Grenzgängerin

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Akklimatisationszyklus 1 von 3

– Drei oder vier Tage Aufenthalt im Basislager auf rund 5000 Meter Höhe.

– Aufsteigen zum Lager 1 (identisch mit vorgeschobenem Basislager, auch »Advanced Base Camp« oder kurz ABC genannt), Lager 1 einrichten und ohne übernachten zurück ins Basislager.

– Zwei, drei Tage zum Ausruhen im Basislager verweilen.

Akklimatisationszyklus 2 von 3

– Aufsteigen zum Lager 1, einmal übernachten, aufsteigen zum Lager 2, Lager 2 einrichten, ohne übernachten zurück zum Lager 1, zweimal im Lager 1 übernachten, absteigen ins Basislager.

– Drei, vier Tage im Basislager verweilen.

Akklimatisationszyklus 3 von 3

– Aufsteigen zum Lager 1, einmal schlafen im Lager 1, aufsteigen zum Lager 2, einmal im Lager 2 übernachten, aufsteigen zum Lager 3, Lager 3 einrichten und in der Regel einmal im Lager 3 übernachten.

– Dann entweder ins Lager 2 absteigen, noch einmal im Lager 2 übernachten oder – wenn man sich nicht so gut fühlt – Abstieg zurück ins Basislager.

Gipfelanstieg

1. Tag: Aufsteigen zum Lager 1, dort übernachten.

2. Tag: Aufsteigen zum Lager 2, dort übernachten (oder bei sehr guter physischer und mentaler Verfassung direkt Aufstieg von Lager 1 zu Lager 3).

3. Tag: Aufsteigen zum Lager 3, dort übernachten.

4. Tag: Aufsteigen auf den Gipfel und danach, wenn möglich, direkter Abstieg ins Basislager.

Bevor wir also drei Tage später für den zweiten Akklimatisationszyklus erneut zum Lager 1 aufstiegen, überkamen mich nachts wie aus dem Nichts wieder dieselben Symptome. Nun machte es absolut keinen Sinn mehr. Ich kannte ja alle möglichen Gefahren und wusste, dass ich fähig war, diesen Berg zu besteigen, sofern ich gesund blieb, das Wetter mitspielte und die Lawinensituation nicht zu gefährlich wurde. Ich versuchte zu schlafen, doch mein Herz raste. Mir war heiß, dann wieder kalt, und ich verspürte absolut keine Freude. Im Gegenteil. Ich konnte mir einfach nicht erklären, warum mein Körper derart mit Stress und Panik reagierte. Doch unterkriegen ließ ich mich nicht. Um zwei Uhr morgens machten wir uns in der Dunkelheit auf den bereits bekannten Weg über den Gletscher Richtung Lager 1, wo wir eine Nacht bleiben wollten, um am folgenden Tag weiter zum Lager 2 hochzusteigen. Der Aufstieg verlief problemlos. Als wir unser Tagesziel erreicht und unser Camp bezogen hatten, kochte ich Schnee zu heißem Wasser auf und aß eine Kleinigkeit. Kurz darauf musste ich mich heftig übergeben. Später kam Durchfall dazu, und alles fing von vorn an: Herzrasen, Schweißausbrüche, Panik.

Unabhängig von dieser Expedition geriet mir vor meiner Reise nach Pakistan das Buch »Intelligente Zellen« in die Finger. Ein Buch darüber, wie Erfahrungen unsere Gene steuern. Darin beschreibt der Zellbiologe Dr. Bruce Lipton, wie unser Denken und Fühlen bis in jede einzelne unserer Zellen hineinwirkt und wie dies auf molekularer Ebene vor sich geht. Mich faszinierte dieses Buch, weil es in einer – für Laien wie mich – verständlichen Sprache erklärt, wie unser physisches Dasein auch unsere DNS bestimmt und sich alle sieben Jahre sämtliche Zellen in unserem Körper völlig neu zusammensetzen. Ich realisierte, dass das Südpol-Erlebnis vor zwei Jahren in der Antarktis nicht spurlos an mir vorbeigegangen war, und verstand, dass jede Zelle meines Körpers aufgrund der enormen Verausgabung am Südpol traumatisiert sein musste. Ja, ich war damals dem Erschöpfungstod nahe gewesen, nahm ihn als reale Präsenz wahr. Aber ich überlebte, kam zurück in die Schweiz, in meinen Alltag, erholte mich. Das am Südpol Erlebte wurde in den Hintergrund verdrängt. Dank dem Buch, das mir jetzt wieder in den Sinn kam, sah ich plötzlich die Zusammenhänge und verknüpfte, was ich gelesen hatte, mit meiner eigenen Geschichte: Mein Körper spürte, dass aufgrund meines Plans, einen Achttausender zu besteigen, wieder eine Grenzbelastung auf ihn zukommen würde. Davor wollte er sich schützen. Deswegen reagierte das vegetative Nervensystem in dieser Intensität!

