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Die Augenlieder meiner Mutter sprangen auf, sie betrachtete mich. Ich drehte mich um und schlug weiter auf meinen Mund. „Dummkopf! Auch wenn du deinen Mund bis zum Anschwellen schlagen würdest, würde das Parfüm nicht am Mund hängen bleiben.“ Sie öffnete das Fläschchen, strich mit dem Finger über die Öffnung und gab mir ziemlich verschwenderisch eine große Menge an meinen Hals. Meine klatschende Hand hörte nicht auf. Wie einer, der seinem Vorgesetzten Honig um den Mund schmieren wollte, erhöhte ich das Tempo. Sie brach in Gelächter aus. Sie lachte sehr leise und sehr würdig. „Ma, man betrügt dich.“ Kaum war das ausgesprochen worden, drückte ich mit der Hand meinen Mund zu, in der Befürchtung, daß noch mehr Worte heraussickerten. Ihre Augen vergrößerten sich mäßig: „Wer hat mich betrogen?“ „Das war Pa.“ Warum hatte ich meinen Mund nicht zudecken können.

„Hatte Vater denn keine Nachtschicht?“ „Ich meine das nicht.“

„Wie kann er mich noch betrogen haben?“

„Ich sah, daß er mit Bergfluss schlief. Er verbat mir, davon etwas zu erzählen.“

Meine Mutter war bestürzt. Sie setzte sich langsam hin: „Das ist also passiert. Das habe ich erwartet, entweder heute oder morgen, wenn nicht mit Bergfluss Zhao, dann mit Zierapfel Fang. Das war todsicher.“ Sie drehte die Parfümflasche fest zu und legte sie in die Holzkiste zurück, als ob diese Nachricht für sie kein besonderer Schlag wäre. Als sie mit ihrer ausgestreckten Hand die kleine Knopfschlinge an der Kiste schloss, bemerkte ich, daß ihre Hand zitterte. Trotz mehrmaligem Versuch schaffte sie das nicht.

Im Geheimen hatte ich mir selber nicht wenige Ohrfeigen verpasst. Als ich die Schritte meines Vaters im Haus hörte, fing mein Körper unwillkürlich an zu zittern. Mein Ohr begann vorab zu schmerzen, aus Furcht, daß die beiden wegen Bergfluss in eine Schlägerei geraten und sogar Wasserkannen, Spiegel, Gläser zerschlagen würden. Ich hatte bereits wiederholt auf dem Boden Scherben gesehen. Aber nach einem kurzen Augenblick war der Holzboden wieder sauber gewesen und nichts mehr zu sehen. Das war wie eine Täuschung gewesen. Unsere Familie konnte den Status quo ante bewahren, essen wie normal, schlafen wie immer, das alles hing von der Selbstbeherrschung meiner Mutter ab. Trotz eines so bestürzenden Ereignisses änderte sie all ihre Gewohnheiten nicht, wie zum Beispiel Sauberkeit zu lieben, fein zu zerkauen und langsam zu schlucken. Nur als sie den Tisch abwischte, war ihre Hand sichtlich langsamer geworden. Ab und zu hielt sie ein Wasserglas in der Hand und stand wie betäubt da.

Ich hasste es, nicht an meinem Mund einen Reißverschluss befestigen zu können und bemühte mich insgeheim, nie mehr über meinen Vater zu sprechen. Aber ich sprach gern mit Hunderthaus über alles. Wie eine Maus das Restfutter vom Vorabend nicht liegen ließ, konnte ein Trunkenbold eine halbe Flasche nicht aufbewahren. Hunderthaus war um zwei Jahre älter als ich. Sein Gesicht war wie durch ein Messer ausgeschnitten, mit Ecken und Kanten, sah noch standhafter aus als Revolutionäre, die trotz Folterbank und Chiliwasser kein Geständnis ablegen wollten. Nachdem ich ihm das erzählt hatte, bekam ich etwas Angst im Nachhinein. Ich ließ ihn schwören, niemandem davon weiter zu sagen. Er hob als Garantie seine Hand zum Schwur. „Soll ich das verraten, möge mein Mund verderben.“ Einige ruhige Tage waren verstrichen, bis er sich nicht mehr beherrschen konnte und offenbarte das seinen Eltern. Sein Vater schimpfte: „Halt das Maul! Gott sei Dank, daß das unsere Familie nichts angeht!“

