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II

Freundschaft

15

Ich befand mich zu der Zeit gerade in einer Depression. Mutter war tot, meine kleine Schwester verschwunden und mein Vater lag noch auf dem Ziegelhaufen. Mit einem Wort, ich hatte meine Familie und Nächsten verloren, wie auch mein Schlafquartier, und ich war schmerzerfüllt. Ich sparte die Hälfte von dem auf, was mir Familien Zhao und Yu zu Essen gaben, und brachte das ins Lagerhaus. Mein Vater aß aber nicht, was ich ihm gebracht hatte. Auch das nicht, was ich heimlich hinstellte, als er eingeschlafen war. Er tat so, als ob die Lebensmittel vergiftet waren. Er roch kurz daran und schmiss das Essen auf schroffe Weise weg, ohne daß es ihm in der Seele weh tat und ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, daß ich das Essen mit meinem eigenen Hunger gezahlt hatte. Er verzehrte nur die vom Onkel Zhao und Onkel Yu geschenkten Speisen, wie Baozi (gefüllte Teigtaschen), Dampfnudeln und Ölbackstangen, dazu eine Kanne fader Tee.

Mit Altzeitungen und kaputten Bambusmatten wickelte sich mein Vater eng ein, um sich gegen die eisige Kälte zu schützen. Er hatte keinen anderen Ort, den er aufsuchen konnte. Er wollte auch keinen aufsuchen und er war willens, das Lager bis zu seinem Tod nicht zu verlassen. Ich war bei ihm nicht willkommen und konnte nur abseitsstehen und ihn durch die Trennmauer beobachten. Manchmal stand ich da stundenlang und sah bekümmert, wie er sich in Matten eingewickelt auf den Steinen herumwälzte. Er drehte sich wie ein rundes Stück Holz. Auf der unebenen Fläche musste er zigmal versuchen, sich umzuwälzen. Ich wollte ihm einmal helfen, aber er donnerte mich so barsch an, das ihm die blauen Adern am Hals hervorquollen. Er wollte mich sogar mit Steinen bewerfen. Daraufhin konnte ich ihm nur von draußen durchs Fenster zuschauen. Ich ließ so meine Nase und Ohren vom Wind rot und meinen Körper steif blasen. Ich wollte, der Nordwind bliese noch stärker. Mein Herz konnte es besser vertragen, wenn mein ganzer Körper kalt und empfindungslos wurde. Mir war, als würden sich meine Sünden auf diese Weise minimieren.

An einem Nachmittag kamen mehr als zehn Bauarbeiter mit Werkzeugen in das Lager. Mit zusammengekniffenen Augen zogen sie gerade Linien für die Umbauarbeit im Lager. Danach rührten sie in der Hausecke Zement an. Dann prüften sie, mit dem Ziegelmesser in der rechten und den Hammer in der linken Hand, ganz genau alle Steine. Neben der Kontrolle der Steinfläche wogen sie das Gewicht in der Hand. Die Genauigkeit musste stimmen. Es war als prüften sie dabei Talente, streng wie bei einer politischen Prüfung, im Bedenken, daß die Steine ungenau sein könnten und somit ihre Arbeit störten. Die den Maßen nicht entsprechenden Steine warfen sie aus dem Fenster. Den brauchbaren Steinen schlugen sie die Erde weg, strichen neuen Zement darauf und bauten entlang der geraden Linie eine Bank. Der Sonnenschein fiel durch die Dachziegel auf ihre Hände, Steinmesser und Nasen. Er änderte ständig seine Position und folgte ihren fortbewegenden Körpern. Es sah aus, als ob er ständig in Bewegung war, nicht die Arbeiter. Im Lager herrschten dicker Staub und ohrenbetäubende Hammerschläge. Die alten Steine leisteten ihren Beitrag für die neuen Epochen. Aus Abfall wurde wertvolles Baumaterial.

Während sich die Reihen der fertigen Steinbänke vermehrten, blieb in der Ecke der letzte Haufen der Altsteine zurück. Mein Vater schlief darauf. Mit jedem weggezogenen Stein durch die Bauarbeiter änderte sich die Lage seines Körpers, der ständig nach unten sank. Am Schluss lagen seine Füße fast auf dem Boden, während sein Kopf noch hoch lag. So zu sagen, es lag die meinen Vater umwickelnde Matte jetzt schief. Die neben ihm abgestellten Schüsseln aus Porzellan und die Wasserkanne rollten mit einem Krach zu Boden. Wasser wurde verschüttet und die Dampfnudeln fielen raus. Die eingerollte kaputte Matte sprang plötzlich auf. Zum Vorschein kam mein Vater mit seinem stoppeligen Gesicht. Nun muss erwähnt werden, daß es die Matte der Familie Bergfluss´ war, mit der wir die Hunde umzingelt hatten. Jetzt umgab sie meinen Vater. Die Bauarbeiter schmissen ihre Steinmesser weg, setzten sich auf die fertigen Bänke und fingen an zu rauchen. Rauch und Stau schwebten über Ihren Köpfen. Sie diskutierten mit leiser Stimme, ob sie meinen Vater wie einen Stein raus schmeißen sollten?

