecker, Borg-Laufs, Duda und Matthies (Baecker u.a. 1992). Dennoch sind hier Parallelen zum Radikalen Konstruktivismus erkennbar, wie die folgenden Zitate verdeutlichen: „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“ (Maturana 1998, 25). Oder: „Wenn immer man denkt oder sagt: es ‘gibt’ eine Sache, es ‘gibt’ eine Welt, und damit mehr meint als nur, es gibt etwas, das ist, wie es ist, dann ist ein Beobachter involviert“ (Luhmann 1990, 62). Auch Singer (2002) spricht bekanntlich von einem „Beobachter im Gehirn“.

Der deutlichste Unterschied zwischen den beiden Ansätzen besteht laut Baecker u.a. (1992, 119) darin, „daß Radikale KonstruktivistInnen sich für intrapsychische Prozesse (...) interessieren und dort den Ursprung von Wirklichkeitskonstruktionen sehen, wogegen social constructionists sich nur für interpsychische Prozesse, d.h. für Formen und Inhalte des Diskurses zwischen den Individuen interessieren“. Aus der Sicht des Radikalen Konstruktivismus sind Individuen autonom, also nicht gezielt beeinflussbar. Dies steht im Widerspruch zu der „sozial konstruktionistischen Annahme einer sozialen Determiniertheit“ (Ebd., 128). Andererseits wird auch von Vertretern und Vertreterinnen des Radikalen Konstruktivismus die Bedeutung der sozialen und sprachlichen Interaktion sowie der Einfluss des sozio-kulturellen Kontexts auf die Entwicklung kognitiver Strukturen nicht (wie oft kritisiert) grundsätzlich verneint, sondern – wenn auch zum Teil auf einer anderen Ebene – mit berücksichtigt (vgl. z.B. von Foerster, Luhmann oder Maturana).

Ein weiterer grundsätzlicher Unterschied zwischen den beiden Ansätzen liegt darin, dass der Soziale Konstruktivismus keine explizit erkenntnistheoretischen Aussagen oder gar einen „empirischen Nachweis der Konstruiertheit von ‘Tatsachen’“ anstrebt (Knorr-Cetina 1989, 88), wie dies beispielsweise Maturana oder Roth durch die empirische Verankerung des Radikalen Konstruktivismus in der Biologie tun. Besagte neurobiologische Argumentation wird allerdings häufig als äußerst problematisch befunden und hat in der Vergangenheit nicht selten zur unreflektierten Ablehnung sämtlicher konstruktivistischer Ansätze geführt.1


Kognitivistischer Konstruktivismus Sozialer, kulturalistischer Konstruktivismus
Individuum Gesellschaft
Lebenslauf Lebenswelt
Verstehen Verständigung
Beobachtung Perspektivenverschränkung
Erkennen Handeln
Sprechen Sprache
Kognitive Selbststeuerung Soziale Zugehörigkeit
Operationale Geschlossenheit Strukturelle Koppelung

Tab. 2:

Individueller und sozialer Konstruktivismus (Siebert 2005, 25)

Auch wenn sich Autoren wie Gergen explizit vom Radikalen Konstruktivismus distanzieren, gibt es wiederum andere, wie die Bochumer Arbeitsgruppe um Baecker, die sich bemüht haben, beide Perspektiven zu vereinigen, was mir sinnvoll und gerade aus sozial-konstruktivistischer Sicht auch logisch und konsequent erscheint. Durch die Vereinigung der beiden Ansätze und der beiden unterschiedlichen Menschenbilder haben Personen „die Möglichkeit, auf Perturbationen individuell und selbstbestimmt zu reagieren, ihre eigenen Vorstellungen zu reflektieren und zu manipulieren; sie sind nicht einer unabänderbaren Wirklichkeit ausgeliefert“ (Baecker u.a. 1992, 130). Diese erweiterte Position ist sicher unterstützenswert, denn sie scheint mir – auch für die Schule – eine konstruktive Perspektive zu bieten!

3.3.3.2 Zur Kritik am Konstruktivismus

Der Konstruktivismus war in den vergangenen Jahren immer wieder das Ziel von teils heftiger Kritik aus verschiedenen Richtungen, wobei meist wenig zwischen den einzelnen Ansätzen und Positionen differenziert wurde, und man unterstellen könnte, dass manchen nicht immer bewusst war, dass es tatsächlich unterschiedliche Konzepte gibt. Dies wird auch von Reich (2012, 91) bemängelt: „Besonders peinlich ist die Rezeption in der Pädagogik. Hier wurde der Konstruktivismus z.B. entweder aus der Sicht der Systemtheorie bewertend als weniger lesenswert abgewertet (...) oder nur rudimentär dargestellt“. Im gleichen Zug hebt Reich hervor, dass im deutschen Sprachraum „die Bedeutung des Konstruktivismus in den Sozial- und Kulturwissenschaften (...) noch unterschätzt“ wird (Ebd.). Mit ein Grund dafür mag sein, dass es für Außenstehende nicht immer leicht ist, die einzelnen – zum Teil auch widersprüchlichen bzw. gegensätzlichen – Theorien einzuordnen und die – zum Teil hochkomplexen – Gedankengänge nachzuvollziehen.1 Reich (2012) hat sicher nicht unrecht mit seiner Behauptung:

Es setzt zudem ein gehöriges Literaturstudium voraus, wenn man sich mit der Fülle gerade auch impliziter Konstruktivismen vertraut machen und deren Bedeutung in den wissenschaftlichen Diskursen der Gegenwart einschätzen will. Erschreckend naiv und willkürlich verfährt daher mitunter die Kritik am Konstruktivismus, sofern sie ihn nicht in der Breite seiner Ansätze rezipiert und nicht hinreichend den erkenntnistheoretischen Status seiner Ansätze markiert (Ebd., 91).

Diese aus Sicht des Konstruktivismus erforderlichen Konstruktionsprozesse (mit den entstehenden Unschärfen) sowie die Verabschiedung von traditionellen Verfahren und Ansätzen mit Universalitätsanspruch stellen sicher eine große Herausforderung dar, aber auch eine große Chance und Bereicherung. Der Konstruktivismus fordert zur Trans- und Interdisziplinarität auf. Dies erfordert zwangsläufig einen intensiven Diskurs, so dass die Diskussionen um angeblich „fundamentale Denkfehler im Konstruktivismus“ (Unger 2003, 101) letztendlich ihr Ziel erreicht haben, nämlich die intensive Auseinandersetzung mit konkurrierenden Theorien und Konstruktionen von Wirklichkeit anzuregen, die schließlich zu der Erkenntnis führen (müsste), dass es „die“ absolute Wahrheit nicht gibt, sondern viele mögliche Perspektiven und zahlreiche Grauzonen.2

Auf Grund von einseitigen und zum Teil auch lückenhaften Interpretationen wurden in der Vergangenheit konstruktivistische Ansätze als Ganzes (auch im Bereich der Fremdsprachen) immer wieder abgelehnt, obwohl es in der therapeutischen, sozialen und ebenso in der pädagogischen Praxis kurioserweise schon seit vielen Jahren zahlreiche erfolgreiche Modelle gibt, die explizit oder implizit auf konstruktivistischen Ansätzen aufbauen bzw. von Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis heraus entwickelt wurden (wie z.B. der Storyline Approach), ohne jemals ein Wort über den Konstruktivismus gehört zu haben. Dies ist für mich mit ein Grund dafür, warum konstruktivistisches Denken auch in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften mehr Berücksichtigung finden sollte, und zwar im Sinne einer aufeinander abgestimmten Vernetzung von Theorie und Praxis und der Nutzung der sich daraus ergebenden Synergieeffekte. Wie dies erfolgen könnte, möchte ich in meinen Fallstudien 7-9 untersuchen.

Kritik am Konstruktivismus bezieht sich bei genauerer Betrachtung meist auf den Radikalen Konstruktivismus, und speziell an der Gewichtung der Neurobiologie scheiden sich offenbar die Geister. Oft werden Vorwürfe wie Fundalismus, Egozentrismus, Biologismus, fehlende Empirie bzw. individuelle Ausgestaltung von Erlebniswirklichkeiten und Beliebigkeit in Bezug auf gesellschaftliche und persönliche Wertmaßstäbe geäußert. Ferner wird die Erklärung der Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Realität sowie System und Umwelt oft als mangelhaft kritisiert. Die Kritikpunkte müssen hier nicht im Einzelnen dargelegt werden, zumal einiges schon im Text berücksichtigt und vieles auch im öffentlichen Diskurs geklärt wurde.3

 

Im Bereich der Fremdsprachendidaktik fand hierzulande um die Jahrtausendwende eine intensive und zum Teil auch recht feindselige Auseinandersetzung um den Radikalen Konstruktivismus insbesondere zwischen den Kontrahenten Bredella und Wendt statt. Wendt (2002) hatte mit seiner Publikation offensichtlich einen mittleren Flächenbrand ausgelöst und das fremdsprachendidaktische Lager in zwei Teile aufgeteilt, während viele andere das Thema „Konstruktivismus“ in der Fremdsprachenforschung – warum auch immer – bis heute totschweigen.4 Dem gegenüber hat Wolff durch zahlreiche Publikationen versucht, sachliche Gründe für einen konstruktivistisch orientierten Fremdsprachenunterricht darzulegen (vgl. z.B. Wolff 1994; 1997b; 2000; 2001; 2002b). Auf internationaler Ebene dagegen vertreten im Bereich des Fremdsprachenlernens beispielsweise Nie/Lau (2010) und insbesondere Williams/Burden (1997) eine explizit konstruktivistische Perspektive (vgl. Kapitel 4.3.3.1.2).

