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Der Brief war ziemlich durcheinander geschrieben worden und zum Schluss war mir auch vieles nicht im Klaren. Ich hatte den Brief zerrissen. Dann schrieb ich noch einmal einen Brief, und dann zerriss ich auch den wieder. Der Inhalt des Briefes handelte ungefähr davon, daß ich mich selbst beschimpfte und hasste, daß ich bereute, die Absicht von Weiherchen nicht verstanden zu haben. Nach und nach fing ich beim Schreiben an, vor dem Namen von Weiherchen “meine liebe” zu ergänzen. Den Brief ordentlich gefaltet, das Kuvert gut verschlossen, ging ich damit vor den Briefkasten und war dabei, ihn einzuwerfen. Aber jedes Mal hielt meine rechte Hand die linke fest, weil ich in diesen Momenten eine Verunsicherung fühlte. Wenn Weiherchen darüber verärgerte ist? Was geschieht, sollte sie das an die Massenorganisation weiterleiten? Vielleicht war der Brief zu offen geschrieben. Hätte das etwas zurückhaltender und verhüllter sein sollen? Vielleicht interessierte sie sich nicht mehr für mich? Sogar wollte auch der Teufel es nicht glauben, daß jemand, den ich als “Schurken” bezeichnete, mich entschuldigen könnte. Ich wanderte am Briefkasten unschlüssig auf und ab und wagte zum Schluss nicht, ihn einzuwerfen. Das wiederholte sich täglich, obwohl ich in der Hand jedes Mal einen neu verfassten Brief hielt.

19

All die Briefe, die ich Weiherchen geschrieben hatte, steckte ich unter die Matte. Je mehr Briefe ich schrieb, desto hemmungsloser wurden ihre Inhalte, wie zum Beispiel meine intimen Vorstellungen und ich phantasierte über ihren Rock, über ihre Oberschenkel. Deshalb sah ich sie oft im Traum. Eines Nachts träumte ich, daß sie vor mir den Rock auszog, sehr wahrscheinlich auch im Lager. Diesmal bin ich ihr nicht ausgewichen und schlief mit ihr. Mein Mund war im Traum wie vom Honig überstrichen und mir war behaglich zu Mute. Das angenehme Gefühl war schnell vorüber und ich fühlte mich am ganzen Körper sehr schwach. Meine Unterhose war, wie ich dann bemerkte, durchnässt. Das war meine erste Nachtpollution. Ich stand auf und schrieb Weiherchen. Ich schrieb: Ich habe in der Nacht von Dir geträumt und dabei eine Pollution erlebt.

Am Tag empfand ich die Nachtpollution als einen peinlichen Vorgang. Mein Vater konnte in der Nacht nicht einschlafen, er trank kaltes Kochwasser, beobachtet Züge und rief im Traum Bergfluss. Das wurde von mir schon als schurkische Haltung verurteilt, bei mir jedoch ging es sogar um Pollution. Ich stellte fest, daß ich bereits die ersten drei Verhaltensweisen meines Vaters wiederholte. Wenn das derart weiter gehen sollte, würde ich ein anderer Langwind werden. Eines Nachts wurde ich durch meinen eigenen Ruf erweckt. Ich hörte, daß ich nach “Weiherchen” rief und umarmte dabei sogar mein Kopfkissen. Machte ich noch einen Unterschied zu meinem Vater? Immer wieder im Traum rief ich den Namen “Weiherchen”. Erst jetzt verstehe ich ihn und weiß, daß derjenige, der ein Kopfkissen umarmte, nicht unbedingt ein Schurke war.

Am Sonntag radelte ich zur Fabrik Nr. 3. Mein Vater kochte gerade im Hausflur auf dem Kohlenofen Grüngemüse. Ich rief mal “Pa”, er gab keine Reaktion und hob den Kopf nicht. Ich stand neben ihm und guckte zu, wie er ruhig das Gemüse rührte. Die Farbe des grünen Gemüses wurde langsam gelblich. Er schöpfte das Gericht in einen Teller und trug ihn ins Zimmer. Sein Teller wanderte unter meiner Nase vorbei, sein Oberkörper berührte fast meinen Arm. Er gab aber keinen Laut von sich. Er betrachtete mich wie einen Bettler von der Straße, der die Lebensmittel anderer erhalten möchte. Er setzte sich ausdruckslos an den Esstisch, schlürfte von der Reisschüssel, schickte wieder und wieder ein paar Gemüse in den Mund. Ich ging zum Tisch und setzte mich an die andere Seite des Tisches: “Pa, ich bitte um Entschuldigung. Manche Sachen kann ich erst jetzt verstehen...” Er drehte sich um, mit seinem Rücken zu mir gewandt und erhob unversehens ein lautes Schmatzen. Ich wartete ab, bis er mit dem Essen fertig war.