Als Little Hussain morgens um sechs Uhr wie vereinbart an mein Zelt kam, um mich abzuholen, erklärte ich ihm, wir würden erst um acht losgehen. »Geh zurück in dein Zelt und schlaf noch ein bisschen«, sagte ich.

Er war irritiert, wir wussten beide, dass es keinen Sinn machen würde, abzuwarten. Das Wetter passte perfekt. Würden wir später starten, würde die Sonneneinstrahlung im Steilhang unterhalb vom Lager 2 stärker und damit die Gefahr eines Lawinenabgangs höher. Ich brauchte aber diese zwei Stunden, um mich definitiv zu entscheiden. Als Hussain pünktlich um acht Uhr zurückkam, sagte ich: »Etwas ist nur schwierig, solange man sich nicht entschieden hat. Ich habe mich entschieden: Ich kehre um!« Ich sagte ihm auch, dass ich ihm trotzdem das volle Honorar bezahlen würde. Er verstand die Welt nicht mehr, begann, mir Optionen aufzuzeigen. Meine Antwort fiel kurz aus: »Nein, ich breche ab.«

Wortlos stiegen wir ab ins Basislager, wo ich ihm sein Honorar für zwei Monate auszahlte, und gingen dann den langen Weg zurück nach Skardu. Dort hatte er das Glück, einen neuen Kunden zu finden, mit dem er den Gipfel doch noch besteigen konnte. So kam Little Hussain in jenem Jahr zu seinem doppelten Lohn, was ich ihm sehr gönnte. Ich hingegen flog zurück in die Schweiz. Ich konnte mir und meinem Körper eine derartige Belastung und Herausforderung nicht mehr zumuten. Und mit dieser Erkenntnis wurde mir schlagartig klar: Mein ursprüngliches Ziel, mein lang gehegter Traum, nach dem Everest und dem Südpol auch den Nordpol zu begehen, konnte ich vergessen. Mein dritter Pol war für mich Geschichte. Definitiv.

Gehirnerschütterung
April 2011

Monate später zog ich mir bei einem unverschuldeten Unfall eine Gehirnerschütterung zu. Der Sachverhalt war klar, aber die Versicherung sah es anders. Ich besorgte mir einen Anwalt, um für mein Recht zu kämpfen. Obwohl Kämpfen in meinem Fall eher »Ertragen« bedeutete. Ertragen, dass Tatsachen verdreht wurden. Ertragen, dass ich mich gegen Unwahrheiten wehren musste. Der ganze Prozess belastete mich sehr. Ich wurde in eine Welt katapultiert, in der es nicht mehr um Recht und gesunden Menschenverstand ging, sondern nur noch darum, von anderen ausgetrickst zu werden. Als ich mich so weit erholt hatte und mir meine Gesundheit erlaubte, wieder mit leichtem Joggen anzufangen, kam ich beim Training an einem alten Bauernhaus vorbei, auf dessen Fassade ein Satz aufgemalt war: »Allen, die mich kennen, geb’ Gott, was sie mir gönnen.« Dieser Schutzspruch ließ mich nicht mehr los. Ich wiederholte ihn in Gedanken fortan jedes Mal, wenn ich wieder in ein Loch zu fallen drohte. »Allen, die mich kennen, geb’ Gott, was sie mir gönnen.« So konnte ich mich jeweils ein bisschen beruhigen.