Schließlich standen sie alle auf, spuckten die Zigarettenstummel aus und wischten den Zement von ihren Händen ab. Sie trugen die Matte mitsamt meinem Vater aus dem Lager. Mein Vater wälzte sich darauf, die wie eine Schaukel schwankte, strampelt mit den Beinen und schrie: „Nein! Lasst mich hierbleiben. Ich will zuhause sterben! Gebt mir noch einige Tage, ich brauche noch etwas Zeit. Ich zeige euch, wie ich sterbe. Ich stoße meinen Kopf gegen die Wand, sobald ich aufstehen kann. Oder ich erhänge mich, wenn ich hoch klettern kann. Wenn ihr noch Mitleid habt, so macht ihr mir eine Schlinge und legt sie um meinen Hals. Ich bitte euch...“

Draußen warfen die Arbeiter meinen Vater wie einen toten Hund auf eine Holzkarre, deren Fläche schief stand. Dabei drehte sich die Karre mit ihm darauf in einem halben Kreis. Ein dicker, grober Arbeiter brüllte mich an: „Schieb ihn zur Fabrik Nr. 3.“ Mein Vater schrie aus vollem Hals: „Nein! Nein!“ Das war gerade im Winter, in dem der Nordwind kräftig blies. Seine Nase war schnell weiß gefroren, seine Lippen waren bleich geworden und sein Ruf wurde immer schwächer, bis er zum Schreien keine Kraft mehr hatte. Er schloss die Augen und schlief ein. Ich zog meine Jacke aus, deckte ihn damit zu und zog den Wagen zur Fabrik Nr. 3.

Auf der Straße bewegten sich die Menschen und Wagen hin und her, ohne daß ich ihre Stimmen und Geräusche hörte und sie richtig wahrnahm, als wären sie alle Schatten. Auf dem Boden, bedeckt mit halbgetrockneten und halbnassen Blättern, rollten die Räder der Busse ohne scheinbar ein Geräusch von sich zu geben. Nur die von mir gelenkte Karre zermahlte knirschend die gelben Blätter. Für mich war es das erste Mal, so eine schwere Karre zu ziehen. Nach wenigen Schritten war ich in Schweiß gebadet. Der Wind, der heftig blies, wurde immer kräftiger. Meine Beine strengten sich maximal an, bis sie nach kurzer Zeit schmerzten. Wenn es abwärts ging, zog mich die Karre nach vorne, aufwärts drückte mich die Karre nach hinten. Meine Hände wurden taub und schmerzten. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Genau in dem Moment fühlte sich die Karre plötzlich leichter an. Ich drehte meinen Kopf und sah, wie Weiherchen, weißen Rauch aus dem Mund hervorstoßend, ihre Hände auf das hintere Gerüst stützte und mit großer Anstrengung den Wagen mit voran schob. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Ihr Gesicht wirkte rötlicher als sonst.

Weiherchen hieß Chi Feng-xian. Gewöhnlich nannte man sie Weiherchen. Sie war das dickste Mädchen in meiner Klasse. Der Grund dafür ergab sich, daß ihr Vater der Direktor der Lebensmittelstation war. Sie hatte daher mehr Gelegenheit, Fleisch zu essen. Aber die Vorstellung von Korpulenz war damals völlig anders als heute. Das Dick von damals gleicht jetzt dem Normal, das heißt, im Durchschnitt ein bisschen korpulenter. Gerade weil sie etwas voller war, wirkte Weiherchen reifer als alle anderen Mädchen. Ihr rundes Gesicht erinnerte uns daran, als wir einen Satz mit „rötlich“ bildeten, daß sie sich satt essen und warm anziehen konnte.