Nach dem Essen trug er die Schüssel und Teller aus dem Zimmer, schmiss sie in den Kochtopf und ging weg. Ich wischte den Tisch, kehrte den Boden sauber und putzte das Geschirr. Danach räumte ich das Bett auf. Erst jetzt kam er zurück mit Breitmeer Liu, den ich als “Onkel Liu” begrüßte.

Breitmeer Liu: “Lang-wind, so geht das doch nicht?” Mein Vater: “Sage das, wie ich dir gesagt habe.”

Breitmeer Liu kratzte sich den Kopf: “Guang... Guang-xian, dein Vater, er, er wollte, daß du zurück zum Zoo gehst.”

Mein Vater fragte lauthals: “Breitmeer, habe ich das so gesagt?” “Du sprichst doch kein Russisch! Warum soll ich für dich dolmetschen. Sprich doch direkt mit ihm.”

“Mein ganzes Leben will ich nicht mehr mit ihm reden.” Er heulte jetzt.

Breitmeer Liu: “Guang-xian, geh fort, mach deinem Vater kein Ärger!”

Ich stand auf und ging.

Breitmeer kam mit und wisperte mir ins Ohr: “Dein Vater hat mich geholt, damit ich dir ‘Hau ab’ sagen soll. Der bestehende Zwist in seinem Herzen ist noch nicht aus der Welt geschafft.”

Aufs Fahrrad gestiegen strömten mir Tränen aus den Augen. Je mehr ich sie abwischte, umso mehr kamen dazu; sie verschleierten mir die Sicht. Mit dem Fahrrad fuhr ich wackelnd und schräg aus der Fabrik. Ich hielt am Straßenrand an und weinte. Mir war zumute, daß die Welt auf einmal zu groß, aber um mich klein und einsam wurde. Tante Lei, die in diesem Moment vorbeikam und sah, daß ich weinte, schritt auf mich zu: “Wer hat dir Böses angetan? Ich hole deinen Vater zur Hilfe!” Ihr Trost brachte mich wie vom Regen in die Traufe, und mir flossen noch mehr Tränen.

Im Zoo angelangt begann ich Weiherchen einen Brief zu schreiben. Ich schrieb, daß sie für mich in dieser Welt die einzige Wärme und der Motor zum weiteren Leben war. Sie war meine einzige Hoffnung. Für sie wäre ich bereit, in den Fluss zu springen, Krankheiten auf mich zu nehmen. Ich liebte sie, liebte sie tief, liebte sie mehr als den großen Lehrer und den großen Führer! In einem Zug hatte ich fünf Seiten geschrieben und warf den Brief noch am Abend in den Kasten. Dann zählte ich die Tage an meinen Fingern ab. Morgen Vormittag wird der Briefträger kommen, um meinen Brief einzusammeln, der dann am Nachmittag aussortiert und am Abend in den Postsack für Kreis Himmelsfreude eingesteckt wird. In der Früh wird der Postsack in den für Himmelsfreude bestimmten vorbeifahrenden Zug aufgeladen. Am vierten Vormittag wird das Postamt des Kreises den Sack aufmachen und alle Briefe nochmal aussortieren. Mein Brief wird dann in den Postsack für die Volkskommune Acht-Winter reingetan. Am fünften Tag gelangt der Postsack mit dem planmäßigen Betriebsbus zur Kommune Acht-Winter. Dann passiert die Sortierung in der Acht-Winter-Post. Wenn am Tag jemand zur Reis-Tal-Produktionsgruppe geht, so wird meine Post am selben Abend die Hände Weiherchen erreichen können. Sollte niemand an dem Tag ins Tal gehen, muss der Brief am siebten oder auch achten Tag in der Post verbleiben, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Weiherchen einen Marktbesuch abstattet. Denkt man an den so langen Postweg, könnte ich fast selbst den Brief in ihre Hände geben, ihn ihr sogar persönlich vorlesen.