Die Erfahrung, dass mein Unfall von Anwälten anders ausgelegt wurde, als ich ihn erlebt hatte, und die Tatsache, dass mein Körper am Gasherbrum II die Bereitschaft für Extremleistungen verweigert hatte, war für mich eine völlig neue Erfahrung, die mir zu schaffen machte. Immer konnte ich mich bisher auf meinen starken Willen verlassen. Er war meine wichtigste Kraft, meine unerschöpfliche Energiequelle. Nun schwand er dahin. Die Frage »Was ist Willenskraft und woher kommt sie?« ließ mich nicht mehr los, und so reifte in mir die Idee, dem Thema einen Dokumentarfilm zu widmen. Ein Jahr lang wollte ich das Handwerk des Filmemachens erlernen und fand nach einigem Recherchieren eine Schule, die meinen Vorstellungen entsprach – in Hollywood. Ausgerechnet!

Ich leitete alles Notwendige in die Wege, musste mit meiner Reise nach Los Angeles aber noch einige Monate zuwarten, weil mein Gehirn nach meinem Unfall noch nicht genügend leistungsfähig war. Noch immer plagten mich Kopfschmerzen, sobald ich mich für längere Zeit konzentrieren musste, und jeder Druckwechsel in der Atmosphäre kündigte sich mit einem stumpfen Stechen unter der Hirnrinde an, das sich rasch von den Augen bis zum Hinterkopf ausdehnte. Der Lebenspartner einer lieben Freundin war damals überraschend verstorben. Ich kümmerte mich um sie und sie sich um mich. Sie fuhr mich zu meinen Referaten und Veranstaltungen und hielt mir den Rücken frei. So konnte ich immerhin Teilen meiner Arbeit nachgehen.

Es war Januar 2012, als ich mich von meinen Lieben verabschiedete und nach Los Angeles reiste. Die Millionenmetropole, direkt an der US-amerikanischen Pazifikküste, mag für viele eine Traum-Destination sein, für mich war sie der reine Albtraum. Nicht nur, dass ich schon wieder weit weg war von meinem Lebenspartner, meinen Freunden und meinen geliebten Bergen, nein, es war erst noch Winter, und während ich in Hollywood die Schulbank drückte und erfolglos versuchte, mein Heimweh zu verdrängen, unternahmen sie daheim die tollsten Skitouren. Aber was ich mir in den Kopf gesetzt hatte, zog ich durch. Umso mehr freute ich mich, im Mai für ein paar Tage heimzukommen, um meinen 45. Geburtstag zu feiern.

Wir richteten uns gemütlich in meiner Waldhütte ein, die ich vor ein paar Jahren gekauft hatte und in die ich mich seither gern hin und wieder zurückziehe, wir grillierten, lachten – das Leben war gut. Kaum hatten sich dann die letzten Gäste verabschiedet, überraschte mich mein Partner mit einem speziellen Geburtstagsgeschenk: »Evelyne, ich liebe eine andere Frau«, sagte er, einfach so. Sein Geständnis traf mich wie ein Faustschlag. Wir hatten in unserer zweijährigen Beziehung weder Krisen noch Streitereien gehabt. Nie zuvor war ich mir so sicher gewesen, meinen Seelenpartner gefunden zu haben. Bis dass der Tod uns scheidet, das war für mich klar. Ich finde keine Worte, um zu beschreiben, was ich damals fühlte. In Momenten wie diesen ist meine Sprache am Ende.

 

Die Bilanz nach meiner Geburtstagsfeier war rabenschwarz: Seit meinem Unfall funktionierte mein Gehirn nicht mehr wie früher, ich konnte mich schlecht konzentrieren, würde vermutlich die Höhe nicht mehr gut vertragen, was ich bereits bei kleineren Bergtouren in der umliegenden Region spürte, und meine Beziehung war ein Scherbenhaufen. Auch der laufende Strafprozess gegen die Unfallverursacher vor einem Jahr setzte mir nach wie vor zu. Ich kannte den Ausgang nicht, musste viel Geld investieren, es wurden Unwahrheiten verbreitet. Erst als mein ehemaliger Partner und ich uns kurz vor meiner Rückkehr nach Los Angeles dazu entschieden, uns noch einmal eine Chance zu geben, fasste ich neuen Mut. Weitere sieben Monate später beendete ich die Filmschule und kehrte hoffnungsvoll in die Schweiz zurück. Doch kaum war ich zwei Wochen daheim, hatte mein Freund erneut eine Überraschung für mich bereit: Er brauche eine Auszeit, sagte er. Das war endgültig zu viel für mich. Ich klappte wortwörtlich zusammen. Minuten fühlten sich an wie Stunden, Stunden wie Tage, und die Tage dehnten sich ins Endlose aus. Die Zeit stand still, während ich in einem Gefühl der Angst und Unsicherheit verharrte. Ich war am Tiefpunkt angelangt.