Der Verrat von Hunderthaus war wie ein Schlag auf meinen Kopf. Ich biss meine Zähne zusammen und sagte es seitdem keinem mehr weiter, weder zu Hellhübsch Chen, noch zu Zierapfel Fang, obwohl sie sehr gerne meiner Erzählung zuhören würden. Eines Tages kam Tausendjahr zurück, klopfte auf meinen Kopf und lachte: „Den Liebesbrief hat nicht dein Vater geschrieben. Ich habe das bereits fachlich begutachten lassen.“

„Sie schlafen übrigens schon lange zusammen, was soll da noch ein Liebesbrief bedeuten.“

„Was sagst du da? Sage das noch einmal.“

Tausendjahr hielt mich fest. Ich befreite mich aus seinen Händen und lief zur Straße. Während des Laufens schlug ich mir selber auf meinen Mund, fester und genauer denn je.

8

Dreimal hatte ich über den Skandal meines Vaters gesprochen. Die ersten zwei Male hatten keine Folgen. Deshalb betete ich insgeheim zum Himmel. „Lassen wir Tausendjahr für alle Fälle in Ruhe. Veranlassen wir ihn nicht zu einem Streit mit meinem Vater.“ Im Lagerhaus herrschte tatsächlich ein echter Frieden, bis auf die Tatsache, daß sich Onkel Zhaos Husten verschlimmerte. Musste man essen, aß man, sollte man schlafen, schlief man. Man ging nach wie vor zur Arbeit. Alles war wie immer.

Mittwochvormittag hielt mich meine Mutter an und sagte mir: „Guang-xian, geh heute nicht zur Schule. Begleite mich in die Fabrik deines Vaters.“

„Um zu sehen, wie er Überstunden macht?“

„Er kommt seit drei Tagen nicht mehr nach Hause. Findest du das nicht ungewöhnlich?“

Ich folgte meiner Mutter in die Werkstatt der Lautsprecherfabrik. Die Arbeiter fragten uns, warum wir erst jetzt kämen. Vor zwei Tagen war Lang-wind durch Rotgardisten abgeführt worden. Sofort schlug ich mir auf den Mund. Die Blicke meiner Mutter stachen wie Eisennägel in mein Fleisch und hielten mich für ein paar Sekunden fest: „Das musste die Tat von Tausendjahr gewesen sein. Hast du ihm schon etwas erzählt?“ Ihre Blicke erschreckten mich dermaßen, daß ich mich umdrehte, um weg zu laufen. Meine Mutter verfolgte mich. Nach den schweren Schritten hinter mir zu urteilen, merkte ich, wie verärgert meine Mutter war. Das war kein normales Ärgernis. Ich lief über den Sportplatz, ihr Schatten vor mir wurde immer länger und drohte mich jeden Augenblick zu überholen. Ich drehte schnell ab und versteckte mich in der Männertoilette nebenan. Ich vernahm, daß meine Mutter außer Atmen war. Sie schrie: „Zeng Guang-xian, komm da raus!“

Nach einer Pause ließ sich die Stimme meiner Mutter wieder hören: „Weißt du, welche Folgen das haben kann? Wahrscheinlich wird unsere ganze Familie verurteilt werden. Deine Mutter kann dadurch verwitwet werden. Du bist ein Scheißkerl! Was hast du denn sonst noch wem alles erzählen können? Warum hast du das gerade Tausendjahr erzählt? Glaubst du, deiner Familie wird jetzt eine Verdiensturkunde erteilt werden? Heraus mit dir! Warte ab, ich zerreiße dir das Maul!“