Der Konstruktivismus will und muss skeptisch betrachtet werden. Zweifelsohne. Er sollte nicht als Dogma, sondern vielmehr als inspirierende „Irritationstheorie“ genutzt werden (Pörksen 2006, 11), um gewisse Denktraditionen, Handlungsgewohnheiten und „Wahrheiten“ immer wieder neu zu überprüfen. Genau das beabsichtigt er nach meinem Verständnis auch. Und genau das hat er in der Vergangenheit auch getan: provoziert. Mittlerweile scheint dies nicht mehr in dem Ausmaß erforderlich zu sein. So betrachtet auch Roth (2003b) den Konstruktivismus, „was die erkenntnistheoretischen Fragestellungen betrifft (...) im positiven Sinne für ausdiskutiert“ (Ebd., 16)5, und Schmidt (2003) verabschiedet sich von naturalistischen Begründungsformen des Radikalen Konstruktivismus zugunsten einer kulturalistischen und philosophischen Erkenntnistheorie, die nach dem Sinn von Wirklichkeitskonstruktionen und Handlungen fragt. Er geht davon aus, dass kulturelle Sinnstrukturen in Geschichten und Diskurse eingebettet sind: „Geschichten und Diskurse liefern Erwartungs- und Deutungsmuster für das Erleben und Erfahren der Aktarten, wodurch über Anschlussmöglichkeiten entschieden wird. Geschichten und Diskurse entstehen aus und bestehen durch Relationalität und Reflexivität“ (Ebd., 56).

Viele Vertreterinnen bzw. Vertreter des Konstruktivismus (z.B. Ciompi, Roth und auch Maturana) verweisen auf die handlungsleitende Kraft der Gefühle. Dieses Thema wurde in meinen Ausführungen bisher nur ganz am Rande gestreift. So behauptet Maturana (1997, 130): „Wer den kulturellen Wandel zu erklären und zu verstehen wünscht, muß bei den Gefühlen ansetzen“. Er unterstreicht die emotionalen Grundlagen des Handelns und stellt die These auf, „daß allein Gefühle über den Sinn und die Bedeutung von Taten entscheiden“ (Ebd.).6 In diesem Sinne ist auch Kommunikation (als Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft) nie nur eine Verstandessache, sondern stets auch – oder besser: vor allem – eine Gefühlssache: Verstehen, Verständigung und Perspektivenverschränkung erfordern „nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern auch emotionale Antriebe“ (Siebert 2005, 26). Diesen Aspekt gilt es bei der Unterrichtsgestaltung und gerade auch beim Fremdsprachenlernen mit Bezug zur angestrebten interkulturellen kommunikativen Kompetenz viel stärker zu berücksichtigen.

Dass der Konstruktivismus vielschichtig ist und sich in den vergangenen Jahren auch auffallend in Richtung eines sozialen und kulturalistischen Konstruktivismus weiter entwickelt hat, wird vielerorts, und vor allem von seinen Kritikern und Kritikerinnen, nicht wahrgenommen. Dies trifft meines Erachtens auch auf die Fremdsprachendidaktik zu, und das ist bedauerlich.

Konstruktivistisches Denken mag an Grenzen stoßen, aber das tut letztendlich – wie auch die Geschichte zeigt – (fast) jede Theorie. Theoriediktate sind gefährlich und kontraproduktiv. Eine prinzipielle Skepsis ist also immer angebracht, da sie den Blick weitet. Dies betrifft vor allem soziale Konstruktionen, wenn diese von der Gesellschaft objektiviert und „wie naturgegebene Phänomene“ (von Ameln 2004, 198) betrachtet werden, „mit entsprechenden Folgen für reales Denken und Handeln“ (Ebd.). Ich denke hier vor allem an „Urteile“ in Bereichen wie (psychische) Gesundheit, Schicht-, Konfessions- oder Kulturzugehörigkeit, die beispielsweise auch im schulischen Kontext relevant sind. Dasselbe gilt natürlich auch für die individuellen Konstrukte, also die Wahrnehmungs- und Interpretationsfolien, mit deren Hilfe jeder und jede Einzelne die Welt betrachtet.

Konstruktivistisches Denken löst fixierte Denkmuster auf und zieht letztendlich auch ethische Konsequenzen nach sich, denn der Verzicht auf eindimensionale Welterklärungen bedeutet gleichzeitig auch einen Verzicht auf Machtanspruch:7

Mit keiner Bewertung ist in der Geschichte der Menschheit mehr Elend verantwortet worden als mit der Wahrheit. (...) Der zentrale Wert des im Konstruktivismus angelegten Menschenbildes ist die Autonomie. (...) Die Stärke des Radikalen Konstruktivismus liegt in der Notwendigkeit des bewußten und selbstverantwortlichen Umgangs mit sonst nur allzuoft unhinterfragten Grundannahmen (Kruse/Stadler 1990, 44).

Konstruktivistisches Denken erlaubt, fördert und fordert divergentes und kreatives Denken. Dies sollte auch im Zusammenhang mit Erneuerung, Pluralismus, Respekt, Friedfertigkeit, Solidarität und Toleranz sowie den dafür erforderlichen bzw. immer wieder geforderten Kompetenzen gesehen und wertgeschätzt werden (vgl. Kapitel 1.6). Mit Beliebigkeit hat dies meines Erachtens wenig zu tun, sondern im Gegenteil verlangt konstruktivistisches Denken eine neue Dimension von anspruchsvollen Qualitäten wie Eigenverantwortlichkeit, Selbstorganisation, Selbstmotivation, Reflexionsvermögen, (Selbst-)Kritikfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Interaktions- und Diskursfähigkeit, was zweifelsohne eine große Herausforderung – vor allem auch für die Schule – darstellt.