In meiner Verzweiflung rief ich meine Schwester an. Ich brauchte sie, denn ich wusste nicht, auf was für Gedanken ich in meiner Not noch kommen würde. Sie kam sofort zu mir, und wenig später fand ich mich bei einem Psychologen wieder, der mich als Notfall aufnahm. Nach ein paar Tagen hatte ich mich wieder einigermaßen aufgerappelt. Auch meine Freundinnen waren mir in jener Zeit eine wertvolle Stütze. Bei einem der unzähligen Gespräche fragte ich eine von ihnen, was ihr damals über die Trennung von ihrem Lebenspartner hinweggeholfen habe.

»Mein Entschluss, eine neue Herausforderung anzusteuern und die Bergführer-Ausbildung zu machen«, antwortete sie. Als sie für sich dieses hohe Ziel gesetzt habe, sei es mit ihr aufwärtsgegangen. In diesem Moment klopfte der Nordpol wieder an meine Tür, und zwar in einer Heftigkeit, die mir keine andere Wahl ließ, als ihn hereinzubitten. Lange hatte ich ihn ignoriert. Aber ich wollte dieses Ziel, meinen dritten Pol, trotz allem erreichen, das wurde mir schlagartig bewusst. Er war der gute Freund, den ich so lange vermisst hatte und der jetzt plötzlich wieder vor mir stand und mich herzlich umarmte.

Sofort begann es in meinem Kopf zu rotieren. Mein erster Gedanke war, dass ich von daheim aus mit dem Fahrrad nach Russland fahren und von dort aus eine wilde Tour zum Nordpol machen könnte. Ich recherchierte, merkte aber schnell, dass sich dieses Unterfangen nicht finanzieren ließe. Zusammen mit der logistischen Unterstützung, hätte mich diese Ost-Variante mindestens eine halbe Million Franken gekostet. Dieses Geld hatte ich nicht, und ich wollte es auch nicht mit der Hilfe von Sponsoren auftreiben. Außerdem war mir klar, dass ich mich nicht noch einmal so nahe am Limit bewegen wollte wie damals bei meiner Expedition zum Südpol. Ich überlegte, suchte Lösungen. Eine Alternative wäre die West-Variante via Nordkap, Grönland und Spitzbergen bis zum Nordpol. Diese wäre kürzer und ließe sich in vier einzelne Etappen aufteilen, was mir zwischendurch immer wieder Verschnaufpausen daheim ermöglichen würde.

Doch mein Ego und mein Stolz stellten sich quer. Sie wollten nicht die bequeme West-Variante – die ich innerlich als Angsthasen-Route zu bezeichnen begann, weil sie kürzer war und auf der ersten Etappe durch touristisch erschlossene Gebiete führte. Mein Ego wollte die wilde, die ursprüngliche, die coole Variante via Russland! Aber wie ich es auch drehte und wendete: Die West-Variante war die vernünftigere von beiden. Sie war meine reelle Chance, nach dem Everest und dem Südpol noch meinen dritten Pol zu erreichen. Die Entscheidung fiel mir trotzdem schwer – denn für mich bedeutete die Angsthasen-Route ein Eingestehen von Schwäche. Das Gute an der Sache aber war: Ich hatte meinen inneren Widerstand gegen den Nordpol bezwungen und einen riesigen Schritt vorwärts gemacht. Ich hatte wieder ein Ziel, endlich.