Das hatte mich tief ins Herz getroffen und ich brach in Weinen aus. Meine Stimme schluchzte schmerzlich und ich kam zur Erkenntnis, daß mein plappernder Mund zerrissen werden musste. Anders wäre mein Selbsthass im Herzen nicht zu besänftigen. Und das könnte weitere Probleme mit sich bringen. Draußen hatten die Menschen einen Kreis gebildet. Vor ihnen stand meine Mutter. Ich verließ die Toilette. Mit einem sachten Kneifen an meinen Lippen umarmte sie mich. Ihre Tränen rollten über die Wangen und bedeckten fast ihr ganzes Gesicht. Eigentlich sollte sie sich das Gesicht abwischen. Das hat sie nicht getan, da ihre Arme mich umarmten. Sie hielt mich so fest, daß ich kaum atmen konnte. Je fester sie mich drückte, desto dringender wollte ich meinen Mund zerreißen. Ich war schon kurz davor, es zu versuchen.

Wir kamen zu dem Eingang der Fünften Schule und meine Mutter sagte mir: „Ich will Tausendjahr nicht sehen. Du hast das alles verursacht, also verlangst du, daß dein Vater durch ihn freigelassen wird.“ Mit Ach und Krach lief ich in die Schule und sah von weitem den beweglichen Schatten von Tausendjahr im Büro. Ich lief zur Tür und schrie: „Melde!“ Er sah sich um: „Warum bist du so verschwitzt? Komm herein und wisch dich ab.“ Ich trat näher zu ihm; er gab mir ein Frottiertuch.

„Wo ist mein Vater?“

„Warum ist deine Mutter nicht persönlich gekommen?“ Ich schaute mich um.

„Steht deine Mutter schon vor der Tür?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Ich weiß, daß deine Mutter mit mir Ärger hat, sie hat immer noch eine kleinbürgerliche arrogante Haltung. Aber wie ist es möglich, daß sie nicht kommt, wenn so etwas Wichtiges passiert? Du musst aber wissen, daß manche Sachen ein anderer nicht vertreten kann, so wie ein Mann eine Frau nicht ersetzen kann. Wenn deine Mutter das mit mir privat erledigen will, bin ich nicht dagegen. Sollte sie das nicht wollen, dann müsste dein Vater einige Male Unangenehmes ertragen. Wir können nicht nur der Familie Zhao zumuten, allein die Verantwortung zu übernehmen. Eure Familie Zeng soll auch ihren Standpunkt klar machen. Geh und hole deine Mutter hierher! Ich will mit ihr reden.“

Ohne mit mir zu diskutieren, schob er mich nach draußen. Ich lief auf das Schultor zu und bereute, mich vorhin umgeschaut zu haben. Meine Mutter kam mir entgegen. „Wie ist das denn mit Vater?“

„Der Onkel wollte mit dir persönlich sprechen.“ „Woher konnte er wissen, daß ich hier bin.“

„Ich habe mich immer nach dir umgeschaut. Daher weiß er es!“ Meine Mutter machte sich extreme Sorgen. „Was für eine schlimme Sache das ist, wirklich! Darf man sich nicht umschauen? Warum hast du dich umgeschaut? Sage ihm, ich bin schon gegangen. Du lässt dich zu deinem Vater bringen.“ Meine Mutter schob mich wieder hin zur Schule. Mit der Erfahrung von vorher lief ich diesmal nicht und ohne zurück zu blicken. Absichtlich ging ich langsam, um den überhitzten Kopf abkühlen zu lassen. Ich wollte mich vor Tausendjahr nicht wieder versprechen und versuchen, überflüssige Bewegungen zu vermeiden.

Tausendjahr reckte seinen Hals aus dem Fenster: „Wollte mich deine Mutter nicht sehen?“

„Sie ist gegangen.“

„Dann kannst nur du deinen Vater retten.“ „Was ist los mit meinem Vater?“

„Er ist uneinsichtig und stur. Er wollte die Vergewaltigung an Bergfluss nicht eingestehen. Du selbst brauchst bloß das zu gestehen, was du an jenem Tag gesehen hast. Dein Vater sollte danach ehrlich seine Fehler einsehen. Auf diese Weise kann er sein wegen Engstirnigkeit verdorbenes Schicksal vermeiden.“

 