20

Am sechsten Tag wurde der Brief zurückgesandt, weil er nicht frankiert wurde. Voll Ärger frankierte ich doppelt und warf den Brief zum zweiten Mal in den Kasten und wiederholte gedanklich die Briefreise. Diesmal reichte mein Gedanke nicht nur bis zur Ankunft des Briefes, er wurde verlängert. Ich stellte mir die Freude von Weiherchen beim Empfang meines Briefes vor. Mit gerötetem Gesicht las sie ihn begeistert, wie wenn man beim Essen eine Zugabe geschenkt bekam. Sie las den Brief an einem ruhigen Platz allein, nachdem sie ihn vorsichtig geöffnet hatte. Sie las Satz für Satz, Wort für Wort, und lachte in meiner Vorstellung überrascht mit offenem Mund. Sie drückte den Brief an die Brust, als sie “Meine liebe...” las. Egal ob auf Grund dieses Schreibens ein Pro oder Kontra kommt, wird sie mir noch am Abend antworten. Am folgenden Tag wird ihr Brief in die Post der Volkskommune geschickt. Von dort geht es dann weiter zurück. Ihre Zurückpost wird am schnellsten in zehn Tagen bei mir sein, in der Hoffnung, daß sie die Briefmarke nicht vergisst.

Zwanzig Tage waren vergangen, nach denen ich immer noch keine Antwort von ihr erhielt. Ich war mir gewiss, daß es nicht an Frankierung lag. Eines Abends fuhr ein Zug los, der auch in Himmelsfreude hielt, als ich mich zufällig am Gleis der Drei-Bindungen-Straße aufhielt. Ohne zu denken stieg ich ein. Ich griff das Geländer an der Treppe. Der Wind blies mir in mein Gesicht. Ich fuhr auf der Treppe bis zur nächsten Station mit, wo ich mich in den Zug einschmuggelte. Ich versteckte mich in der Klokabine, hielt mich über Nacht im Durchgang auf, vermied den Schaffner und erreichte den Kreis am nächsten Mittag.

Als ich aus dem Bahnhof trat, bemerkte ich, daß sich der ganze Kreis in einem trüben Wetter mit Nieselregen befand. Von schlammigen Straßen und durchnässten Hausdächern zu schließen war das kein einzelner Schauer, es hatte vermutlich mindestens einen halben Monat geregnet. Es hatte bereits viele Gegenstände tief durchgenässt. Dem Anschein nach konnte es innerhalb eines Jahres nicht austrocknen. Ich erkundigte mich am Busbahnhof nach dem Verkehrsplan und erfuhr, daß der einzige Bus des Tages bereits um acht Uhr vormittags abgefahren war. Ich hatte keine andere Wahl und musste zu Fuß weiter. Ich überstieg einen Hügel nach dem anderen, lief an einer großen Fläche goldener Reisfelder vorbei und durchquerte dunkle Wälder. Es gab keinen Platz, der nicht im Regen eingehüllt wurde. Die satten Reisähren waren zu Boden niedergedrückt, manche fingen an zu faulen. Gebirgshochwasser riss verschiedene unterschiedlich große Gräben durch die gelben Schlammwege, wie Adern von Baumblättern. Längliche Nebelschwaden schwebten zwischen Berggipfeln und an Baumkronen. Einige davon schwebten zu Boden. Auch die Flügel der Vögel waren nass geworden und diese konnten nicht weiter als zwanzig Meter fliegen und mussten schon nach kurzer Distanz immer wieder schnell auf den Baumblättern landen.

 

Das war mein Gang der “Weltsuperlative”. Ich ging an dem einen Tag einen längeren Weg, als ich bisher je im Leben zusammen geschafft hatte. Dazu noch der lästige Nieselregen, der an mir keine Faser trocken ließ. Vor Regen hatten sich alle Jungvögel zurückgezogen. Ich musste Wasser lassen. Ohne in der Nähe jemand erblicken zu können, ließ ich unter meinem Nabel die Schleuse öffnen und einen Wasserfaden sich verlängern. Oft sah ich im Fernsehen einen Liebesfilm mit einer Szene, in der der Hauptdarsteller draußen vorm Fenster im Regen stand und die Person im Haus wegen der Regendusche mitleidig gerührt war. Aber wie konnte man wissen, daß ich mich an jenem Tag gut sechs Stunden im Regen aufhielt. Wenn dazu die zwei Stunden auf dem Weg in die Volkskommune mitgerechnet werden, waren es insgesamt acht Stunden, ohne daß ich mir eine Sekunde Zwischenpause gönnte.

Erst nach neun Uhr in der Nacht kam ich triefend nass im Tal an. Ich fand schnell den Wohnsitz von Weiherchen. Das Fenster war hell beleuchtet. Drinnen brannte noch eine Petroleumlampe. Dank des Lichtes durch die Türspalte schabte ich am Stein vor der Tür die circa zwei Kilo schwere Schlammschicht von meinen Schuhen. Ich klopfte. Weiherchen stand zuerst für einen Augenblick verdutzt vor mir. Ihre Stimme übergoß meinen Kopf wie ein Wasserschwall: “Warum bist du erst jetzt gekommen. Ich habe geglaubt, du bist tot.”