Mit Ziehen und Schieben brachten wir die Karre schließlich in die Fabrik Nr. 3. Eine große Anzahl Menschen hatte sich versammelt. Mein Vater öffnete die Augen: „Wo ist das hier? Wer seid ihr? Ob man mit der Verurteilung abwarten kann, bis ich wieder gesund werde?“

„Langwind, ich bin Willfreund Hu.“ „Ich bin Goldtal Xie.“

„Ich bin Breitmeer Liu.“

Die Namen klangen einer nach dem anderen laut, aber wie aus weiter Ferne. Gerührt stiegen meinem Vater die Tränen in die Augen. Weiherchen und ich wurden durch die Menschenmenge an den Rand gedrängt und standen außer Atem daneben. Weiherchen nahm ihr Taschentuch und wischte mir den Schweiß ab, ohne mich zu fragen, ob ich damit einverstanden wäre. Vor Angst drehte ich meinen Kopf ab. Sie sagte: „So viel Schweiß, warum wischst du dich nicht ab?“ Ich schüttelte den Kopf und mied dabei ihre Augen.

16

Ich sah oft, daß sich Weiherchen Mund und Nase mit dem Taschentuch zudeckte, sowohl im Unterricht, bei Unterhaltungen, als auch im Gehen, als hätte sie Angst vor einem bestimmten Geruch. Eines Tages fragte sie mich, indem sie sich Nase und Mund wie gewöhnlich zudeckte: „Guang-xian, wo wirst du dich auf dem Lande niederlassen?“

„Ich weiß es nicht. Wenn ich das wählen kann, werde ich mir den Kreis Himmelsfreude aussuchen.“

„Bist du sicher?“

„Auf jeden Fall will ich nicht woanders hingehen.“

Einige Tage später sagte mir Weiherchen, wieder sich mit ihrem Taschentuch zudeckend, „ich weiß jetzt, warum du in den Kreis Himmelsfreude willst.“

„Warum?“

„Weil der Artikel in der Zeitung über diesen Kreis wirklich sehr schöngeschrieben ist.“

Der von Weiherchen erwähnte Artikel wurde im Beiblatt der Provinzzeitung veröffentlicht, unter dem Titel: „Vor Allem ist die Landschaft im Kreis Himmelsfreude ausgezeichnet“. In jenen Jahren waren alle damit beschäftigt, Parolen zu rufen und passten auf große Ereignisse auf. Nicht viele Leser beachteten eine kleine Prosa in der Zeitungsecke. Das Taschentuch konnte nicht länger den Freudetaumel von Weiherchen verstecken. Sie meinte: „Kreis Himmelsfreude ist wirklich nicht schlecht. Neben dem, was im Artikel als ausgezeichnet gelobt wird, gibt´s noch drei Vorteile, die du nicht kennst.“ Die kannte ich früher ehrlich auch nicht. Bevor ich den Artikel las, wusste ich tatsächlich nicht, daß auf dieser Erde ein Gebiet namens Himmelsfreude existierte. Auch nachdem ich den Artikel gelesen hatte, wusste ich dann nicht, in welcher Richtung sich der Kreis befand.“ Weiherchen fügte hinzu: „Erstens beträgt die durchschnittliche Temperatur im ‚Himmelsfreude‘ 16,3 Celsius. Wenn du dich dort niederlässt, brauchst du nicht viele Kleider mitzunehmen. Zweitens befindet sich der Kreis in der Nähe einer Bahnstrecke und wenn du hinwillst, kannst du die Eisenbahn nehmen. Drittens ist im Kreis Himmelsfreude ein fünfeckiger See, der auf dem mehr als 2000 Meter hohen Elfenbeinberg über dem Meeresspiegel liegt. Wegen abschüssiger Berge kann kaum jemand hinauf klettern. Ich glaube, wie hoch der auch ist, kann er sich keinesfalls mit dem Qomolangma Feng vergleichen, und wie abschüssig er auch ist, ist er nicht mit dem Himalaja zu vergleichen. Ich will den Berg besteigen, wenn ich mich da niederlassen werde.“

 

So hatte sich Weiherchen für den „Himmelsfreude“ angemeldet. Mit ihr waren noch fünf andere Schulkameraden gemeldet, unter ihnen Hunderthaus und der Gruppensprecher Helllicht. Ich hatte mich nicht für „Aufs Land und in die Berge gehen“ gemeldet, mit dem Argument, daß ich mich um meinen Vater kümmern müsse. Eines Tages nach der Schule, auf dem Weg nach Hause, versperrte mir Weiherchen den Weg: „In der Tat braucht dein Vater deine Pflege gar nicht. Seine Beine sind geheilt. Ihm wurde auch ein Wohnsitz zugeteilt. Was hast du für ihn noch zu sorgen?“

„Ich begleite ihn, ich mache ihm Gesellschaft.“

„Lass das! Soweit ich weiß, spricht dein Vater bis heute nicht mit dir. Er wollte dich im Grund gar nicht sehen. Er scheuerte sich vor dir, wie einer der Lepra hat.“

„Was meinst du damit? Geh doch du zu Tausendjahr und kritisiere mich ruhig.