DIE VORBEREITUNG
2013 bis 2016

Abenteuer wie die bevorstehende Expedition zum Nordpol oder auch die Expedition zwischen 2006 und 2007 zum Südpol benötigen nebst aufwendigen Vorbereitungen und großen physischen Grundvoraussetzungen vor allem eines: die Bereitwilligkeit im Kopf. Eine absolute mentale und geistige Zusage für das Ziel. Für das Ziel, von dem man weiß, dass es einen in seiner Härte an die Grenzen und zeitweise darüber hinaus fordern wird. Eine solche innere Bereitschaft entsteht nicht über Nacht. Sie ist das jahrelange, langsame Heranwachsen einer Energie, die nach außen unsichtbar ist, von der aber alles abhängt. Vor allem das Überleben. Deswegen wähle ich für meine Nordpolexpedition den Namen »90° North – 100 % Commitment«. Neunzig Grad nördliche Breite beschreibt den geografischen Nordpol. Um dieses Ziel aus eigener Muskelkraft zu erreichen, braucht es ein hundertprozentiges Commitment, eine hundertprozentige innere Verpflichtung gegenüber dem bevorstehenden Ziel. Es ist das Bejahen von Ängsten und Zweifeln, von Mängeln und Unsicherheiten. Es ist das Eintauchen in eine bedrohliche Welt, die alles von einem fordert, alles von einem nimmt, in der man nichts mehr verlieren kann und das Überleben das Einzige ist, das übrig bleibt.

Reinhold Messner spricht in diesem Zusammenhang in einem Interview, das ich mit ihm für meinen Dokumentarfilm führte, von »Wiedergeburt«. Er sagte: »Diese Wiedergeburt, also dieses Gefühl, wiedergeboren zu sein, ist nur möglich, wenn ich aus einer lebensgefährlichen Welt komme. Die Kunst ist, nicht umzukommen. Aber ich gehe los und weiß, es könnte etwas passieren. Denn wenn ich allein unterwegs bin, muss nur eine Kleinigkeit passieren, dann bin ich tot. Aber ich will nicht umkommen. Und ich habe zum Glück einen Überlebensinstinkt, der mich wahrscheinlich rechtzeitig vor dem Risiko warnt. Nur so kommen die Ängste zum Tragen, die Zweifel und die Hoffnungslosigkeit. Ich werde zurückgeworfen auf meine Beschränktheit und auf meine Mängel. Und obwohl ich also umkommen könnte, gehe ich dorthin, um nicht umzukommen. Dann komme ich zurück, und mir ist nichts passiert. Ich schnaufe durch, vor allem wegen dieses Gefühls: Ich bin wiedergeboren.«

Nebst der mentalen ist auch die praktische Vorbereitung für den Nordpol eine Expedition für sich. Selbst wenn ich mich dazu entschieden habe, den Gang zum Nordpol in vier Einzeletappen aufzuteilen, bleibt die Beschaffung des Materials anspruchsvoll. Alles ist sehr individuell, kaum etwas lässt sich delegieren. Es gibt in der Schweiz zwar unzählige Bergsportläden, aber keinen einzigen Shop für polare Expeditionen. Ich muss deshalb in verschiedene Länder reisen, um die erforderliche Spezialausrüstung zusammenzutragen, und mit Gleichgesinnten reden, die ebenfalls schon polare Erfahrungen gemacht haben. Nur, der eine macht es so, und die andere macht es anders. Ich muss also selbst herausfinden, was für mich das Beste ist.

Ich brauche zum Beispiel Spezialnahrung, die täglich 6000 bis 7000 Kalorien abdecken muss, ein Kochbrennersystem, mit dem ich mein arktistaugliches Zelt während des Vorwärmprozesses des Benzinkochers nicht schon am ersten Tag abfackle, Ski mit passender Laufbindung, damit sich die Achillessehnen unter der Zuglast des Hundert-Kilogramm-Schlittens nicht bereits nach einer Woche entzünden oder – noch schlimmer – abreißen, eine Schusswaffe mit entsprechender Bewilligung, ohne die Grönland und Spitzbergen keine Expeditionsbewilligungen erteilen, alle notwendigen Dokumente für die Einreise, Versicherungen, ein Satellitentelefon samt Notsender, eine taugliche Foto- und Filmausrüstung, die bei minus 55 Grad nicht den Geist aufgibt, Solargeräte zum Füttern der Akkus und Batterien und vieles mehr. Ganz zu schweigen vom Backoffice daheim, das von Dritten betreut werden muss. Zum Vergleich: Eine Expedition auf einen Achttausender im Himalaja stelle ich innerhalb einer Woche auf die Beine. Ich muss im Grunde nur den Entschluss fassen, die Formalitäten erledigen, mich mit den richtigen Menschen in Nepal, Tibet oder Pakistan zusammentun, packen und aufbrechen. That’s it.