“Ich bin zu Fuß gekommen.”

“Ich meine nicht heute, sondern damals.” “Kann ich nicht heute kommen?”

“Das ist zu spät! Auch dein Brief ist zu spät gekommen.” “Ist was passiert?”

“... Ich hasse dich!”

Weiherchen biss sich auf die Lippen. Ihr Biss dauerte lange. Etwas Kerosin auf nasses Brennholz geschüttet brachte sofort im Zimmer ein wärmendes Feuer. Sie erlaubte mir, meine nasse Wäsche am Feuer zu trocknen. Ich wollte meine Jacke ausziehen und Wasser auspressen, sie meinte aber: “Lass die Jacke an, du kannst dich näher ans Feuer setzen.” Die Hitze drängte nah an meinen Körper und ein sichtbarer Wassernebel stieg auf. Ich saß am Feuer wie eine Nebelmaschine und setzte dem Wasserdampf meiner Kleider kein Ende. Ein weißer Dunst ergriff vom ganzen Raum Besitz. Es war schon tiefe Nacht, Weiherchen hatte die Tür noch nicht geschlossen. Inzwischen wehte ein Wind die Tür zu. Weiherchen lief hin und öffnete sie wieder. Die Tür war nun weiter als vorher geöffnet. Sie wurde jetzt durch eine Holzstange gestützt. Das war gar nicht ihre Art. Ich fragte hartnäckig nach, was eigentlich passiert war. Sie gab keinen Laut von sich, biss bloß fest auf die Lippen und guckte auf ihre Fußzehen, als stünden auf ihnen die Antworten. Der Raum schwieg. Meine ununterbrochenen Worte im Brief, die vor Kurzem wie ein Wasserfall aus mir herausstürzten, kamen jetzt nicht mehr aus meinem Mund heraus. Der Mut von Weiherchen, sich frivol wie eine Unzüchtige zu benehmen, hinterließ ebenfalls keine Erwähnung. Man hörte nur ab und zu ein Knacken des Ofenfeuers, das mir ein bisschen Wärme spendierte. Kaum waren die Sachen getrocknet, hob sich ihr Kopf: “Gehe übernachten bei Produktionsgruppenleiter Wang. Helllicht und Hunderthaus wohnen dort.” “Ich will nicht schlafen gehen, ich will nur dich sehen, bis der Tag anbricht. Dann muss ich schnell zurück zur Arbeit.”

“Morgen wird unsere Produktionsgruppe Reis ernten. Ich habe nicht die Kraft, die ganze Nacht aufzubleiben.”

“Um dich zu besuchen habe ich mich nicht für Urlaub gemeldet. Ich bin spontan in einen vorbeifahrenden Zug eingestiegen und wäre um ein Haar zu Tode gestürzt.”

Nun konzentrierte sich der Blick von Weiherchen erst ganz auf mich und überprüfte mich von Kopf bis Fuß, als ob sie nach Haarklemme oder Gummiband suchte, die ihr verloren gegangen waren. Ich sagte: “In Vergangenheit war ich zu unbedarft. Ich bitte um Entschuldigung!”

“Was nutzt das, jetzt Entschuldigung zu sagen.” Sie nahm dabei eine Plastikfolie und wickelte zwei Stück Süßkartoffeln ein und legte sie auf die Holzkiste. “Gehe, sonst kannst du morgen den Frühbus nach dem Kreis nicht mehr erreichen.”

“Du hast mir noch nicht erzählt, was passiert ist.”

“Alles ist passiert, was passieren sollte. Das kann man nicht mehr ändern, auch wenn ich dir das erzähle.”

“Ich werde Hunderthaus und Helllicht fragen, wenn du mir nichts sagst.”

“Du bist wirklich lästig.” Sie nahm eine andere Plastik und eine Taschenlampe. “Geh jetzt! Errege kein Aufsehen in der Produktionsgruppe. Ich erzähle dir dann alles unterwegs.”