Sie stampfte auf die Erde: „Das lohnt sich für mich nicht! Aber du bist unzuverlässig!“

„Um Gotteswillen Weiherchen, ich wollte dir nichts Gemeines unterstellen. Auch als die anderen über deine Gesichtsentstellung sprachen, habe ich mich nicht daran beteiligt.“

Weiherchen nahm das Tuch von Nase und Mund weg: „Habe ich eine Entstellung?“

„Nein.“

Sie deckte mit dem Tuch wieder Mund und Nase ab: „Hättest du zu der Zeit nicht von der Niederlassung geredet, so hätte ich mich nicht angemeldet. Weißt du, ich könnte auch in der Stadt zurückbleiben, wenn mein Vater bereit wäre, für den Leiter einige Pfunde Fleisch abzuschneiden.“

„Du selbst wolltest doch nicht in der Stadt bleiben. Was hat das jetzt mit mir zu tun?“

„Natürlich hat das mit dir zu tun. Du warst es doch, der meinen Geschmack fürs Land angeregt hatte, und jetzt bist du ausgerechnet der, der den Aufenthalt dort ablehnt.“

Ich schlug mir wie gewohnt auf den Mund: „Entschuldige, ich hatte damals etwas geschwätzt.“

„Aber es ist noch Zeit genug, dich anzumelden.“

„Ich will aber nicht aufs Land gehen.“ Weiherchen starrte mich an, sie starrte mich lange an.

„Wenn ich das aber wollte?“

„Du bist doch nicht der Schuldirektor. Warum soll ich auf dich hören.“ Weiherchen warf ihre Arme in die Luft, schleuderte das Tuch weg und ging verärgert fort. Zu der Zeit konnte ich sie kein bisschen verstehen. Ich wusste nicht, wieso sie so einen Ärger hatte. Sie war so gutherzig und hilfsbereit. Warum war sie jetzt verärgert? War mein Verhalten in Ordnung? Wenn ich falsch reagiert haben sollte, hätte sie sich nicht ärgern müssen, sondern hätte mich aufklären können. Ich versetzte dem Taschentuch auf dem Boden einen Fußtritt und spürte dabei, wie ein Gefühl der Wärme in mir verschwand. Mit gehobenem Kopf bemerkte ich, daß ich die sich entfernende Figur von Weiherchen nur noch als einen Schatten wahrnehmen konnte.

17

Nach dem Umbau wurde aus dem Lager ein großer Hörsaal. Auf der Präsidiumstribüne, an beiden Seiten mit einem Spruchpaar versehen, waren viele Fahnen aufgesteckt. Hoch an der Wand hing ein breites Transparent, und überall sah man Slogans angeschlagen, deren Inhalte nichts anders vermittelten als: „Jugendliche mit Schulbildung gehen aufs Land und in die Berge, um sich durch die Armen Bauern umerziehen zu lassen“. In meiner Erinnerung war dieses Lager im Vergleich zu früher heute am schönsten geschmückt. Das entsprach sowohl dem geschichtlichen Trend, als auch einer geforderten prunkvollen Aufmachung. Mit jetzigen Worten heißt es „Zeitgeschmack“. Die Farben im Lager traten besonders prachtvoll hervor. Das ganze Lager war in Rot gehalten bis auf die weißen Schriftzeichen des Transparents und die schwarzen auf dem Spruchpaar. Rote Fahnen, rote Stoffe, rotes Papier, auch das Mikrophon war rot gebunden. Die Jugendlichen wie Hunderthaus, Helllicht, Weiherchen und ihres Gleichen, die bereit waren, aufs Land zu gehen, trugen alle je eine große rote Papierblume, die so groß war, daß sie ihr Kinn berührte. Das führte dazu, daß sie sich erhobenen Hauptes aufrichten mussten.

Am besagten Tag waren besonders viele Menschen gekommen und es bestand die Gefahr, daß die Schaulustigen das Lager zum Platzen bringen konnten. Neben allen Lehrern und Schülern der 5. Mittelschule kamen auch einige Eltern und die Bewohner von nebenan. Die neu gebauten langen Zementbänke konnten gar nicht so zahlreiche Gesäße aufnehmen. Manche fanden Platz auf dem Flur. Nachdem die Flure überfüllt waren, kletterte man auf die Fensterbänke. Es wimmelte nur so von Köpfen. Die vielen Köpfe draußen vor den Fenstern, mehrere Schichten übereinander, waren besonders auffallend. Die Hälfte des Tageslichts wurde dadurch aufgefangen. Ich wusste aus der Vergangenheit, daß das Lagerhaus meiner Familie nur Waren lagern konnte und hätte nie geglaubt, daß es auch so viele Köpfe aufnehmen konnte.