Auch wenn von manchen Zeitgenossinnen bzw. -genossen8 moniert wird, dass es im Konstruktivismus keine einheitliche und in sich schlüssige Theorie gäbe, um überhaupt von einem ernstzunehmenden Ansatz sprechen zu können, so ist doch verwunderlich, dass diese angeblich unsolide Basis seit Jahren als Sprungbrett für viele anregende Diskussionen in der Wissenschaftslandschaft und unzählige erfolgversprechende Modelle in der pädagogischen Praxis dient: „Konstruktivismus muss Vielfalt ermöglichen, dies ist in seinem theoretischen Kern eingeschrieben, aber er bietet auch ein hinreichendes konstruktives, methodisches und praktisches Repertoire, um wissenschaftlich relevante, neue Ergebnisse zu erzielen“ (Reich 2012, 92). Auf die Schule und das Fremdsprachenlernen bezogen, mit den in vielerlei Hinsicht heterogenen Klassen, ergibt sich daraus ein ganz neues Bild: Wenn nämlich die vielfältigen individuellen und/oder sozialen Konstruktionen bzw. Konstrukte als jeweils viable Lösungen und Lösungsversuche ernstgenommen und reflektiert werden, dann könnte sich das möglicherweise positiv auf den Lernerfolg und die Bildungsmotivation der Schülerinnen und Schüler auswirken! Ob und inwiefern der Storyline Approach im fremdsprachlichen Klassenzimmer der Sekundarstufe I einen Beitrag dazu leisten kann, sollen meine Fallstudien in Teil B zeigen.

3.4 Von der Theorie zur Praxis oder vice versa

I hear and I forget, I see and I remember, I do and I understand (Chinesisches Sprichwort)

In der traditionellen Unterrichtslehre geht es vor allem darum, wie Unterricht geplant, gesteuert und organisiert werden muss, damit die Lehrkraft die Kontrolle über den (angeblichen) Lernprozess in der Hand behält und den Stoff ungestört „vermitteln“ kann. Wie jedoch die unmittelbar vorangegangenen Kapitel verdeutlicht haben, ist die besagte „Informationsübertragung“ nach dem Input-Output-Prinzip (Computermetapher) so nicht möglich, da Menschen keine steuerbaren „trivialen Maschinen“ sind. Aus diesem Grund muss das Lehren zugunsten des Lernens in den Hintergrund treten, so dass die Lernenden ihre eigenen Konstruktionsprozesse aktiv vollziehen können und somit ihr Wissen nicht „träge“ bleibt, sondern im Alltag – auch im fremdsprachlichen – zur Anwendung gelangen kann, also transferfähig ist.

In den vergangenen Jahren wurde von verschiedenen Seiten der Versuch unternommen, eine konstruktivistische Didaktik zu entwickeln, die den zuvor genannten Forderungen entspricht.1 Im Bereich der Fremdsprachendidaktik ist das Vorhaben, eine eigene konstruktivistische Fremdsprachendidaktik2 zu konzipieren, aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch verlaufen. Nicht unerwähnt bleiben sollte dabei, dass der Radikale Konstruktivismus nie den Anspruch erhoben hat, als Lerntheorie – im Sinne eines allgemeingültigen Rezeptes – übernommen zu werden, zumal er sich dadurch selbst widersprechen und auflösen würde, sondern vielmehr als Anregung verstanden werden will, die eigenen Positionen und Grenzen der Instruktion zu überdenken. Dies wurde von Vertretern wie Ernst von Glasersfeld immer wieder ausdrücklich betont: „Die Annahme lautet vielmehr, dass sie [die allgemeinen Postulate, Anm. D.K.] praktisches Handeln inspirieren, dieses jedoch nicht im Modus linear-kausaler Einflussnahme determinieren (Ableitungsverhältnis)“ (Pörksen 2006, 325).

Nachfolgend sollen einige Kernthesen und Anregungen für die praktische Gestaltung von Lernumgebungen im Sinne einer konstruktivistischen Lernkultur erörtert werden. Diese können – ganz im konstruktivistischen Sinne – nur allgemeine Aussagen und Vorschläge sein, da die individuelle Ausgestaltung von Lernkontexten der jeweiligen Lerngruppe vorbehalten bleiben muss. Ich werde mich dabei auf eher gemäßigte Positionen des Konstruktivismus beziehen, zumal der Radikale Konstruktivismus mit institutionellem Lernen allgemein nur schwer vereinbar (aber nicht unmöglich) ist, und ich ferner die Ansicht vertrete, dass der soziale Aspekt des Wissenserwerbs bzw. des Lernens im Sinne der strukturellen Kopplung gerade im Bereich des fremdsprachlichen Lernens nicht unterbewertet werden darf. In diesem Sinne verschränke ich – wie bereits angedeutet – den Radikalen mit dem Sozialen Konstruktivismus.