„An jenem Tag habe ich gar nichts gesehen.“

„Nicht lügen! Mit Lügen kannst du deinem Vater nur schaden. Es kann dann zu einer strengen Verurteilung kommen. Wer unehrlich ist und sich wehrt, dem wird das rechte Bein gebrochen. Sollte er sich weiter wehren, wird ihm dann sein linkes Bein kaputt geschlagen. Sollte er sich, nachdem ihm die beiden Beine gebrochen worden sind, immer noch wehren, werden ihm dann die beiden Hände gebrochen werden, womit er in Zukunft nicht mal in der Lage ist, eine Schüssel zu heben. Du wünschst doch nicht, deinen Vater täglich zu füttern?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dann sagst du, was du gesehen hast.“

Er schloss das Fenster und zerrte mich ins Freie. Ich versuchte einiges Mal mich zu befreien, was nicht klappte. Es gelang mir, einen Baum vor dem Haus zu umklammern. Er zog an mir so kräftig, daß die Nahtstellen an Ärmel und Schulter platzten. Trotzdem hatte ich mich nicht vom Baum losgelassen. „Du Kleiner hast doch ein dickes Fell.“ Er gab sich extrem große Mühe, um mich wegzuziehen, so als wollte er meinen rechten Arm vom Körper reißen. Tränen schossen mir wegen der Schmerzen in die Augen. Ich weinte aber nicht. Ich versuchte, das durchzuhalten, auch wenn ich meine Zähne zusammenbeißen musste.

In diesem Moment kam ein O-beiniger hinter meiner Mutter her aus dem Haus. Der O-beinige war niemand anderer als der Vater von Tausendjahr, den ich bestens kannte. Er hob seine Pfeife und schlug damit auf den Kopf von Tausendjahr. Dieser wich aus: „Vater, hier ist die Schule. Man muss Manieren verlangen.“

„Warum sollte ein Vater vor dem Sohn Manieren beachten? Mach schnell, daß Guang-xians Vater frei kommt.“

„Er hat noch kein volles Geständnis abgelegt.“

„Was hat er zu gestehen? Soll er gestehen, mit deiner Schwester geschlafen zu haben? Du willst keinen Gesichtsverlust erleiden. Wäre das in der Alten Gesellschaft gewesen, hätte er beliebig mehrere Frauen heiraten können und du würdest ihn vielleicht Schwager nennen.“

„Kein Wunder, daß so etwas passierte! Das liegt daran, daß du ein Wirrkopf bist. Hätte ich dich nicht als Vater in Betracht gezogen, wärst du auch ein Begleiter in einer Verurteilungsversammlung!“

„Ich habe sogar keine Angst vor Sterben durch Hunger! Woher soll ich Angst haben vor einer Versammlung? Wann willst du ihn freilassen?“

„Das geht nicht mich allein an.“

„Aber was mich für alle Fälle angeht, du musst ihn frei lassen. Ansonst werde ich den Baum hier mit meinem Kopf zerstören.“

Das war kein kleiner Baum. Ich konnte ihn kaum umarmen. Sollte Onkel Zhao mit dem Kopf gegen ihn stoßen, würde bestimmt nicht der Baum brechen. Tausendjahr bemerkte, wie der Bart seines Vaters zitterte und dessen Hals dicker wurde. Das sah nicht nach einem Spaß aus. Er bekam Angst: „Ihr geht zuerst nach Hause. Morgen werde ich ihn freilassen.“ Der Vater hielt seine Pfeife in der Luft: „Sollte ich ihn morgen nicht sehen, dann bist du ein Hundesohn, ich bin dann nicht mehr dein Vater!“

9

In der nächsten Früh sah ich, als ich das Tor des Lagers aufmachte, daß vor mir eine Tragbahre auf dem Boden lag, auf der mein Vater schlief. Das Waschbecken in meinen Händen fiel vor Schreck zu Boden. Er hatte seine Augen fest geschlossen. Am unteren Kinnbereich wuchs ihm der Bart wie wilde Kräuter, an seinen Händen klebte viel Schmutz, seine Fäuste ballten sich. Drei Fingernägel steckten im blutigen Fleisch. Man würde die Fäuste nicht so fest ballen, wenn man nicht bis an seine Grenzen gequält wurde.

