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„Aber Mutter hat doch sicher einen Teller Fleisch für dich zubereitet. Warum hast du das vergessen? Warum hast du gemacht, daß sie weg geht?“

„Du weißt einen Furz! Deine Mutter hat mir zehn Jahre kein Fleisch zum Essen gegeben. Du kannst sie fragen. Wie hätte ich derart handeln können, hätte sie mir nur ein kleines bisschen Ölblümchen gegeben? Du bist noch kein Mann. Das verstehst du nicht. Ohne das würde kein Mann weiterleben.“

„Was hast du mir gesagt, als du verletzt warst? Du hast deine eigenen Worte vor die Hunde geschmissen!“

Mein Vater seufzte: „Du wirst das eines Tages verstehen können.“ „Auch im Alter von hundert Jahren werde ich das nicht verstehen können. Du bist gemein!“

11

Wenn damals die Fotoalben meiner Familie übereinander gestapelt wurden, machte das etwa einen halben Meter aus. Meine Mutter nahm die zwei für sie wichtigsten mit. Ich durchstöberte alle Fotos und suchte die Gruppenaufnahmen mit meinem Vater heraus und schnitt sein Porträt mit der Schere weg. Die meisten Fotos waren schwarzweiß. Nur die besonders Guten waren in Farbe. Einige davon waren nur drei Finger breit und die Gesichter nicht größer als Sojabohnen. Auf manchen Fotos rückten die Fotografierten eng zusammen. Um meinen Vater auszuschneiden, musste ich oft entweder die Schulter meiner Mutter oder die von mir entfernen. Das Ausschneiden von meinem Vater, der mich als Baby auf den Armen trug, war nicht weniger schwierig als eine Schulprüfung. Der Schnitt musste dem Umriss meines Vaters entsprechen, um ihn optisch zu entfernen. Auf dem Foto blieben nur noch die beiden mich haltenden Hände zurück, bei deren Anblick ich Gänsehaut bekam. Ich musste auch diese entfernen. Also schabte ich sie mit Klinge ab, bis sie nicht mehr zu erkennen waren.

Nachdem ich all das erledigt hatte, fühlte ich mich innerlich nur wenig entspannt. Denn, eigentlich war da immer noch ein Gedanke. Ich hasste es, nicht alle seine inneren Organe heraus nehmen zu können, um sie auch sauber zu waschen. Ich würde die Seifen zehn Mal, zwanzig Mal benutzen und sie danach wieder zurücklegen. Ich verachtete ihn und beabsichtige daher konkrete Maßnahmen zu ergreifen, nämlich, keine Hausarbeit zu erledigen. Ich schlug stattdessen meine Beine übereinander und las die Zeitungen, die er nach Hause brachte. Während meines Lesens kam er mit gesenktem Kopf ins Zimmer, legte die neue Ausgabe vor mich hin und ging sofort wieder, ohne was zu sagen, um in der Küche etwas zu kochen. Während ich jedes Schriftzeichen und jeden Artikel bis zu Ende las, hörte ich, daß er in einem unterwürfigen Ton fragte: „Kannst du jetzt essen kommen?“ Ich legte die Zeitung weg, setzte mich an den Tisch und fing an mit ihm zu speisen, ohne aufzublicken, ohne mit ihm ein Wort zu wechseln. Seine Augen guckten mich ständig an, in der Hoffnung, daß ich etwas sagen würde. Aber durch mein Verhalten zeigte ich, daß ich nicht sprechen wollte. In der Zeitung stand klar geschrieben: Gegen schlechte Menschen soll man sich wie ein strenger Winter kalt und frostig verhalten. Ein Lump muss links liegen gelassen und verachtet werden.

Mein Vater wurde als Jungherr geboren. Wie konnte er solch eine Antipathie ertragen? Es hatte nicht lange gedauert, bis er die Initiative ergriff, mit mir zu reden: „Guang-xian, du brauchst mir keinen kalten Blick zuzuwerfen. Du weißt doch, ich könnte mit meiner Identität in der Alten Gesellschaft vier oder fünf Frauen heiraten. Wie hätte ich mit einer Frau wie Bergfluss nicht schlafen sollen? Deine Mutter konnte das nicht begreifen, weil sie mit mir nicht von gleichem Blut ist. Aber du stammst von mir ab und bist mein leiblicher Sohn. Kannst du das denn nicht verstehen und für mich Verständnis empfinden?“ Aus seiner Art zu sprechen begriff ich, daß er seinen finsteren Plan, mit Bergfluss den Kontakt aufrecht zu erhalten, nicht aufgeben wollte. Woher aber konnte er wissen, daß der vor ihm sitzende Zeng Guang-xian nicht mehr der Alte war. Dieser Zeng Guang-xian hatte nicht umsonst so viele Zeitungen gelesen. Er verstand bereits, seinen Kopf mit den darin vermittelten Theorien zu füllen und für sein Handeln zu benutzen.