Abb. 5:

Faktoren konstruktiven, konstruktivistisch aufgeklärten Lernens (Siebert 2005, 31)

Mit Blick auf die vorangegangen Ausführungen halte ich fest, dass unter dem Begriff „Lernen“ ein aktiver, eigenverantwortlicher und subjektabhängiger Prozess der Konstruktion von Wissen verstanden wird, der auf der Grundlage von bisherigen Erfahrungen und früheren Konstruktionen (Interimswissen) stattfindet und zu individuell verschiedenen (viablen) Ergebnissen führt. Der soziale Kontext ist insofern ein bedeutsamer Faktor, als im Rahmen von sozialer Interaktion und Kooperation die subjektiven Wissenskonstrukte angeglichen (Prinzip der Konsensualität) und gleichzeitig die individuellen Lernprozesse erleichtert werden. Lernen wird als ganzheitlicher Prozess betrachtet, in dem Leiblichkeit, Emotionalität, Sinnlichkeit und Handlungsfähigkeit wichtige Ankerpunkte darstellen. Das alles trifft auch bei Storyline zu (vgl. Kapitel 2.3).

Um gleich zu Beginn ein häufig geäußertes Vorurteil aus dem Weg zu räumen: Konstruktion muss Instruktion nicht grundsätzlich ausschließen. Allerdings erhält der Begriff „Instruktion“ bzw. „Lehren“ eine völlig andere Bedeutung, und zwar im Sinne der Anregung (Perturbation). Auch wird die Lehrkraft im Klassenzimmer nicht gänzlich überflüssig und überlässt die Lernenden ihrem Schicksal, wie so oft befürchtet wird. Stattdessen übernimmt sie eine Vielzahl an neuen Aufgaben und Funktionen, die auf einer veränderten Weltanschauung basieren, welche die Prozesse in den Köpfen der Lernenden „in ihrer Eigendynamik und in ihrer Vernetztheit mit Umwelt, Körperwelt und Ichwelt“ berücksichtigt (Meixner 1997, 11). Im Klartext: „Das Bekenntnis zu einer konstruktivistisch orientierten Fremdsprachendidaktik bedeutet jedenfalls nicht, die SchülerInnnen völlig in einer falsch verstandenen Autopoiesis oder Autonomie allein und laienhaft herumkrebsen zu lassen ...“ (Stegu 2000, 212).


Normatives Paradigma Interpretatives Paradigma
Technologischer Machbarkeitsoptimismus Unterstützung von Selbstorganisation
Informationsgesellschaft (Sender-Empfänger-Modell) Lern- und Kommunikationsgesellschaft
Wissensvermittlung Steuerung Selbst gesteuertes Lernen
Verbindliche Wahrheiten Pluralität der Wirklichkeitskonstruktionen
Reduktionistisches Weltbild Holistisches Weltbild
Vermittlung von Antworten Anregung von Fragen
Konsens/Einheit Differenz/Vielfalt
Perfekte Lösungen Irrtumswahrscheinlichkeit
Erkenntnis als Abbildung Erkenntnis als Konstruktion

Tab. 3:

 

Normatives versus interpretatives Paradigma (Siebert 2005, 20)

Um vielseitige Lern- bzw. Konstruktionsprozesse im Sinne einer konstruktivistischen Lernkultur3 zu ermöglichen und zu fördern, sollten unter anderem die folgenden Aspekte bedacht werden.4 Diese können meines Erachtens auch als Folie und Anregung für die Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts dienen:

 Lerninhalte: Die Unterrichtsinhalte sollten sich an komplexen, lebensnahen, ganzheitlich zu betrachtenden Problembereichen orientieren, „denn verstehen läßt sich nur etwas, wenn es im komplexen Gesamtzusammenhang erfaßt ist“ (Dubs 1995, 890). Das additive Aneinanderreihen vorgegebener, reduzierter und vorstrukturierter Lerngegenstände muss dem gemeinsamen Auswählen von schülerrelevanten Lerninhalten weichen, die an den Vorerfahrungen und Interessen der Lernenden anknüpfen (Anschlussfähigkeit) und in möglichst authentische, situative Kontexte eingebettet sind. Lernprozesse werden bekanntlich erst dann initiiert, wenn das Gleichgewicht eines Systems in Unordnung geraten ist. Aus diesem Grund bietet es sich an, Schülerinnen und Schülern immer wieder „Situationen zu präsentieren, in denen gewohnte Denkweisen fehlschlagen“ (von Glasersfeld 2005, 220), so dass sie zur Bildung und Überprüfung von Hypothesen sowie zu multiplen Problemlöseverfahren und Konstruktionsprozessen angeregt werden.5 Dabei sollten Gefühle und die persönliche Identifikation einbezogen werden, wie dies im Falle von Geschichten, persönlichen Erzählungen und Diskursen jeglicher Art berücksichtigt wird.Da Lerninhalte nicht im Voraus (und auf Jahre hin) festgelegt werden können, ist es auch nicht sinnvoll, mit Schulbüchern, in denen bereits alles bis ins Detail vorgeplant ist, zu arbeiten und diese Seite für Seite „durchzunehmen“: “The teacher must be weaned away from the idea that the textbook, neatly arranged into units as it is, each containing specific items of grammar and vocabulary, defines what the pupils learn. For learning is not instantaneous, linear and additive“ (Lennon 1993, 127). Sprache ist zwar linear lehrbar, aber auf Grund ihrer Komplexität nicht linear lernbar (Bleyhl 2000, 83). Nunan (2013, 19) sieht “second language acquisition more like growing a garden than building a wall. (...) The linguistic flowers do not all appear at the same time, nor do they all grow at the same rate“.