Wir erduldeten die Kälte und spitzten unsere Ohren, um dem Vortrag von Tausendjahr zuzuhören. Er war zum Direktor der revolutionären Kommission des Eisen-Pferd-Bezirks befördert worden. Seine Stimme war kräftig und klangvoll. Davon, daß er seine Stimme hart trainiert hatte, profitierte er nun und davon, daß in der Fabrik meines Vaters in der Produktion der Lautsprecher eine schweres Problem zur Verbesserung bewältigt worden war. Die Stimme von Tausendjahr floss ins Mikrophon, ging durch den Tonverstärker und kam vom neuen Lautsprecher heraus, wie sich ein Bächlein durch Fließen allmählich zu einem großen Strom wurde, zu einem Meer. Seine Rede wurde immer wieder durch Beifall unterbrochen. Der Beifall von damals war, nicht wie heute nur licht, spärlich, lässig und träge, sondern von klarem und lebhaftem Rhythmus, von hoher Frequenz und starkem Laut. Ohne sich die Hände wund zu klatschen bedeutete, jemandem keine volle Unterstützung für die neuen Ideen zu geben. Vor dem Abschwellen des Beifalls klangen bereits revolutionäre Lieder. Bevor die Lieder beendet waren, dröhnten Trommelund Gongschläger zum Himmel. Das Lager war ein Lager der Musiken geworden.

Am Abend kroch ich durch das Fenster ins Haus, saß mitten in den reihenweise gebauten Zementbänken und erinnerte mich an die Turbulenzen des Tages. Mir war, als hafteten noch die Stimmen an den Wänden und drängten sich noch die Menschenköpfe gegeneinander, und das Rote... das Rote war sowieso noch immer da. Je mehr sich das Lager verändert hatte, desto mehr dachte ich an die Vergangenheit, an das Husten Onkel Zhaos, an das Parfüm meiner Mutter, an die Gerichte meines Vaters und an die Seifenschäume von Blümchen. Ich sah wie jemand, der sich mit seiner glatten, glorreichen Beamtenlaufbahn darstellte, nicht umhinkonnte, seine niederträchtige Vergangenheit ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich stützte meinen Kopf in die Hände und ließ auf diese Weise die Farben im Lager nach und nach verbleichen, damit das Haus wieder das alte Aussehen annahm, so alt wie der Mundschein auf den Bänken. Plötzlich wurden mir die Augen durch ein Paar Hände verschlossen, die ich sofort mit Kraft trennte. Ich fand Weiherchen hinter mir. Sie sagte: “Ich wusste, daß du hier bist.”

“Heute Vormittag habe ich gesehen, du hast eine rote Blume getragen.”

“Guang-xian, ich gehe morgen und nehme extra von dir Abschied.”

Wir waren sechzehn oder siebzehn Jahre alt und wussten nicht, auf welche Weise wir uns verabschieden sollten. Ich fand kein Wort und saß da wie betäubt. Weiherchen stieg auf die Bank und fragte: “Sieht mein Rock hübsch aus?” Erst jetzt bemerkte ich den Rock an ihrem Körper. In den damaligen besonderen Zeiten traute sich bis auf Schauspieler kaum jemand, einen Roch zu tragen, geschweige denn im Winter. Ihr Rock drehte sich flink auf der Bank und erzeugte einen leichten Wind. Mir wurde schwindlig. Auf einmal hörte das Drehen auf und ihr Rock fiel auf die Bank. Ihre beiden runden und glatten Beine entblößten sich. Ich deckte schnell meine Augen zu, drehte mein Gesicht zur Seite. Blitzschnell umarmte mich Weiherchen: “Guang-xian, wir sind nicht mehr Schüler, wir können für uns selbst entscheiden.” Ich atmete schwer und spürte die Stelle schmerzhaft, die sie umarmte. Ich erwiderte: “Lass mich los!” Aber sie ließ mich nicht los. Noch enger umarmte sie mich, wie ein einen Holzeimer umbindender Eisenreifen. Ich schrie laut: “Das ist unverschämt!” Ihre Hände wurden sofort weich und fielen wie locker gewordenen Seile ab. Ich musste ein paar Mal schnaufen und fand erst danach mein normales Atmen wieder. Weiherchen zog ihren Rock an und wischte ununterbrochen ihre Tränen ab. Ich sprang aus dem hinteren Fenster und lief davon. Ich konnte ihr Weinen noch nach einer größeren Entfernung hören. Meine Brust war wie durch einen Schwamm verstopft. Laut schrie ich am Kehrtfluss: “Das ist unverschämt!”