Eines Abends fiel aus dem Hosengürtel meines Vaters unerwartet ein Buch, das von Altzeitungen umgewickelt war. Die Buchseiten fielen mit einem Krach weit auseinander. Es zeigte sich dabei der blanke Po einer Frau, und sogar farbig. Ich war wegen der hässlichen Darstellung völlig konsterniert. Mein Vater bückte sich, las das Buch auf, klopfte dagegen und steckte es erneut hinter den Gürtel. Mit dem Buch am Gürtel stand er am Wasserbecken, wusch Schüsseln und schaukelte sacht mit dem Oberkörper. An seinem T-Shirt zeigten sich einige Löcher. Er hatte lange graumelierte Haare und besonders die weißen stachen mir in die Augen. Sein fleißiges Tun und seine ärmliche Rückenansicht bewegten zwar mein Herz, aber dennoch konnte ich mich nicht von dem Verdacht befreien, er könnte darauf verfallen, Frauen zu belästigen oder sogar Notzucht betreiben. Wie war dem abzuhelfen? Wie könnte ich mit einer solcher Schmach und Schande fertig werden?

Du würdest heutzutage dies als Prahlerei bewerten, wenn ich das so erzähle. Ich kann dir aber versichern, daß ich nicht lüge. Ich war politisch frühreif, ganz anders als die jetzige junge Generation, die sich kein bisschen um Politik kümmert und keine Zukunft vor sich sieht. Mir war noch nie aufgefallen, daß Tausendjahr jemanden hoch einschätzte. Sogar während des Pinkelns richteten sich seine beiden Nasenhöhlen nach dem Himmel. Er senkte selten seinen Kopf, um jemand anzuschauen. Aber mich bewunderte er, weil ich ihn seinerzeit aufsuchte, um meinen Vater zu retten.

Er meinte: „Verurteilung hin, Verurteilung her, es geht bloß um das Miststück Bergfluss. Keiner hat ein Interesse mehr daran.“

„Es gibt aber in der Tat noch einige unerwähnte Sachen zur Klarstellung.“

Er hob seinen Kopf und guckte mich zum ersten Mal aufmerksam an.

„Wie Onkel Zhao führte er eine Heirat mit drei, vier Frauen ständig im Mund. War das ein Überbleibsel der feudalistischen Gedanken? Er dachte, die Familie Zhao sei früher seine Dienerschaft gewesen. Deshalb war das von ihm eine Ehre für die Zhaos, mit Bergfluss ins Bett zu gehen. Ist das eine bürgerliche Überlegenheitstheorie?“ Tausendjahr schnalzte mit der Zunge, als ob ihm ein guter Wein geschmeckt hätte. Ich sagte weiter: „Darüber hinaus las er ein Pornobuch, das hundertmal dekadenter ist als Hundepaarung.“

Ich bemerkte, daß seine Bewunderung ähnlich wie Wasser aus seinen Augen floss. Er klopfte mir auf den Kopf: „Du bist verdammt noch einmal ein geborener Politiker!“

Auf Grund meiner Informationen durchsuchten dann die Rotgardisten unser Haus und holten meinen Vater mitsamt dem Buch ab. Zwei Großgewachsene fesselten die Arme meines Vaters im Gefolge von weiteren Gardisten. Eine Menge grüner Anzüge umringte meinen Vater. Er versuchte sich zu wehren, sein Körper schoss mal in die Höhe, mal sank er wieder und zum Schluss wurde sein Kopf in die Tiefe gedrückt, wobei sein Gesäß in die Luft gehoben wurde. Sie steckten ihn in einen Wagen. Als der Wagen anfuhr, reckte er seinen Kopf durch sieben, acht Hände, warf sich gegen die Lehne und schrie aus vollem Hals: „Guang-xian, Vater kann nicht mehr für dich kochen. Die Getreidemarken liegen unter der Bambusmatte, das Geld ist unter den Steinen neben dem Schrank. Bleibe am Abend zu Hause. Benutze einen Türriegel mehr als sonst. Geh schlafen bei Hunderthaus, wenn du Angst hast. Komme ich nicht zurück, dann suche deine Mutter auf. Sage ihr, sie soll mich nicht hassen. Hast du gehört, Guang-xian...?“ Mit der Entfernung des Wagens wurde seine Stimme immer kleiner und zum Schluss zu einem schmerzlichen Schrei.