Natürlich helfen mir meine Erfahrungen aus bisherigen Expeditionen bei den Vorbereitungen. Sowohl der Gang zum Südpol wie auch die Trainings zuvor in den Jahren 2003 und 2004 in den Nordwest-Territorien und auf der Baffin-Insel im arktischen Kanada haben mir viel Know-how verschafft. Und doch werden in der Arktis ganz andere Themen auf mich warten als in der Antarktis.

Am Nordpol herrscht zum Beispiel eine andere Kälte als überall sonst auf der Welt. Man geht dort auf gefrorenem Wasser und nicht auf solidem Untergrund. Deshalb muss man auch das Gelände anders »lesen«. Sieht man etwa dunkle Wolken am Horizont, kann das ein Zeichen einer Schlechtwetterfront sein. Es kann aber auch bedeuten, dass sich eine offene Wasserspalte am Himmel spiegelt und die Wolken deswegen dunkler aussehen. Oder: Am Südpol ist die gefühlte Temperatur aufgrund des permanenten Windes oft kälter als am Nordpol. Aber die Antarktis ist der trockenste Kontinent der Welt, weshalb man den Schlafsack tagsüber auf den Schlitten binden und die Feuchtigkeit, die sich in der Nacht aufgrund der kondensierenden Körperwärme darin gesammelt hat, verdunsten kann. Auf dem Weg zum Nordpol geht das aber nicht – das Gelände lässt es nicht zu. Man muss immer wieder Presseis, hoch aufgetürmte Eisbrocken, überwinden, sodass der Schlitten oft seitwärts in den Schnee kippt, sich überschlägt und man ihn mühsam wieder aufrichten muss. Würde man den Schlafsack also zum Trocknen auf den Schlitten binden, wäre er abends nicht nur von innen, sondern auch von außen nass. Die Kunst ist deshalb, herauszufinden, wie man den Schlafsack in der Arktis trocken hält.

Auch die Ernährung ist ein Thema für sich. In der Antarktis habe ich zwar dehydrierte, aber immerhin richtige Mahlzeiten gekocht. In der Arktis geht das nicht, weil der Geruch von Essen die Eisbären anlocken würde. Deshalb gießt man dort nur aufgekochtes Schneewasser über gefriergetrocknete Menüs, wartet ein paar Minuten, bis sie aufgeweicht sind, und isst sie dann direkt aus dem geruchsneutralen Aluminiumbeutel.

Für meine Nordpolexpedition stellten sich mir also tausend neue Fragen:

Welche Skier wähle ich? Mit welchem Fell? Und welche Bindung passt zu meinen speziellen Expeditionsschuhen?

Die passenden Schuhe sind immens wichtig und eine Welt für sich. Ich werde schwitzen, aber der Innenschuh muss trocken bleiben. Welches Material nehme ich besser? Simple Plastiksäcke? Oder speziell angefertigte Dampfsperren?

Welches Material nehme ich bei den Socken? Wähle ich Unterwäsche aus Synthetik oder Merinowolle? Der BH muss gut stützen, aber so bequem sein, dass er nicht drückt und ich ihn Tag und Nacht anbehalten kann.

Dann kommen die Schichten. Und die Überschichten. Und die Über-Überschichten. Welches Material taugt am besten? Und welche Größen?

Wähle ich Daunenjacken? Oder Primaloft? Wie dick sollen die Jacken sein? Wichtig: Daunenjacken dürfen nicht nass werden, sonst fallen die darin enthaltenen Daunen, genauso wie im Schlafsack, in sich zusammen und isolieren nicht mehr.

Welche Handschuhe halten meine Finger warm und isolieren, auch wenn sie nass werden? Welches Material trocknet nachts im Zelt? Welche Über-Handschuhe wähle ich? Goretex? Windstopper?