An dem Abend war Weiherchen mit Tränen nach Hause gegangen. Das Lager war zwei Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Nach diesen zwei Kilometern konnten ihre Tränen nicht trocknen. Du kannst dir gut vorstellen, wie traurig sie war. Zu Hause angekommen öffnete sie ihre eingepackte Bettdecke, nahm ihre Sachen wie Kleider, Kekse, Zahnpasta und Seifen aus der Holzkiste und warf alles auf den Boden des Wohnzimmers, setzte sich hin und weinte. Ihr Vater fragte, was los sei. Als Antwort erhielt er, daß sie nicht mehr aufs Land gehen wollte. Ihr Vater erwiderte: man müsste schon am nächsten Tag aufbrechen, und es hänge nicht an unserer Familie Chi, ob man aufs Land will oder nicht. Aber sie wollte nichts hören, stampfte mit beiden Füßen auf den Boden und hatte in der Nacht so heftig geweint, daß die Augen stark geschwollen waren. So musste ihr Vater noch in der Nacht einige Pfunde Fleisch vom Schweineschenkel abhacken und es am nächsten Tag zu Tausendjahr zu bringen, um ihn zu bitten, Weiherchen zurückbleiben zu lassen oder für sie einen Ersatz zu finden. Tausendjahr war der Meinung: Die junge Generation muss in großen Winden und Wellen abgehärtet werden, da kann ich nicht helfen. Man darf nicht das Schweinefleisch als verzuckerte Giftpillen benutzen! Ihr Vater schmiss zuhause das Fleisch auf den Tisch und schimpfte auf sie: Warum hast du dich da gemeldet? Hast du denn nicht gesagt, du hast auf dem Lande eine große Zukunft? Warum denkst du jetzt plötzlich nicht mehr an deine Zukunft? Sie wurde sprachlos und konnte ihr Weinen nur noch auf ein Minimum reduzieren, die zerstreuten Kleider in den Koffer einpacken und ihr Bündel wieder schnüren.

18

In der nächsten Früh begaben wir uns, die Schulkameraden, die in der Stadt zurückblieben, zum Bahnhof, um uns zu verabschieden. Mit einer großen Blume auf der Brust kletterten Weiherchen, Hunderthaus und Helllicht in Begleitung der feiernden Gongs und Trommeln, in den Zug. Alle streckten ihre Köpfte aus den Waggonfenstern, manche hatten Tränen in den Augen, manche winkten fröhlich. Wegen des Andrangs waren viele Blumen zu Boden gefallen. Unter den herausgestreckten Köpfen fand ich Weiherchen nicht. Ihr Vater und ihre Mutter drängten sich an die Fenster und riefen: “Weiherchen”, die aber nach wie vor ihren Kopf nicht zeigte. Auch dann nicht, als die Sirene ertönte und sich der Zug in Bewegung setzte. Die Zugsräder begannen zu rollen und die Köpfe an den Fenstern verschwanden einer nach dem anderen. Plötzlich zeigte sich an einem Fenster der halbe Körper von Weiherchen. Sie winkte ohne Pause und rief etwas. Ihr Vater und ihre Mutter liefen mit der Menschenmenge nebenher und blieben erst stehen, als ihr Kopf kaum noch zu sehen war und ihre Hand langsam unsichtbar wurde.