Ich wollte eigentlich nicht weinen, aber die Tränen quollen mir aus den Augen. Ich sah nicht aus wie ein standhafter Mensch. Tausendjahr verabschiedete sich als Letzter. Bevor er in einen Jeep einstieg, klopfte er mir auf den Kopf: „Alle Revolutionen bedürfen der Opfer. Es gab viele bedeutende Persönlichkeiten, die dafür ihren Nächsten opferten.“ Anschließend fuhr er stolz mit dem Wagen davon. Ich war der Meinung, alles war gut so. Auch wenn er Leid ertragen musste, lohnte es sich, wenn sie seine unzüchtigen Angewohnheiten wie meine verschriebenen Schriftzeichen ausradieren konnten.

Einige Tage später brachte der Jeep meinen Vater zurück. Im Wagen waren knapp vier, fünf Rotgardisten. Sie öffneten die Schutzbretter und traten ihm in den Hintern. Er stürzte vom Wagen zu Boden und schlug mit den Zähnen auf die Erde. Onkel Yu und Onkel Zhao halfen ihm beim Aufstehen. Seine Mundwinkel, Wangen, Arme und Brust waren überall mit Blutstriemen bedeckt, als hätte man ihn mit Lederriemen geschlagen. Sie halfen ihm ins Lagerhaus, er ging mit wackligen Beinen. Mein Vater spuckte viel Blut aus dem Mund, und im Blut sah man einen gebrochenen Zahn. Er sagte: „Wegen eines Buches aus Hongkong beschuldigten sie mich als Staatsverräter, als einen Geheimagenten. Sie wissen nicht, daß in Hongkong solche Bücher öffentlich zu kaufen sind. Weder haben sie Kunst studiert, noch verstehen sie, daß auch der Menschenkörper eine Ästhetik hat. Sie sind dümmer als Tiere!“

Am Abend lag er im Bett und seufzte. Das einzelne Stöhnen klang eines nach dem anderen immer länger. Schließlich ließ er mich das Licht ausschalten und sagte leise: „Wenn sie mich weiter quälen, will ich nicht mehr leben.“ Er sagte das wie damals meine Mutter. Sie wollte auch nicht mehr leben. Sie beide sagten das wie in einem „Wettkampf.“ Wer das am häufigsten betont, der ist der Champion. Ich gab keinen Laut von mir.

Plötzlich sagte er: „Guang-xian, komm her.“ Ich rührte mich nicht. „Du kommst hierher, ich habe dir etwas zu sagen. Mein größtes Missgeschick des Lebens liegt an Frauen. Ich hoffe, daß dir das nicht passiert. Ich bringe dir eine Methode bei, mit der du das ganze Leben ohne Frau aushalten kannst. Mir ist das zu spät eingefallen. Sonst hätte ich nicht so eine Tracht Prügel verdient. Ursprünglich wollte ich dir das nicht verraten. Die heutige Situation ist sehr kompliziert geworden. Dein Vater kann jeden Moment sterben. Ich habe Angst, dann keine Gelegenheit mehr zu haben, um dir das mitzuteilen. Komm näher und hör zu.“ Er dämpfte seine Stimme noch leiser, „wenn du tatsächlich an Frauen denkst und keinen Fehler machen willst, so kannst du dir selber mit der Hand helfen, verstehst du? Du reibst damit hin und her. Das ist allein dein Körper. Auch wenn du dich selbst damit kaputt machst, weiß das keiner in der Welt, solang du es nicht weitersagst. Ich habe immer geglaubt, daß man nur mit einer Frau erst ein vollständiger Mann ist. Heute ist mir endlich ein Licht aufgegangen. Mein Himmel! Wozu sind die Frauen geschaffen worden, wenn Du willst, daß wir das selbst erledigen sollen...“

 

Entgegen meiner Erwartung besaß mein Vater nach wie vor einen Kopf voll Schmutz. Ich drehte mich um, lief aus dem Haus und schlug die Tür hinter mir so stark zu, daß es lauter war als ein Gewehrschuss.