21

Weiherchen und ich hielten je ein Stück Plastik über den Kopf und begaben uns auf dem Schlammweg in die Kommune zurück. Es dauerten nur wenige Minuten, bis meine kürzlich getrockneten Kleider durch Regen wieder nass geworden waren. Das war für mich eine lange Nacht, die mit Geräuschen von Regen und Schritten verwoben war. Aber Weiherchens Stimme überdeckte alle Geräusche. Sie sagte, daß die Menschen, die sich in sie heimlich verliebten, seien so viele wie Ameisen. Sollten sie sich anstellen, könnte sich die Schlange auf länger als einen Kilometer belaufen. Der Mathelehrer Starkkiefer Feng, der sonst sein Kragenhäkchen anständig eng schloss, zwinkerte ihr bei jeder Gelegenheit zu. Aber sie habe die lange Schlange nie zur Kenntnis genommen und ihren Blick wirklich nur auf mich konzentriert. Sie habe auch nicht wissen können, welchen Punkt sie an mir schätze. Sie fand bloß meine Lockenhaare attraktiv, wie bei einem Ausländer. Das war etwas besonderes und vielleicht das Erbe einer stinkenden Bourgeoisfamilie. Sogar mein Körpergeruch gefiel ihr besonders gut. Kein Wunder, daß sie sich, bevor man sie aufs Land versetzte, ihre Nase oft mit dem Taschentuch zudeckte, das voll mit meinem Schweiß getränkt war. An dem großen Ahornbaum nah des Büffelteiches vorbeigehend fragte mich Weiherchen: “Erinnerst du dich noch an den Vormittag, an dem wir aufbrachen?” “Aber natürlich.”

“Und erinnerst du dich, daß ich mich mit dem Oberkörper aus dem Fenster beugte und dir zuwinkte?”

“Hast du denn nicht deinen Eltern zugewinkt?”

“Nein, das war es nicht! Sie konnten mich nicht in der Stadt behalten. Dir hat mein Winken gegolten.”

“Leider habe ich das nicht bemerkt?”

“Wen willst du anlügen? Ich habe dir zugerufen: ‘Zeng Guangxian, du musst mir schreiben!’ Anfangs konntest du mich nicht hören. Als ich das dritte Mal rief, hast du genickt. Das weißt du genau, täusch mich nicht!”

“Wenn ich das wüsste, müsste ich ins Gefängnis.”

“Aber warum hast du deine Hand gehoben und mir zugenickt?” “Nein, ich habe keine Hand gehoben und auch nicht genickt.” “Doch! Willst du das nicht gestehen, dann haben wir miteinander nichts mehr zu reden.”

Ich konnte sie sowieso nicht überzeugen und sagte “Ok, Ok, Ok”, um sie versöhnlich zu stimmen. Auf Grund dieses unglücklichen Missverständnisses hatte sie nach der Niederlassung auf dem Lande jeden Tag die Erwartung, von mir Post zu bekommen und lief immer als erste zum Briefträger. Ein Brief für Hunderthaus war gekommen, so wie der Brief für Helllicht, nur sie bekam nichts. Wie ist zu verstehen, daß es so wichtig für einen war, der allein an einem Teufelsort lebte, einen Brief zu erhalten? Der Brief konnte wichtiger als eine Mahlzeit sein, eine Mahlzeit mit Fleisch. Als Hunderthaus und Helllicht die Briefe ihrer Schulkameradinnen vor ihren Augen schwenkten, knirschte sie vor Hass mit den Zähnen. Als sie zusehen musste, wie die beiden ihre Briefe lasen, sah sie die Berghänge am Dorfanfang an, mit dem Wunsch, daß sich die Bäume in mich verwandeln würden. Die Berghänge sackten täglich um ein Stück nach unten ab. Ohne meinen Brief bekommen zu können, geschweige denn meinen Schatten zu erblicken, nutzte sie verschiedene Gelegenheiten im Lager aus, sich selbst, indem sie meinen Ton und meine Schriftzeichen nachahmte, Briefe zu schreiben. Für mich bat sie im Brief um Entschuldigung, hielt um ihre Hand an, lobte ihre Schönheit und Gutmütigkeit. Sogar ohne meine Einstellung zu kennen, setzte sie insgeheim vor ihren Namen “Meine liebe”. Sie phantasierte und gab sich auf diese Weise einer Selbsttäuschung hin, in der Hoffnung, daß sie eines Tages wirklich einen Brief von mir bekommen würde. Leider hatte ich ihr noch nach einem halben Jahr kein halbes Schriftzeichen geschrieben. Nachdem sie sich, die falschen Briefe in den Händen haltend, die Augen ausgeweint hatte, verbrannte sie alle. Dabei befahl sie sich, ab da nie mehr an mich denken zu dürfen.