Wir trugen ihn ins Haus. An seinem Gesicht waren keine auffälligen Verletzungen zu sehen, auch nicht an Brust und Rücken, seine Beine und Hände waren noch ganz. Wie konnte er aber in den letzten Zügen liegen? Mit einem Becher Medizin in der Hand kam Onkel Zhao ins Haus: „Zieht seine Hose runter. Ich kenne mich gut aus, wo mein Sohn anpackt.“ Onkel Yu war dabei, die Hose auszuziehen. Mein Vater bewegte sich ein bisschen und sagte: „Nein!“ Meine Mutter wollte das tun. Er bewegte sich noch mehr: „Nein! Nein!“ sagte er. Onkel Zhao streckte seine Hände nach meinem Vater aus, der sich noch mehr wehrte. „Jungherr, du brauchst dich nicht zu schämen, ich habe gesehen, wie du aufgewachsen bist. Welche Stelle an deinem Körper habe ich nicht gesehen, nicht abgetastet? Deinen Körper kenne ich besser als du selbst.“ Mein Vater machte seinen Mund einige Male auf wie ein sterbender Fisch: „Ihr geht alle raus. Lasst Guang-xian mir Medizin auftragen. Wo ist Guang-xian? Wo ist mein Sohn?“ Ich habe ihn dermaßen verletzt, er wollte trotzdem mich allein dazu bestimmen, seine Hose auszuziehen. Es lag auf dem Tisch, was für ein großes Herz er hatte und wie kleinlich meines war.

Die Unerwünschten verschwanden nach und nach. Im Schlafzimmer blieben nur noch Onkel Zhao und ich. Mit zitternden Händen löste ich sein Hosenband und bemerkte, daß sein Penis am Hosenboden klebte, voll vom Blut verschmiert. Bei jeder meiner Handbewegungen runzelte er seine Stirn. Um ihm keine zu großen Schmerzen zuzufügen, bewegten sich meine Hände sehr sacht und möglichst langsam. Er hatte insgesamt dreiundzwanzig Mal gerunzelt, bis seine Hose richtig ausgezogen war. Onkel Zhao murmelte: „Welche Sünde!“ und strich die Medizin auf die Wunden. Nun sah ich deutlich, daß da unten die Stelle meines Vaters extrem stark geschwollen war. Die glänzende Oberfläche spiegelte den Medizinbecher und die wackelnde Hand Onkel Zhaos wider. Ohne es mit eigenen Augen gesehen zu haben, hätte ich mir nie vorstellen können, wie hässlich so eine Stelle aussah. Sie hatte ihre Ursprungsform verloren, sah jetzt rund aus, so rund wie eine Bleikugel, aber dann wieder nicht, denn sie wurde weich und schwoll ab infolge der Medizin aufstreichenden Hand Onkel Zhaos, bloß nicht in der Länge. Mir wurde eiskalt und ich zitterte schaudernd am ganzen Körper und knirschte ununterbrochen mit meinen Zähnen, als ob ich versuchte, alle meine zu Tausendjahr ausgesprochenen Worte zurücknehmen zu wollen.

„Guang-xian, Pa befindet sich nur noch in den letzten Zügen und kann wahrscheinlich nicht mehr länger leben. Ich bin schuldig vor euch, ich habe eure Ehre besudelt. Pa kann dir nichts hinterlassen als nur ein paar Worte..., in Zukunft darfst du alles tun, nur das nicht, was dein Pa getan hat. Zehn Jahre lang habe ich es ausgehalten, ohne zu wissen, daß ich es zum Schluss doch nicht schaffen würde. Guang-xian, hast du dir meine Worte gemerkt?“

„Ja!“

Onkel Zhao fing an laut zu weinen: „Jungherr, mach dir keine Sorgen. Diese Medizin ist ein Rezept von deinem Großvater, die beste Medizin gegen Verletzungen. In wenigen Tagen wirst du geheilt sein. Ich wusste, daß mein Bastard grausam ist, aber daß er so brutal ist, habe ich nicht gewusst!“