12

Was war es, was ich damals am meisten hasste? Das war ein Verbrecher, so einer wie mein Vater. Deshalb war ich so gelassen und standhaft, als mein Vater durch eine Gruppe Rotgardisten deportiert wurde. Ich ging sogar nicht einmal aus dem Haus. Nachdem sich draußen die störenden Geräusche abebbten und der Motorlärm unsere Ohren verließ, sang ich überraschenderweise mit heller Stimme: „Rote Blüten blühen auf roten Felsen, tausend Li Frost unter den Füßen, die kälteste Periode des Winters ist nicht zu fürchten, ein rotes Herz sehnt sich nach der Sonne, nach der Sonne...“ Während des Singens platzte eine Fensterscheibe. Anfangs glaubte ich, daß meine Stimme das verursacht hätte, sah aber sofort, daß ein Stein hereingeflogen war und daraufhin noch ein anderer Stein durch das andere Fenster flog. Ich wusste, daß Hunderthaus Yu und Helllicht Rong mit ihren Katapulten geschossen hatten. Die zwei Steine waren Ausdruck ihrer Verachtung. Ich hatte aber nicht deswegen aufgehört zu singen. Ich stand auf dem alten Platz und sang das Lied erregt zu Ende. Feiner Schweiß stand mir auf der Stirn, als hätte mir das Lied Wärme gegeben. Es war aber eiskalter Winter. Ohne festen Willen durchzuhalten wäre ich nicht ins Schwitzen geraten.

Am nächsten Morgen kamen zwei Lastkraftwagen herangefahren und hielten vor unserem Haus. Eine Menschengruppe sprang aus dem Wagen. Sie luden jeweils den Hausrat der Familie Zhao und der Familie Yu auf den Wagen. Onkel Yu lief mit Zahnbürste und Schaum im Mund im Haus heraus und brüllte: „Soll´s heißen, daß ihr unser Vermögen konfisziert?“ Der Leiter der Gruppe behauptete lediglich: „Das Lager wird eine andere Rolle spielen. Ihr müsst alle umziehen.“

Onkel Yu spuckte den Schaum und die Bürste auf den Boden. „Wie kann man so einen Abtransport anfangen, ohne vorher Bescheid zu geben?“ Der Leiter schimpfte: „Hör auf mit deinem Geschwätz! Willst du einen Spitzhut und eine Verurteilung?“ Diese Gruppe stiftete große Unruhe und bestürmte das Schlafzimmer der Familie Yu. Tante Fang-bo schrie vor Schreck laut auf und Onkel Yu zeterte: „Auch wenn ihr den Umzug macht, darf es nicht so eilig passieren. Lasst meine Frau sich mindestens zuerst anziehen.“ Der Leiter brauste auf: „Ihr seid verdammte Stinkkapitalisten und wisst wirklich das Leben zu genießen. Die Sonne bescheint schon euren Po und ihr seid immer noch unbekleidet!“

Onkel Zhao lag auf der Schwelle zur eigenen Wohnung und behinderte den Umzug. Die Leute schritten über seinen Körper hinweg rein und raus, mit Holzkisten, Bettgestellen und Bettwäsche sowie Hausgeräte in Händen. Onkel Zhao wurde gar nicht beachtet. Nur an der Schwelle machten sie einen großen Schritt. Über dem Kopf Onkel Zhaos bewegten sich lauter Hosenböden hin und her. Er sah endlich ein, überschritten zu werden, ohne sie aufhalten zu können. Was für ein großer Schaden wurde ihm zugefügt. So stand er mit einem Ruck auf und schrie laut: „Aufhören mit eurem Unsinn! Ich bin der Vater vom Schuldirektor.“ Manche lachten: „Gerade Direktor Zhao hat uns geschickt!“

Nachdem der gesamte Hausrat ausgeräumt war, hielt sich Onkel Zhao am Türrahmen fest und wollte nicht gehen. Einige junge Leute hoben ihn einfach hoch und trugen ihn wie ein Stück Möbel nach draußen. Wie ein Hahn vor dem Tod focht Onkel Zhao in ihren Händen seinen letzten Verzweiflungskampf aus und schimpfte:

„Tausendjahr Zhao, du bist ein Hurensohn! Ich habe hier mein halbes Leben verbracht! Wohin willst du mich deportieren? Du sollst mich lieber töten als fortschaffen. Lasst mich lieber hier im Haus sterben. Du weißt, nur hier im Haus, kann ich mich wohl fühlen, sonst nirgendwo, auch nicht in Peking in der Verbotenen Stadt. Du zum Teufel wirst eines Tages vom Himmel bestraft...“ Mit Schimpfen kam er auf mich zu und wurde plötzlich ruhig, seine Augen waren so groß wie die Öffnung eines Wasserglases, und starrte mich lange an. Dann machte er einen hässlichen Ausspruch: „Dein Scheißmund ist an allem schuld!“

Nicht nur Aufrichtig Zhao, sondern auch Zierapfel Fang und Hellhübsch Chen spuckten mich an, als sie mich verließen. Sie machten ein finsteres Gesicht, als wäre man ihnen Geld schuldig. Sie spuckten ihren Speichel kräftig und zielgenau vor mich und beschmutzten teilweise meine Schuhe. Nur Hunderthaus kam noch nicht aus dem Lagerhaus. Ich glaubte nicht, daß er ebenso niederträchtig war wie die Erwachsenen. Aber hatten wir denn nicht miteinander Freundschaft, wenn es so wäre? Der Wagen hupte einige Male. Hunderthaus trug vor seiner Brust einen Haufen kaputter, verstaubter Schuhe und stand vor mir. Er bespuckte meine Hose und mein Gesicht. Er spuckte nicht nur einmal, er spuckte zweimal und sogar in mein Gesicht. Ich warf mich auf ihn, um seinen Hals zu würgen. Mit einem Faustschlag schleuderte er mich zu Boden. Wegen der Schlägerei verlor er seine alten Schuhe. Warum spuckte man auf einen Menschen, dessen Gedanken korrekt waren, der unschuldig war? Hatten denn die Zeitungen falsch berichtet?

Ich eilte in den Zoo zum Wohnheim meiner Mutter. Die Tür war angelehnt, heraus tönte eine Stimme: „Nein, nein, nein!“ Durch den Türspalt war zu sehen, daß der Zoodirektor dabei war, meine Mutter zu entkleiden. Die Hände meiner Mutter schoben die des Direktors weg. Beider Hände schoben sich hin und her, so daß es aussah, als ob sie einander irgendwelche wertvollen Sachen höflich überließen. Mit einem Fußtritt stieß ich die Tür auf und es wurde im Zimmer auf einmal hell. Direktor He hustete zweimal, ließ seine Hände zum Rücken pendeln und ging hinaus. Meine Mutter brachte ihre chaotischen Kleider wieder in Ordnung. Ihr Gesicht und Hals waren überall rot, so rot wie die Berge und Flüsse des ganzen Vaterlandes. Ich dachte an meine vor zwei Stunden erlittenen Demütigungen und spuckte in gleicher Weise vor ihr ununterbrochen ein paarmal aus, mehr als Hunderthaus und Seinesgleichen zusammen. Meine Mutter sagte: „Guang-xian, lass es mich erklären...“

„Ich will das nicht hören!“

„Eine schlimme Sache ist das, wirklich! Ich kann mich nie mehr sauber waschen, auch wenn ich in das Wasser vom Kehrtfluss springe. Du weißt, Mama ist nicht von der Art, wie du jetzt denkst. Er war es, der mich zwang, deinen Vater zu entlarven. Das wollte ich nicht. Er begann mich anzufassen und fummelte an mir herum. Du kannst dir vorstellen, wie könnte ich mir eine solche Schmach antun! Aber sie haben Macht und Einfluss. Ich traute mich nicht, ihn zu ohrfeigen. Ein bedrängter Hund beißt zurück. Eine widerliche Sache ist das, wirklich. Mutters erhabener Name ist fürs ganze Leben dadurch beschädigt...“ Während ihrer Erklärung verlor das rote Gesicht seine Farbe nicht.

„Mit unserem Lagerhaus ist was passiert.“

„Dein Kopf ist von Schweiß bedeckt. Ich kann mir schon vorstellen, daß etwas Unangenehmes passiert ist.