 Lernziele: Generell sollten Lernarrangements so gestaltet sein, dass sich Schülerinnen und Schüler in ihrem Lernen immer in der „Zone der proximalen Entwicklung“ (Vygotskij) befinden (vgl. Kapitel 3.2.3). Da die Lernenden jedoch eine heterogene Gruppe bilden, und somit die Lern- und Konstruktionsprozesse individuell verschieden sind, können nicht für alle verbindliche Lernziele im Voraus akribisch festgelegt und aufgeschlüsselt werden, wie dies durch die Progression der üblichen Schulbücher und durch andere außenstehende Instanzen (z.B. Lehrplankommissionen) im Sinne einer „Lehr-Plan-Wirtschaft“ (Bleyhl 2004, 229) vollzogen wird. Stattdessen müssen echte „Lern“-Ziele und nicht mehr „Lehr“-Ziele im Mittelpunkt des Unterrichts stehen:Konstruktivistische Lernzielsetzungen lassen sich von dem Grundprinzip leiten, daß die Auseinandersetzung mit der Umwelt (ihre subjektive Konstruktion) das alleinige Ziel hat, das Überleben des Lerners als autopoietisches System zu sichern. (...) Spezifische Lernziele können deshalb (...) festgelegt werden als Erwerb von Fähigkeiten und Wissenskomponenten, die in der realen Lebenswirklichkeit gebraucht werden können (Wolff 1994, 418).Die Lernenden zu Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation zu befähigen, so dass sie eigenständig und flexibel auf anstehende Probleme eingehen und diese zu Lösungen führen können, sollte also stets das übergeordnete Unterrichtsziel darstellen (kognitive Flexibilität). Dies deckt sich auch mit den Zielsetzungen des Bildungskonzepts „Lebenslanges Lernen“, steht jedoch im Widerspruch zu der Vereinheitlichung von Unterricht durch Bildungsstandards und bundesweite Vergleichsarbeiten (vgl. Kapitel 1.6).

 Lernumgebung: Wenn Lernen als ein aktiver Prozess zu verstehen ist, bei dem vorhandenes Wissen und Können aus neuen, subjektabhängigen Erfahrungen immer wieder verändert und neu strukturiert wird, dann muss eine entsprechend komplexe, „starke“ Lernumgebung mit vielseitigen Lernangeboten geschaffen werden, in der die Lernenden „ihre individuellen Erfahrungen gewinnen, die sie durch eine aktive Auseinandersetzung in der Lerngruppe für sich verständlich machen und in ihr Vorwissen einbauen“ (Dubs 1995, 890). Das Klassenzimmer wird zur „Lern- und Forschungswerkstatt“ (Wolff 2000, 104), in der mit authentischen Materialien und realitätsnahen Kommunikationssituationen an komplexen, ganzheitlichen und lebenswirklichen Problemstellungen gearbeitet wird, so dass die Lernenden vielseitige Anknüpfungspunkte an ihre bisherigen Erfahrungen und Wissenskonstruktionen vorfinden und ihr deklaratives und prozedurales Wissen in relativ authentischen Situationen anwenden und neu konstruieren können. Durch handlungsorientierte Arbeitsweisen (learning by doing) soll die oben erwähnte Kluft zwischen Wissen und Handeln vermieden und die Transferfähigkeit erhöht werden. Dabei sollten nicht nur die kognitiven Aspekte des Lernens berücksichtigt werden, sondern – da sich diese bekanntlich gegenseitig bedingen – auch emotionale6 und soziale. Konkret bedeutet das auch, dass die räumliche Lernumgebung ästhetisch gestaltet sein sollte, in der sich die Lernenden wohl fühlen und zum autonomen Lernen und kreativen Experimentieren inspiriert werden.7