Die für sie bestimmten Briefe verbreiteten sich über mein ganzes Bett. Nur ich als dummer Tölpel schickte sie nicht rechtzeitig ab. Ohne meine Briefe zu erhalten musste sie sich mit einer scheinbaren Realität konfrontiert sehen. In der Tat hätte sie schon, so wie ich mich beim Abschied verhalten hatte, dies als Realität anerkennen müssen, spätestens als sie sich in den Bus setzte und nach der Acht-Winter-Kommune fuhr. Die Fahrt vom Kreis zur Kommune war eine Landstraße mit mindesten zwanzig scharfen Kurven. Ihr wurde im Bus schlecht und musste schon kurz nach der Abfahrt erbrechen. Unterwegs hatte sie fast Galle gespuckt und hätte sich am liebsten aus dem Fenster zu Tode stürzen wollen. So konnte sie die imposante Landschaft in “Himmelsfreude” gar nicht bemerken. Sie hatte später im Bus zum Kreis, um die Briefe abzuschicken, genauso erbrechen müssen. Aus erlittener Enttäuschung um einen Mann, den sie liebte, zitterte sie jedes Mal am ganzen Körper, wenn sie in den Bus einstieg.

Sie war mit Hunderthaus und Helllicht tief in der Nacht bei der Tal-Produktionsgruppe angekommen. Der Gruppenleiter Wang brachte die zwei Jungen zu sich nach Hause und ließ Weiherchen allein in einem Lehmhaus zurück, mit dem Argument, daß es moralischer sei, Mädchen getrennt wohnen zu lassen. Er nahm sofort Abschied, ohne zu beachten, ob sie alleingelassen Angst hätte. Es war ein freistehendes Haus. Rings herum gab es keine Nachbarhäuser. Bis auf eine Lampe gab es gar keine Lichtquelle mehr und sie hatte kaum die eigenen Finger sehen können. Man kann sich unschwer vorstellen, wie sie die Nacht zugebracht hat... Sie saß unter dem Mückennetz und hielt die Augen die ganze Nacht geöffnet. Der Wind draußen heulte laut. Ein paar Mal hörte sie sogar Schritte, die sich dem Fenster näherten. Ihr standen die Haare zu Berge. Wie dringend brauchte sie da einen Mann, der vor Geistern keine Angst hatte und ihr Gesellschaft leistete. Weiter dachte sie daran, den zu heiraten, der ihr in diesem Moment Mut machte, egal wie alt und hässlich er auch war. Die Schritte draußen vor dem Fenster wurden schwerer und schwerer. Ihr lief ein Schauder über den Rücken. Sie war in kaltem Schweiß gebadet und vor Schreck fast ohnmächtig. Sie schrie laut, riss die Tür auf, um zu flüchten und stieß wider Erwarten auf einen Mann, der zu ihr sagte: “Habe keine Angst! Ich bin gekommen, um die Tür zu bewachen.”

Die Arbeit in der Produktionsgruppe bestand meistens darin, daß jeder zum Graben ein Stück Boden zugeteilt bekam. Wer zum Beispiel damit fertig geworden war, durfte sich zur Seite setzen und den anderen zuschauen. Weiherchen hatte zuvor nie eine Hacke in die Hand genommen. Wie konnte sie sich vergleichen mit den Bauern? Nach kurzer Arbeit bildeten sich an ihren Händen Blasen. Trotzdem durfte sie keine Pause machen und musste am nächsten Tag mit der Arbeit fortfahren. Die Blasen in ihren Handflächen zerrieben sich am Stiel der Hacken. Das blutende Fleisch sah grässlich aus, und es war schmerzhaft wie der Schnitt eines Messers. Aber sie durfte sich nicht über die Schmerzen beklagen. Sich über Schmerzen zu beklagen würde Angst vor der Arbeit bedeuten, das heißt, man sei nicht bereit, sich durch die Armen Bauern umerziehen zu lassen. So musste sie mit eingewickelter Hand die Arbeit fortsetzen. Beim Graben blieb sie meistens hinter den anderen zurück. Anfangs half man ihr etwas. Nach und nach war man selber müde, wurde überdrüssig, und keiner kam ihr mehr zur Hilfe. Nur der Mann, der ihr in der Nacht die Tür gehütet hatte, half ihr weiter, obwohl ihn andere verhöhnten. Sie betrachtete den Mann wie einen Ehrenmann, einen vom Vorsitzenden Mao entsandten Ehrenmann, nachdem dessen Hacke eilfertig ihre Restarbeit bis zum Ende erledigt hatte.