Mein Vater tat so, als hätte er alles gesagt, was er sagen wollte. Er schloss nun den Mund fest zu. Wäre mein Mund so fest zugemacht gewesen, hätte ich uns nicht diese Probleme bereitet. Ich biss meine Zähne zusammen und nahm mir insgeheim vor: In Zukunft werde ich nie mit einer Frau schlafen, auch wenn man mich mit einem Gewehr dazu zwingt. Lieber möchte ich sterben. Das schreckliche Beispiel mit meinem Vater ließ mich gründlich verstehen, wieviel Schmerzen man in dem Fall ertragen muss, indem man mit einer Frau ins Bett geht, die keine Ehefrau ist. Im schlimmsten Fall kann man nicht mehr pinkeln. Was nutzt es einem Menschen, Kommandeur zu sein, wenn er nicht mehr urinieren kann? Auf diese Weise habe ich einige Tage philosophiert. Meine Überlegungen, wie oben erwähnt, wurden mehr und mehr unverbrüchlich, so hart wie Stahlbeton.

Nach diesem Ereignis erlitt meine Mutter eine schwere Blinddarmentzündung. Sie lag im Bett des Krankenhauses und genoss die Vorteile wie diejenigen, die große Leistungen überstanden hatten. Eines Tages fütterte ich sie zum Abendessen. Eigentlich konnte sie auch selber essen. Ich wollte damit meine Fürsorge zum Ausdruck bringen. Nach einigen Bissen sagte sie: „Guang-xian, diese Welt ist ein Chaos. Ich bin völlig verärgert. Ich habe keine Lust mehr zu leben.“ Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, drückte sie sich den Mund zu, sah mich mit einer gewissen Ernsthaftigkeit an und meinte: „Du wirst das aber nicht weitererzählen, was deine Mutter eben gesagt hat?“

„Nein. Im schlimmsten Fall werde ich das höchstens Papa erzählen und wenn er das erfährt, wird er nicht zulassen, daß du nicht mehr leben willst.“

Sie machte einen bösen Gesichtsausdruck und hob plötzlich ihre Stimme: „Wovor ich mich fürchte, ist dein Dreckmaul. Weißt du, manche Sachen kann man nicht mehr zurücknehmen, sobald man diese weiter gesagt hat. Und auch kann man nicht dann sterben, wenn man sterben will.“ Sie schob die Decke weg, stand vom Bett auf und wollte mich hinausbegleiten. Dabei sah es gar nicht danach aus, das sie eine Blinddarmentzündung hatte.

Ich folgte ihr in die 6. Gasse der Drei-Bindungen-Straße. Wir gingen durch ein schattiges, feuchtes Tor hinein. Es war bereits ganz dunkel geworden und im Haus brannte kein Licht. Meine Mutter rief: „Tante Neun.“ Ein Licht flammte auf und erleuchtete unsere Augen. Die Gestalt einer alten Frau kam allmählich näher und wurde langsam deutlicher.

„Fräulein Wu, du bist schon lange nicht mehr zu uns gekommen.“

„Hilf mir Guang-xian aus meiner Familie, den Mund zu verschließen. Sein Mund hat in der letzten Zeit meiner Familie nicht wenige Katastrophen gebracht!“

Meine Mutter nahm einen Geldschein aus der Tasche, den die Tante Neun annahm. Das Haus war wieder dunkel geworden. Ein Streichholz zündete ein Häufchen Papier an. Ich erhielt drei Stücke Weihrauchstäbchen von Tante Neun in die Hand gedrückt und machte dreimal Kotau. Die Tante Neun befahl: „Schließe deine Augen!“ Ich machte meine Augen zu. Sie legte ihre Hand, deren Haut älter war als Baumrinde, auf meinen Scheitel. Ihre Hand rutschte über meine Stirn, meine Augen, meine Nase und landete schwer auf meinen Mund. Überall dort, wo ihre Hand drüber strich, war ein Gefühl, als würde man von einem Messer geschnitten.