Kaum waren Weiherchen und Ihresgleichen fortgefahren, trat ich die Arbeitsstelle meiner Mutter an. Täglich sorgte ich für die Tiger, Löwen und Bären. Das gellende Heulen der Säugetiere trieb mich zu großer Aktivität an. Dadurch erfuhr ich wohl auch einen Wachstumsschub und innerhalb eines halben Jahres war ich um fünf Zentimeter mächtig in die Höhe geschossen. Aber dieser Zustand hatte Nebenwirkungen. Es kam nicht nur zum Längenwachstum, sondern auch mein Haarwuchs wurde stärker. Die Haare, die meiner Meinung nach nicht wachsen sollten, schreckten mich zutiefst. Hinter der verschlossenen Tür entfernte ich sie mit dem Rasiermesser. Wenige Tage später durchbrachen sie wieder hartnäckig die Haut. Wachsen und Rasieren, Rasieren und Wachsen, das wechselte sich mehrmals ab, bis ich mich damit abfand. Eine nicht zu verändernde Tatsache. Diese Erscheinung hatte zur Folge, daß ich mich ungewöhnlich heiß fühlte. Täglich trank ich einige Kannen kaltes Kochwasser. Lag ich in der Nacht acht Stunden im Bett, so konnte ich vier Stunden nicht einschlafen. Das machte in den meisten Fällen mindestens die Hälfte der Zeit aus. Entweder wälzte ich mich liegend hin und her, oder ich saß in der Dunkelheit mit dem Gefühl eines schwach brennenden Feuerballs. Konnte ich mein Sitzen im Haus nicht aushalten, so ging ich ins Freie. Brachte mir auch das keine Erleichterung, setzte ich mich zur Ablenkung im Zoo neben die Käfige. Später fühlte ich immer mehr Hitze im Körper, folglich ging ich mich duschen, fünfmal im Tagesverlauf und dreimal in der Nacht.

 

In der Nacht herrschte bis auf das Tiergeheul eine lautlose Stille. Von drüben her, wo sich die Drei-Bindungen-Straße befand, konnte man von der Eisenbahn Töne wie “Guang-dang, Guang-dang” vernehmen. Immer wenn ich wirklich nicht einschlafen konnte, fuhr ich mit dem Fahrrad zum Eisenbahngleis der Drei-Bindungen-Straße, um vorbeifahrende Züge zu beobachten. Mal ein Zug mit erleuchteten Fenstern, mal ein Zug mit Warenladungen. Ich beobachtete aufmerksam, ohne zu blinzeln, in der Hoffnung, daß sich in den Zügen Menschen befänden, die ich sehen wollte und in der Hoffnung, daß mir die Züge unerwartete Freude bringen würden. Ich atmete schwer, als die Züge auf mich zufuhren, die meine Sehnsucht mitnahmen, als sie abfuhren, was mich unbegreiflich berührte. Einige Nächte waren verstrichen, als mir plötzlich der Gedanke kam, daß die Züge doch auch Briefträger waren. Ungewollt erinnerte mich der Zug an den Kreis Himmelsfreude, wo sich Weiherchen niedergelassen hatte. Warum musste mir der Kreis Himmelsfreude so am Herzen liegen? Offen gesagt, ich dachte an Weiherchen. Das wollte ich mir aber nicht eingestehen.

Das Geheimnis entdeckte ich urplötzlich während der Sirenenlaute des Zuges. Zu der Zeit hatte ich kalte Hände und Füße, als ob mich ein eisiger Wind erfasst hätte. Ich war im ganzen Körper kraftlos. Ich sagte “Nein”, stützte mich zum Aufstehen auf das Fahrrad. Mein Körper aber strauchelte und ich setzte mich wieder zu Boden. Das Fahrrad fiel um und die Räder drehten sich leer im Kreis. War es denn nicht so, daß mir Weiherchen nur einmal Schweiß abgewischt hatte? Warum musste ich an sie denken? Um solche sinnlosen Gedanken zu vertreiben, ließ ich meine Mutter und Blümchen in meiner Vorstellung erscheinen. An meine Mutter, die ich einst immer so fest umarmte und an die Hände von Blümchen, die wir so viele Jahre zusammen wuschen, daran dachte ich. Doch statt dessen hatte ich soeben an eine gedacht, die mir nicht blutverwandt war und mich nur einmal umarmte. Was für ein Unsinn das alles war! Ich warf meinen Blick auf den sich wiegenden Baumschatten, auf die einzelnen Straßenleuchter, auf die zwei schwarzen und geraden Bahngleise und sah, wie Blümchen über den Eisenbahnschwellen von weitem herkam. Mit leichten Schritten kam sie immer näher, bis ich ihre beiden Hornzöpfe klar sehen konnte. Ich hätte fast ausgerufen: “Blümchen”. Die Erscheinung hatte sich jedoch verändert und war zu Weiherchen geworden. Ich konzentrierte mich darauf, sie wieder in Blümchen zu verwandeln und ließ diese wieder und wieder von weitem herkommen. Aber wenn sie die Nähe erreichte, veränderte sie sich wiederholt in Weiherchen. Ich musste hinnehmen, daß Weiherchen von mir Besitz nahm. Sie stand trotzig da, der Rock drehte sich fliegend vor meinen Augen, bis meine Gedanken in Chaos gerieten. War ihre Hilfe für mich denn keine revolutionäre Freundschaft? Daß sie mich umarmte, bedeutete doch keine zügellose Handlung? Ich ermahnte mich ständig: Keine übereilte Schlussfolgerung. Was gesagt ist, gilt. Ich wollte mir nicht eingestehen, daß sich Weiherchen in mich verliebte hat.