Ein gellendes Heulen kam vom Eisenkäfig herüber. Es lief mir wie ein kalter Schauer über Rücken. Meine Mutter hörte erneut mit ihrer Erklärung nicht auf. Auch im Bus fuhr sie damit fort. Der Bus fuhr durch die Ost-Eisenpferd-Straße. Als wir sahen, wie über unseren Dachziegeln Staubwolken Welle für Welle hoch stiegen, erstarrte ihr erklärender weit geöffneter Mund wie bei einem eingefrorenen Fisch. Die Bustür öffnete sich und sie sprang als erste aus dem Bus. Ich lief hinter ihr her zum Lagerhaus und kletterte ein Fenster hoch. Im Haus wirbelte undurchsichtiger Staub auf. Die jungen Rotgardisten schwangen gerade ihre Eisenhämmer, um unsere Ziegelwände zu zerstampfen. Die letzte Mauer stürzte mit lautem Krach zusammen und begrub unseren Hausrat. Es wirbelte nun immer mehr Staub in die Höhe und drehte sich wie eine Pilzhaube über dem Dach zum Himmel. Meine Mutter stürmte in das Haus, stürzte sich auf die Ziegelsteine und wühlte in ihnen. Durch das Graben bluteten ihre Finger, sie konnte nichts Wertvolles meiner Familie mehr finden. Nur ein Foto entdeckte sie, das genau in der Zeit gemacht wurde, als sie in das Haus einzog. Auf dem Foto stand geschrieben: „Fotografiert im Jahr 1950“. Sie kam mit dem Foto Schritt für Schritt aus dem Haus. Ihre Augen waren voll Tränen, ihre Finger mit Blut verschmiert und ihr Gesicht war voller Staub. Ihre normalerweise sauber gehaltene Kleidung war nun nicht mehr sauber. Sogar jetzt noch vergaß sie jene Geschehnisse mit dem Direktor nicht und bekräftigte: „Guang-xian, du musst deiner Mutter glauben. Mama wollte lieber sterben als so etwas Unverschämtes anzustellen!“

13

Ich hatte den festen Glauben, daß meine Mutter wirklich lieber vor Scham sterben würde. Diese Ansicht vertrete ich bis heute noch. Sie war in meinen Augen rein und unbefleckt, so perfekt wie ein sauberes weißes Stück Papier. Sie selbst hasste nicht nur Schurken allein, sie wollte, daß auch wir gleich ihr zusammen Schurken hassten. Nachdem sie uns dazu angeregt hatte, durfte sie uns in Folge nicht enttäuschen, indem sie sich halbwegs anders besann. Deshalb wollte sie keinesfalls, daß man sah, wie sie befummelt wurde. Was für ein Vorbild vor uns hatte sie zehn Jahre lang dargestellt? Es war eine Frau, die nie durch fremde Hände betatscht worden war. Aber jetzt ist es passiert. Es wäre absurd gewesen, wenn sie sich nicht geschämt hätte. Auch ich schämte mich für sie!

Nachdem meine Mutter am folgenden Mittag meine Schwester Blümchen verabschiedet hatte, nahm sie ein Stück Fleisch vom Zoo, um den Tiger mit dem Namen Orchidee zu füttern. Es befand sich am Rücken des Käfigs eine Tür, hinter der Tür war der Bereich von Orchidee. Es gab dort Bäume, künstliche Grottenanlagen, umgeben von hohen Zementmauern. Meine Mutter ließ Orchidee durch die Hintertür herein, schmiss ihm das Fleisch aber nicht hin, stattdessen opferte sie sich selbst für den Tiger. Auf diese Weise wurde ein Teil des Körpers meiner Mutter vom Tiger gefressen. Der unter Gefahr geborgene schwer verletzte Körper wurde dann sofort mit einem vom Betrieb gekauften weißen Tuch eingewickelt. Um das Tuch herum standen geschockt ihre Arbeitskollegen und Direktor He. Das Bild meiner Mutter mit ihrem geröteten Gesicht ging mir durch den Kopf, ein Bild, wie ich es in Erinnerung hatte, wie sie, völlig verstaubt das Foto aus den Steinen ausgrub. Und letztendlich nahm sie ihrem Leben ein Ende, das war meine feste Überzeugung, aus unüberwindbarer Scham. Daß sie gestorben war, wusste mein Vater nicht, er wusste auch nicht, daß Blümchen nirgendwo zu finden war. Jetzt befiel mich Angst, und ich fand jetzt erst heraus, in so einer großen Stadt keinen Verwandten zu haben, auf den ich mich verlassen konnte. Nicht nur in dieser großen Stadt, sondern auch auf dieser großen Erde, auf der ich keinen Vertrauten besaß.