Eines Tages ging der Mann in ihr schlammiges Haus und sagte zu ihr: “Sei lieb zu mir!” Sie schüttelte ablehnend den Kopf. Obwohl er ihr viel geholfen hatte, lehnte sie das entschieden ab. In ihrer Phantasie gehörte ich immer noch zu ihr. Sie hatte vor, sich in die Stadt zurück versetzten zu lassen und dort zu heiraten. So wies sie in Gedanken an mich den Mann wiederholt ab. Sie zeigte ihm sogar die in meinem Namen geschriebenen Briefe. Der Mann wollte das aber nicht glauben und war der Ansicht: “Wenn er dich wahrheitsgemäß liebt, wäre er längst zu Besuch gekommen, statt solch einen eifersüchtigen Brief zu schreiben.” Ihre Ablehnung war kein Schlag für den Mann, der ihr weiterhin half, um ihr Wasser zu tragen, Brennholz zu sammeln, Wäsche zu waschen und in der Kommune für sie braunen Zucker zu kaufen.

 

Zwei Tage vor der Ankunft meines Briefes, es regnete heftig, war all ihr Brennholz vor dem Haus nass geworden. Nach Feierabend hatte sie einen Bärenhunger und wollte sich zu Haus schnell etwas kochen, aber das nasse Holz wollte sich nicht richtig entzünden lassen. Sie versuchte ins Feuer zu pusten. Der dicke Rauch trieb ihr Tränen in die Augen. Diese vermehrten sich ständig, bis sie nicht mehr wusste, welche wegen des Rauchs und welche wegen erlittener Ungerechtigkeit da waren. In diesem Augenblick war der Mann gekommen. Er goss ein wenig Petroleum auf das nasse Holz und zündete das Feuer an. Die Flammen brannten auf einmal lichterloh. Sie traute ihren Augen nicht und war dermaßen begeistert, das sie sich Hals über Kopf in die Arme des Mannes stürzte. Feuer mit Petroleum anzuzünden sah zwar einfach aus, aber sie hatte überhaupt nicht an so eine Möglichkeit gedacht. Von der Methode macht sie noch heute Gebrauch und erspart sich viele Probleme, mindestens viele Tränen.

Sie konnte auf keinen Fall wissen, daß ausgerechnet drei Tage nach der Umarmung mein Brief ankommen würde. Ob das Schicksal es fügte? Für den Fall, daß sie meinen Brief hätte im Vorfeld erhalten können, hätte sie sich wahrscheinlich nicht so leichtsinnig benommen. Hätte sie doch wenigstens noch zwei, drei Tage länger gezögert. Die Schuld lag an mir, die Marke vergessen und ihn mangels des Mutes nicht rechtzeitig abgeschickt zu haben.

Es begann zu dämmern, als wir die Acht-Winter-Kommune erreichten. Die Straße in feinem Regen war menschenleer. Der Linienbus mit einem unklaren Umriss stand vor dem Tor der Revolutionären Kommission. Alle Türen und Fenster waren geschlossen. Die Nachrichten des Kommunenrundfunks kamen mit Unterbrechungen durch Lautsprecher herüber. Wir saßen auf der Treppe vor dem Eingang. Ich fragte: “Wer war der Mann?”

“Das sage ich jetzt nicht.”

“War das Hunderthaus oder Helllicht?” Sie schüttelte den Kopf.

“War das denn ein Bauer von hier?” Sie schüttelte wieder den Kopf.

“Habe ich noch eine Chance?” “Nein. Ich habe bereits...”

“Was heißt bereits? Bereits mit ihm geschlafen?”

Sie machte ein finsteres Gesicht, hob ihre Stimme: “Was hat das mit dir zu tun, wenn ich mit ihm geschlafen habe?”

“Ich will nicht mehr zurück. Ich bleibe hier, um dich zu begleiten. Ich will mich hier niederlassen, mit dir zusammen.”

“Lass das! Was hast du seinerzeit behauptet, als ich dich aufforderte, dich zu melden? Du hast gesagt, nicht hierher kommen zu wollen.”

Ich musste schluchzen und begann zu weinen, Tränen wie ein starker Regen, noch stärker als der Regen vor Augen. Sie meinte: “Du bist echt ein Kind. Schäme dich doch! Eine Änderung kann man nicht durch Weinen erreichen. Wenn das ginge, hätte ich dich damals mit Weinen für mich gewonnen.” Nach ihrer Aussage weinte ich noch mehr bitterere Tränen. Ich konnte selber nicht begreifen, warum. Ich wollte nur weinen, nach dem Weinen ging es mir besser. Sie drehte sich zur Seite und meinte: “In der Stadt sind viele gute Mädchen und besser als ich?”