Als ich am nächsten Tag den Tierkäfig von Exkrementen säuberte, erinnerte ich mich jählings an das Taschentuch von Weiherchen. Das war an dem Tag, an dem ich meinen Vater in die Fabrik Nr. 3. brachte. Mein Kopf war voller Schweiß, Weiherchen überreichte es mir, aber ich nahm es nicht an. So putzte sie mir die Stirn. Sie putzte nur einige Male, bevor ich ihrer Hand auswich. Ab jenem Tag verließ das Tuch nie ihren Mund und ihre Nase. Sie hatte keine Gesichtsentstellung, warum bedeckte sie sich damit tagsüber? Oder wollte sie den Geruch vom Tuch riechen? Das Tuch hatte nicht wenig von meinem Schweiß aufgenommen. Mit diesen Gedanken warf ich den Spaten hin und lief zur Fünften Schule. In einem Zug lief ich unter die Bäume vor der Schule und suchte nach dem Tuch, dort wo sie es in meiner Erinnerung an jenem Tag aus Ärger weggeschmissen hatte, dem ich noch einen Tritt versetzte. Das war bereits nach einem halben Jahr. Auf dem Boden lagen viele abgefallene Blätter. Unter die Blätter mischten sich Bagassen, Süßkartoffelschalen und zerrissenes Kartonpapier, nur kein Taschentuch. Die Besen der Straßenreiniger fegten hier mindestens 180-mal durch.

Wenn es auch nicht weggekehrt worden war, hätte es sich in so einer langen Zeit durch Sonne, Wind und Regen bestimmt zersetzt. Ich unternahm mehr als zehn Rundgänge und bekam nicht einmal einen Stoffrest zu Gesicht. Stattdessen trat ich unter dem Baum häufiger in Tierkot. Die Passanten, die an mir vorbei liefen, deckten sich wie Weiherchen die Nase zu. Wahrscheinlich wollte Weiherchen gar nicht meinen Geruch riechen. Aber wenn nicht, warum musste sie vor meinen Augen das Taschentuch wegwerfen. Dafür hatte sie tausendmal Gelegenheit. Warum musste das vor meinen Augen passieren?

Je mehr Erinnerungen, desto mehr schlug ich auf meine Oberschenkel und hasste es, mich selbst nicht töten zu können. Was für eine gute Gelegenheit mir Weiherchen gab, die ich aber nicht ergriff! Ich war unter dem Himmel der größte Idiot. Wie schön wäre es, das noch retten zu können! Am Abend begann ich mit einem Versuch.

Weiherchen:

Guten Tag! Gefällt Dir der Kreis Himmelsfreude? Hast Du den Berg vom Fünf-Farben-See erklommen? Wie sieht Dein Leben auf dem Lande aus? Kannst Du die Landarbeit verkraften? Hast Du geweint? Hast Du Heimweh? Hasst Du mich? Erst jetzt verstehe ich: Ich hätte Dich nicht mit “Schlampe” beschimpfen sollen. Ich bitte Dich um Entschuldigung!

Ich wünsche mir, daß Du mir verzeihst. Ich betrachtete die ganze Zeit den Kontakt zwischen Mann und Frau als eine “liederliche Handlung”. Mein Klassenlehrer “Kopflos” lehrte uns das. Schuldirektor Tausendjahr lehrte uns auch so, dazu noch die Erziehung durch meine Mutter. Das war kein Wunder, daß ich Dich mit “schurkischer Handlung” beschimpfte. Als ich neu im Zoo war, schlug ich öfters den schurkischen Affenmann. Ich bekam einen Denkzettel vom Direktor He. Wenn die Zeugungsfähigkeit der Äffin sinken würde, bekäme ich einen Abzug meines Lohnes. Was ein Affe mit Fug und Recht treiben kann, darf ein Mensch nicht; und warum? Stand denn in Büchern nicht geschrieben, “daß die Menschheit ein hochrangiges Tier ist”? Wenn die Menschheit auch als solches gilt, soll sie auch das Recht eines Tieres haben. Aber die Menschheit ist wahrscheinlich doch nicht ganz wie ein Tier. Sie soll erhabene Wertgefühle haben und sich nicht wie ein primitives Tier benehmen. Deshalb hat man eine in der Gesellschaft anerkannte Methode gewählt, das heißt, man ist zuerst gleich gesinnt, verliebt sich, alles wird abgesprochen, ist einverstanden und dann...