 Sozialformen: Wenn Lernprozesse und Wissenskonstruktionen maßgeblich auch durch soziale Interaktionen und Kommunikation bedingt werden, so dass individuelle Wirklichkeitsentwürfe, Interpretationen und Sinngebungen bewusst gemacht, überdacht und gegebenenfalls neu strukturiert werden, dann müssen das kooperative und soziale Lernen stärker gefördert und vielfältige Gelegenheiten zu Austauschsituationen gegeben werden. Dies kann in Form von Gruppen- oder Partnerarbeit (learning communities; Expertenteams) geschehen, aber auch durch außerschulische Kontakte sowie durch den Einsatz Neuer Medien, welche gänzlich neue Wissens- und Interaktionshorizonte öffnen. Dementsprechend verändert sich in einer konstruktivistischen Lernumgebung auch die Sitzordnung, der individuelle Lernort, die Rhythmisierung der Arbeitsphasen, die Rollen- und Aufgabenverteilung sowie der Einsatz von Medien. Dabei kann und soll auch die Lehrkraft als Lernpartnerin fungieren und die Lernenden bei ihren subjektabhängigen Konstruktionsprozessen anregen, beraten und unterstützen – allerdings nicht als Problemlöserin, sondern als Problemstellerin (Müller 1996b, 75).

 Arbeitsmaterialien: Um eigenverantwortlich und eigenständig arbeiten zu können, brauchen die Lernenden entsprechende Hilfsmittel, die sie bei der individuellen und aktiven Konstruktion von Wissen unterstützen: Nachschlagewerke, Handbücher, vielseitiges authentisches Informations- und Arbeitsmaterial sowie weitere high tech und low tech Medien und Materialien jeglicher Art, die zur freien Wahl stehen und zum kreativen Arbeiten und Lernen herausfordern. Durch den sinnvollen und kritischen Umgang mit Medien und das eigene Ausprobieren und Gestalten von Medienprodukten erlangen die Lernenden eine vielseitige Medienkompetenz sowie die Erkenntnis, dass nicht nur die Umwelt, sondern auch Medienprodukte stets subjektabhängig wahrgenommen, genutzt und bewertet werden (vgl. Kapitel 1.6.2.1). In vielerlei Hinsicht unterstützend sind auch Gegenstände und Objekte, die von den Lernenden benutzt bzw. produziert werden, um ihre Ideen zu veranschaulichen: “This can help to support and sustain the discourse and (...) by making ‘cognition’ concrete, it may help students reflect on their own and others’ thinking. The production of artifacts may help students increase their efficacy for learning as well as increase their interest in the academic content and tasks“ (Schunk u.a. 2010, 329).

 Lern- und Arbeitstechniken: Die Lernenden sollten befähigt und gefördert werden, eigene Wissenskonstruktionsprozesse, Lernwege und individuelle Lernstrategien bewusst wahrzunehmen, zu reflektieren und zu beurteilen, um sie gegebenenfalls – im Sinne der Viabilität – modifizieren zu können: „Die Reflexion über den eigenen Lernprozess ermöglicht es den Lernenden, aus einem Angebot von Lern- und Arbeitstechniken diejenigen auszuwählen, die den eigenen Lernprozess besonders gut unterstützen“ (Wolff 1997a, 108). Um jedoch ein vielseitiges und flexibles strategisches Wissen zu erlangen, das den eigenen Lernprozessen förderlich ist, muss das Lernen als Prozess der Wissensverarbeitung gelernt werden (Lernen lernen). Diese Prozessorientierung im Sinne einer umfassenden Handlungskompetenz soll sich im (Fremd-)Sprachenunterricht jedoch nicht allein auf allgemeine Lernprozesse und Lernstrategien konzentrieren, sondern auch Prozesse der Sprachverarbeitung bewusstmachen und fördern (language awareness).8Betrachtet man die derzeit vorliegenden Ergebnisse aus der Gedächtnisforschung, so liegt es nahe, ganzheitliche, multimodale und multisensorische Arbeitsweisen anzubieten, um möglichst viele Hirnareale bzw. neuronale Vernetzungen anzuregen, flexibles Denken und vor allem nachhaltiges Handeln zu fördern.9

 Rollenverständnis: Im Rahmen des selbstgesteuerten und eigenverantwortlichen Lernens verändern sich zwangsläufig die Rollen aller Beteiligten, und das Repertoire der Lehrenden und Lernenden erweitert sich erheblich: Lehrerinnen und Lehrer akzeptieren und fördern die grundsätzliche Autonomie und die individuellen Initiativen der Lernenden, das heißt, sie organisieren Interaktionen, vermitteln bei sozialen Lernprozessen, unterstützen bei der Informations- und Materialsuche, beraten bei der Entwicklung von individuellen Lernstrategien und fördern metakognitive Prozesse der Wissenskonstruktion. Sie geben keine fertigen und für alle verbindlichen Lösungen vor, sondern sorgen dafür, dass „Fehler“, Hypothesen und „Wahrheiten“ diskutiert und kritisch reflektiert werden. Lehrkräfte fungieren nicht mehr als sage on the stage, sondern vielmehr als guide on the side. Sie werden zu classroom managers, coaches und facilitators of learning, also zu beobachtenden und anregenden (perturbierenden) Lernberaterinnen und -beratern. Schülerinnen und Schüler dagegen nehmen nicht mehr passiv und kritiklos „präsentiertes“ Wissen an, um dieses möglichst punktgenau zu reproduzieren: Aus stummen Konsumentinnen und Konsumenten fremden Wissens werden experimentierfreudige Forscherinnen und Forscher, die ihr eigenes Wissen aktiv, kritisch und autonom konstruieren und reflektiert anwenden. In einer konstruktivistischen Lernumgebung sind die Lernenden die Akteure, nicht wie üblich die Lehrenden.Was den Erwerb von Fachwissen anbelangt, so werden an die Lernenden neue Herausforderungen gestellt, die von Gerstenmaier und Mandl (1995) konsequent zu Ende gedacht werden: Schülerinnen und Schüler müssen lernen, mit Wissen verantwortungsvoll umzugehen, die Folgen von Wissen und seiner Anwendung zu reflektieren, Tatsachen und gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen, Ziele und Werte anderer Menschen zu respektieren, und neben den persönlichen, auch kollektive Belange zu berücksichtigen. Im Falle des Fremdsprachenunterrichts deckt sich diese Perspektive mit den Anforderungen an eine umfassende interkulturelle kommunikative Kompetenz.