Abends saß ich verlassen vor der Tür des ruinierten Lagers. Kalter Wind wehte um meine Nase und Ohren. Die Gerüche der Ziegel und des Zementes zogen vom Eingang zu mir herüber, sehr stark und sehr schwer. Allmählich verzogen sich diese neuen Gerüche. Stattdessen drängten sich die alten auf. Das war der Uringeruch Onkel Yus, sein Tabakgeruch, der Schweißgeruch meines Vaters und dazu das Parfüm meiner Mutter. Sie glichen Wasser, das in meine Nase eindrang. Ich bekam einen Hustenanfall. Nach Mitternacht ruhte die Straße, und in dieser Stille erinnerte ich mich an meinen Vater. Das gefiel mir nicht. Ich erinnerte mich an sein Fehlverhalten, in der Hoffnung, daß alles nur eingebildet gewesen wäre. Das lag mir auf dem Herzen, wie ein Eisenstück, dessen Gewicht mich schwer belastete. Auf eine schlimmere Weise sogar sagte mir ein verschwommenes Gefühl, irgendwie einen schrecklichen Schicksalsschlag erlitten zu haben und daß das Leben voller Lügen ist.

 

Am Tag darauf suchte ich Tausendjahr Zhao auf, um mich nach meinem Vater zu erkundigen. Tausendjahr antwortete: „Dein Vater ist im Augenblick sehr gefragt. Sogar ich selber weiß nicht, wo er ist. Diejenigen, die Ausbeuter verurteilen, suchen ihn; diejenigen, die Schurken verurteilen, suchen ihn, und diejenigen wollen die verurteilen, die keine Spur von Reue zeigen. Es sieht so aus, daß jedes Beispiel seines Verhaltens als ein lebendiger Lehrstoff genutzt werden kann. Gehe ihn suchen bei jenen großen Verurteilungsversammlungen, nicht allein bei unserer Fraktion, sondern auch bei den anderen Fraktionen, denen manchmal Verurteilungsobjekte fehlen. Sie könnten deinen Vater von uns ausgeliehen haben.“

Überall auf den Straßen wimmelte es von Menschen, die Einkäufe zum Jahresfest erledigten. Das Neujahr stand unmittelbar bevor. Aber ich verschränkte nur meine Arme und wanderte von einer Straße zur anderen, von einer Schule zur anderen, von einer Versammlung zur anderen. In der Drei-Bindungen-Straße sah ich, wie junge Rotgardisten einem Alten mit schneeweißen Haaren die Arme verrenkten. Es hatte den Anschein, als ob die Hände vom Rücken auswuchsen. Auf dem Schulsportplatz in der Pro-GewaltStraße erblickte ich einen an Händen und Hals gefesselten Mann im mittleren Alter, dessen Brille zerschlagen wurde. Die Glassplitter stachen ihm in die Augen. Blut quoll aus den Wunden. In der Gasse der Eisen-Pferd-Straße konnte ich feststellen, daß durch die jungen Kämpfer einer Schar schlechter Elemente die Kleidung abgerissen wurde, die mit allen vier Gliedern gegen den Himmel gerichtet, auf eiskalten Steinplatten lagen. Ich bekam so viele Szenen zu sehen, die ich mir so nicht vorstellen konnte. Meinen Vater konnte ich allerdings nirgendwo finden. Es fing bald zu schneien an und ich konnte meinen Vater noch immer nicht zu Gesicht bekommen. Habe ich ihn vielleicht an irgendeinem Ort verpasst? Oder war er wahrscheinlich schon gestorben? Der Gedanke war mir sehr unangenehm. In der Nacht schlief ich in der Dachstube des Lagers, tags saß ich vor dem Eingang des Hauses. Onkel Zhao lud mich in sein neues Zuhause ein, was ich ablehnte. Auch Onkel Yu wollte mich einladen, dort war ich ebenfalls nicht hingegangen. Ich erklärte ihnen: „Ich warte hier, bis mein Vater zurückkommt.“ Ich hoffte, daß er am Neujahrstag zurückkommen würde. Sollte er dann nicht wieder da sein, konnte er nirgendwo hingegangen sein. Er wäre wohl gestorben.