“Ich will keine von ihnen, außer dich.”

“Das sind keine Bonbons, die man beliebig auswählen kann. Das ist ein Gefühl, das ich nicht ändern kann. Komm gut nach Hause! Ich muss jetzt zurück zur Arbeit.” Sie nahm die Süßkartoffeln aus der Tasche, gab sie mir und ging. Ich rief ihren Namen und glaubte, sie durch meinen Ruf aufhalten zu können. Aber sie ging umso schneller. Sie verschwand im Regen.

22

Du hast lange zugehört. Bist du müde? Trinke einen Schluck Wasser! Entschuldigung, ich habe keine Zigaretten dabei. Ich wusste nicht, daß du rauchst. Lassen wir die Bedienung eine Schachtel bringen! Macht nichts, ich möchte nur, daß du die Geschichte zu Ende hörst. Kein Problem, wir können gleich einen Teller Obst bestellen.

Zurück im Zoo frankierte ich jeden bisher aufgehobenen Brief und warf alle in den Briefkasten. Seit damals war ich gewohnt, auf dem Brief je zwei Marken zu kleben, eine auf der vorderen Seite und eine auf der hinteren, für den Fall, wenn eine verloren ginge, dazu klebte eine andere noch, um keine Verspätung zu riskieren. Zehn Tage später schickte Weiherchen ein Paket zurück. Darin waren alle meine Briefe, deren Umschläge unversehrt geblieben waren. In der Nacht nahm ich die Briefe in den Arm und ging damit ins Bett. In der Nacht wurde ich oft von meinen eigenen Rufen aufgeweckt. Ich rief im Traum “Weiherchen”, es schmerzte manchmal in meiner Brust. Wenn die Schmerzen zu stark waren, hielt ich lange Ausschau in Richtung Kreis Himmelsfreude und sah fast, wie Weiherchen mit Petroleum Feuer anzündete und der Rauch über ihr Schlammhaus langsam aufstieg.

Eines Nachts stahl ich mich in das Lagerhaus, saß zwischen den Bänken und sann vor mich hin. Um mich war es stockdunkel, ich konnte keinen Umriss erkennen. Nur die Bank, auf der Weiherchen gestanden hatte, war weder hell noch dunkel. Sie erhellte sich dann langsam, wie überdeckt durch eine Fluoreszenz. Ihr Rock drehte sich fliegend auf der Bank, er fiel plötzlich herunter und ihre glatten und vollen Oberschenkel kamen zum Vorschein, immer wieder... Hätte ich mich seinerzeit nicht gedrückt, sondern stattdessen wie ein Tiger auf sie geworfen, so hätte ich jetzt kein Bedauern. Und sie würde mich auch nicht hassen. Die Bank wurde heller und heller, sie tauchte mal auf und mal ab. Ich rief einmal “Weiherchen” und hörte plötzlich ein Hundeschluchzen. Ich schaltete meine Taschenlampe ein und fand einen hässlichen und schmutzigen kleinen Hund unter der Bank, der nur noch schwach atmen konnte. Ich hob ihn auf und brachte ihn zu meinem Wohnheim. Ich gab ihm Zuckerwasser und Reis und er konnte dann wieder richtig atmen. Zwei Stunden später hatte er etwas Kraft und schleckte ohne Pause meine Hand. Es wurde warm um mein Herz. Ich nutzte den Vorteil meiner Arbeit, gab ihm eine Spritze und kochte ihm Fleisch. Einen halben Monat später war sein Fell wieder glänzend geworden, ein geheiltes Lebewesen, das täglich mit mir vor den Käfigen auf und ab wanderte und langsam seine Angst los wurde. Er bellte nicht mehr ohne Grund und war ruhig geworden. Ich gab ihm am Anfang den Namen “Jungblume”, um an die beiden toten Hunde meiner Familie zu denken, was ich dann aber korrigierte. Der Hund war in dem Moment erschienen, als ich nach Weiherchen rief, so sollte er “Weiherchen” heißen. Als ich “Weiherchen “rief, sprang er auf meine Arme. Bei Missmut sprach ich mit ihm. Dachte ich an Weiherchen, starrte ich ihn an. Am Abend badete ich ihn mit Seife und überließ ihm ein halbes Bett. So “Weiherchen, Weiherchen” rufend schlief ich ein. Unzählige Momente glaubte ich, daß Weiherchen tatsächlich bei mir wäre. Die Schmerzen in meiner Brust lösten sich wie tauendes Eis allmählich auf.

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