Extrem der Kälte ausgesetzt ist das Gesicht. Also: Welche Gesichtsmaske taugt am besten? Welches Material hinterlässt keine Druckstellen? Druckstellen begünstigen Frostbeulen. Welches Material fühlt sich trotz gefrorener Atemluft, die sich als Eiszapfen unter der Sturmmaske ablagert, einigermaßen angenehm auf der Haut an?

Welche Kapuze schützt mich richtig, und welche Art Fell nähe ich als zusätzlichen Gesichtswindschutz an? Nehme ich Fellstreifen vom Vielfraß? Das wäre das Beste. Doch wo komme ich an ein Vielfraß-Fell? Also doch besser Fuchsfell. Ich habe noch die Fuchsfellstreifen, die ich vor zehn Jahren an die Kapuze meiner Südpol-Jacke genäht hatte. Dieses Fell gehörte meiner Großmutter. Bevor sie starb, schenkte sie es meiner Mutter. Und später schenkte es meine Mutter mir für meine Südpolexpedition. Jetzt könnte ich das Fell meiner damaligen Kapuze abtrennen und an die neue Kapuze nähen. Die Kapuze muss groß genug sein, um mein Gesicht zu schützen. Sie darf aber nicht zu groß sein, damit sie mir nicht die Sicht verdeckt und die Sturmbrille nicht anläuft. Sie darf aber auch nicht zu locker sitzen, weil sie sonst vom Wind nach hinten geweht wird.

 

All das und vieles mehr geht mir während der Vorbereitungsphase durch den Kopf, mit Vorliebe morgens um zwei Uhr. Ich schrecke auf, Adrenalin pumpt in mein Blut, und an ein Weiterschlafen ist nicht mehr zu denken. Ich bin hellwach, und die Gedanken fangen an zu rotieren: Was muss ich noch erledigen, welche Probleme stehen mir noch im Weg, an was habe ich vergessen zu denken? Schließlich muss ich auch das Administrative daheim erledigen, die Rechnungen bezahlen und – Mist, das Satellitentelefon darf ich nicht vergessen zu organisieren. Apropos Kommunikation und Navigation: Welches GPS wähle ich? Auf welchem Längengrad und somit in welcher Zeitzone werde ich zum Nordpol unterwegs sein?

Besser, wenn ich mich gar nicht erst zum Weiterschlafen zwinge, denn das zieht mir nur noch mehr Energie ab. So stehe ich häufig mitten in der Nacht auf, um mich an die Arbeit zu machen, mit dem Ergebnis, dass ich wochenlang mit Augenringen durch die Gegend wandle. Kurze und intensive Trainingseinheiten sind in dieser wichtigen Phase das Einzige, was ich mir nicht nehmen lasse. Freunde, Familie, ausgedehnte Klettertouren – fast alles andere muss ich der Reise opfern. Und das, lange bevor sie überhaupt losgeht.

Aber: Die Entscheidung, zum Nordpol zu gehen, wenn auch in vier Etappen, hilft mir, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Die erste Etappe wird mich von daheim aus mit dem Fahrrad zum Nordkap führen, in der zweiten Etappe werde ich in einem Team Grönland traversieren, die dritte Etappe wird eine anspruchsvolle Durchquerung Spitzbergens im Alleingang werden, und in der vierten Etappe werde ich allein von der russischen Station Barneo aus zum Nordpol marschieren. Der Vorbereitungsprozess ist zwar sehr fordernd, aber auch wertvoll. Das Ziel zeigt mir wieder eine Richtung an. Es gibt mir eine Struktur in meinem Alltag und lenkt meine Gedanken, die in der Vergangenheit lange genug von Kummer geprägt waren, in eine positive Richtung. Wenn ich abends ins Bett gehe, weiß ich wieder, wozu ich am Morgen aufstehe. Denn der erste Besucher, den ich bis vor kurzem jeden Morgen begrüßte, war der Stein in meiner Brust, dieses dumpfe Gefühl von tiefer Traurigkeit. Dieser Stein ist zwar immer noch da, aber er ist längst nicht mehr so dominant. Dass ich mich dazu entschlossen habe, die Nordpol-Expedition fast gänzlich ohne Sponsorengelder zu finanzieren, und diesen Entschluss auch durchziehen kann, gibt mir Selbstvertrauen und macht mich zusätzlich frei.