 Reflexion und Evaluation: Wenn eigene Wissenskonstruktionen, und nicht etwa Wissensreproduktionen, angestrebt werden, dann ergeben sich daraus prinzipiell unvorhersagbare und heterogene Lernprodukte und Lernprozesse: eine Unterteilung der Lösungen in „richtig“ und „falsch“ wird dabei äußerst fragwürdig. Daraus folgt, dass bei der Evaluation des Lernerfolgs nicht primär die Lernprodukte, sondern auch die individuellen Lernprozesse und Lernfortschritte berücksichtigt werden sollten. Dabei spielen auch „Fehler“ eine wichtige Rolle, da sie Aufschluss über individuelle Lernschritte und -wege geben. Fehler implizieren konkrete Lernchancen:10 „Diskussionen in Lerngruppen sind nur sinnvoll, wenn Fehler geschehen und diese besprochen und korrigiert werden, denn die Auseinandersetzung mit Fehlüberlegungen wirkt verständnisfördernd und trägt zur besseren Konstruktion von Wissen bei“ (Dubs 1995, 891). Dies gilt auch für den Fremdsprachenunterricht. Deshalb sollte die Risikobereitschaft der Lernenden herausgefordert und nicht durch übermäßige sprachliche Korrekturen „erdrosselt“ (Bleyhl 2000, 8) werden.Selbstreflexions- und Selbstevaluationsprozesse stellen einen besonders wichtigen Faktor dar: Sie unterstützen die Lernenden darin, ihre Lernprozesse zu erkennen und darauf aufbauend auch beeinflussen zu können. Deshalb sind Reflexionsphasen (auch Selbst- und Fremdevaluation im Sinne von reflecting teams) bedeutsame „Lernmotoren“.Die Frage nach der Leistungsmessung und Benotung kann an dieser Stelle nicht erschöpfend berücksichtigt bzw. beantwortet werden. Vermutlich scheint dieser Punkt der Ursprung allen Übels in unserem Schulsystem zu sein:11 Leistungsorientierung versus Lernorientierung – im Prinzip ein Widerspruch. Konsequenterweise muss in die Beurteilung von Lernerfolg und Lernprozessen selbstverständlich auch die Bewertung der Betroffenen selbst mit einfließen, und genauso selbstverständlich sollten Kriterien gemeinsam entwickelt werden und zu jeder Zeit transparent sein. Noten haben hier meines Erachtens allerdings wenig Aussagekraft und sind häufig eher kontraproduktiv.12 Im Gegensatz zum üblichen “assessment of learning“ (Nunan 2013, 24) sollte vielmehr “assessment for learning“ (Ebd.) praktiziert werden, um neue Lernprozesse zu initiieren.

Fazit: Lernen bedeutet also nicht, „fertiges Wissen rezeptiv zu übernehmen, sondern die Wege, auf denen Wissen entsteht, selbst zu gehen“ (von der Groeben 2006, 166). Diese Einsicht ist beileibe nicht neu, sondern „gilt längst als wissenschaftliches Allgemeingut. Aber in den vielen Schulen, vielleicht den meisten, ist sie noch lange nicht angekommen. Man weiß zwar, dass Lernen eigentlich ‘anders’ sein, nachhaltiger sein müsste, aber im Schulalltag dominieren die alten verkrusteten Strukturen und Paukmechanismen“ (Ebd.). Dies trifft offensichtlich auch auf den Fremdsprachenunterricht zu, wenn man folgender Aussage Glauben schenken will: „Warum der pattern drill tot ist und sich trotzdem bester Gesundheit erfreut“ (Solmecke 2005). Wolff (2000) moniert, dass sein Artikel aus dem Jahr 1994 „konkret nur wenig bewirkt“ habe (Ebd., 91), und auch Schwerdtfeger (2000) kritisiert, dass unterrichtsmethodische Vorschläge aus der Sprachlehrforschung „folgenlos“ (Ebd., 113) bleiben. Storyline bietet aus meiner Sicht viele Chancen, um diesem Problem konstruktiv zu begegnen. Wie? Das zeigen Fallstudie 7-9 in Teil B.