Tag für Tag, es wurde immer kälter, wartete ich auf Silvester. Es roch überall nach geschmorten Schweineknochen. Es begann zu schneien. Nicht einmal ein halber Tag war vergangen, bis Hausdächer und Straßen mit dickem Schnee bedeckt waren. Selten waren Passanten zu sehen. Fahrzeuge rutschten. Der Schnee drückte die Baumzweige langsam in die Tiefe. Ein halber Mensch kroch wie ein Hund auf der Straße und hinterließ zwei tiefe Spuren. Ich schrie laut: „Pa!“ und lief auf ihn zu. Er tat so, als hätte er nichts gehört und kroch mit gesenktem Kopf weiter. Ich fiel auf die Knie, um ihm aufzuhelfen. Er schob mich weg: „Lass mich! Du Bastard!“ Ich erschrak. Die Hälfte seiner Haare war weg; eine sogenannte „YinYang-Frisur“. Sein Gesicht war mit Blutkrusten bedeckt, an seinem Bart hingen einzelne Schneekristalle. An seinen Händen und beiden Knien formten sich Schneehaufen, wie vier aus Baumwolle angefertigte Stützen. Er kroch in Richtung Lagerhaus. Sein rechtes Bein wurde die ganze Zeit schlaff und bewegungslos hinterher gezogen. Gerade wegen des gebrochenen Beines war er zum Kriechen gezwungen. Ich schaute zurück, die beiden Spuren, lang und tief, schlängelten sich von seinem Unterleib bis zur Straßenbiegung. Sie waren auffälliger als Wagenspuren. Es schien, sein Körper wäre schwerer als ein Lkw.

Ich hockte mich wiederholt hin, um ihm zu helfen. Er schob mich mit noch mehr Kraft weg und brüllte mich an: „Fass mich nicht an, fass mich mein ganzes Leben nicht mehr an! Ich habe immer gedacht, jemand anderer hätte mich gemeldet und ich kann nicht glauben, daß du das getan hast! Du hast Tausendjahr sogar verraten, ich hätte dir Masturbation beigebracht. Bist du eigentlich sein Sohn oder mein Sohn? Hau ab, je weiter, desto besser! Komm nie mehr in meine Sichtweite.“ Mein Vater schimpfte und setzte sein Kriechen fort. Er konnte nicht wissen, noch zwanzig Meter, und er würde sehen, daß sein Zuhause für immer verschwunden war. Es waren drin nur heruntergerissene Ziegelsteine. Schlimmer noch, er wusste nicht, daß Blümchen verschollen und meine Mutter gestorben war. Er stellte sich vor, daß sein Bett, seine Kanne für gekochtes Wasser und sein Zuhause alles noch dort existierten. Ich wollte ihm das alles sagen, schlug mir wie gewöhnlich auf den Mund und schluckte die Worte wieder herunter. Bei dem Anblick, wie er Schritt für Schritt zum Lager kroch, konnte ich mich nicht beherrschen, in Schreie auszubrechen. Ich schrie und stieß meinen Kopf gegen den Schneeboden, schnell und kräftig, ich wollte in dem Augenblick lieber sterben, wenn ich nur könnte!

14

Entschuldigung, ich benehme mich ungehörig. Wenn ich dies alles erzähle, kann ich mich nicht beherrschen. Warum weinst du auch. Hier sind Taschentücher zum Abwischen. Du weinst, das heißt, du hast Sympathie für mich. Im Moment sind diejenigen, die wie du Sympathie haben, immer seltener anzutreffen. Ich mache kein Hehl daraus, daß sogar Hunderthaus und Helllicht mir nicht zuhören wollen. Sie laufen mir wie Schuldner aus dem Weg, in der Befürchtung, daß ich ihr Geschäft störe. Turbulenz Zhang hat noch mehr übertrieben. Sie hat sich beim Fernmeldeamt gemeldet, um Aufzeichnungen eingegangener Telefonie machen zu können und einen teuren Apparat mit Mehrfunktionen besorgt. Viele Funktionen sagen ihr nichts, sie kennt davon nur eine Funktion, nämlich zu den Nummern Musik einzuspeichern, um zu hören, wer gerade anruft. Wenn mein Anruf kommt, erklingt im Apparat die Musik „Jasmin“. Wenn diese Volksmusik erklingt, nimmt sie nicht ab. Manchmal hatte sie genug davon, dann wechselte sie zu Musik „Rotsee-Wellen“ oder „Gedenken an Kameraden“. Kurzum, sie hat in den letzten Jahren nicht wenig Volksmusik gehört. Die Zunahme ihres musikalischen Niveaus glich einem Hausbau, Stock um Stock in die Höhe. Ich habe auch direkt bei ihr zu Hause geklingelt, angeblich um das Kind zu besuchen. Das Kind sperrte hinter dem Türspalt und sagte mir kalt: „Mama läßt dir sagen, sie ist nicht zu Hause.“ Das war wie ein dicker Korb.

Oh, ich bin wieder vom Thema abgeschweift. Ich erzähle dir lieber über Weiherchen.