„Guang-xian, nach diesem Mundverschluss sagst du nichts mehr unüberlegt!“

Ich nickte mit meinem Kopf. Sie klebte mit einem Stück Papier meinen Mund zu. Es war ein kleines rotes, zwei Finger breites Stück Papier, das auf meinen Mund vertikal geklebt wurde, die eine Hälfte an meiner Oberlippe, die andere an der Unterlippe. Tante Neun erklärte mir, die Wirkung würde sich mindestens nach einer halben Stunde zeigen. Um schnell nach Haus zu kommen, fuhr ich, mit dem roten Papier auf dem Mund, zusammen mit meiner Mutter mit dem öffentlichen Bus. Viele Passagiere drehten sich nach mir um. Ich bekam daraufhin ein rotes Gesicht, noch röter als das Papier. Auf dem Heimweg fiel das Papier zweimal herunter. Ich las das zweimal auf, nässte es mit Mundspeichel und klebte es zurück auf meinen Mund. Ich betrachtete das Papier wie eine Verdiensturkunde, die speziell meinen fleißigen Mund auszeichnete.

10

Dass Bergfluss immer seltener nach Hause kam, war auffällig. Wenn sie aber heimkam, lief sie an meinem Vater vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. In dem Moment konnten die Lippen meines Vaters gewöhnlich nicht aufhören zu zittern, ähnlich wie Heuschrecken, die ihre Flügel schwangen. Ich wollte dazu etwas sagen, nahm es mir aber nicht heraus, denn aus Furcht, das hinter mir jemand zuhörte, hielt ich meine Zunge im Zaum. Bergfluss richtete ihren Kopf nach oben und blickte absichtlich gegen den Himmel. Ihr Hintern wackelte wie eine Schaukel. So ging sie in großen Schritten vorbei, als kenne sie meinen Vater nicht.

Onkel Zhao fürchtete, daß sich die beiden nicht aushalten könnten und fand schnell für Bergfluss einen ein Meter achtzig großen Lokomotivführer als Partner. Mit dem Tempo, in dem man das Neue China aufbaute, arrangierte er für sie die Hochzeit. Eines Sonntags hielt ein LKW, geschmückt mit vielen bunten Fahnen, vor unserem Lagerhaus. Einige uniformierte Eisenbahner, unter ihnen der dicke „Klumpen“ namens Dong, sprangen aus dem Wagen, luden Bergfluss und fünf Munitionskasten auf und fuhren weg. Die farbigen Fahnen flatterten lebhaft im Wind und aus dem Lautsprecher am Wagenkopf schallte heraus: „Die Kulturrevolution ist wirklich gut! Ist wirklich gut, wirklich gut, wirklich gut!“ Alle standen vor dem Hauseingang, bis auf meinen Vater und Tausendjahr, und schauten dem sich entfernenden Fahrzeug nach. Der Wagen bog in die Straße ab und verschwand unter dem Gesang von Revolutionsliedern. Wir standen noch lange da, unter dem Eindruck der vom Lautsprecher zurückgelassen Lieder.

 

Später erzählte mir mein Vater offen, daß er sich zur gleichen Zeit an der nächsten Straßenkreuzung befunden hätte, als der bunte Wagen vor seinen Augen vorbeiraste. Bergfluss stand am vordersten Platz, sich mit beiden Händen an der Lehne festhaltend. Ihre Haare waren vom Wind zerzaust, wie ein zerrissener Lumpen. In ihrem Gesicht war keine Traurigkeit, kein Bedauern zu sehen, und es war unvorstellbar, sogar mit etwas Fröhlichkeit. Ihr war keinesfalls aufgefallen, daß mein Vater zum Abschied dort stand. Er verfolgte den Wagen, lief an dem großen Warenhaus, dem SonnenAufgang-Hotel vorbei, bis er nicht mehr mithalten konnte. Er blieb stehen und weinte. Er sagte mir hinterher, er habe den ganzen Nachmittag geweint.

Ich glaubte im Prinzip seinen Worten, weil er an jenem Nachmittag erst sehr spät nach Hause kam und gerötete Augen hatte. Man konnte Blutfaden in seinen Augen sehen. Er starrte am Esstisch eine Weile ins Leere und ergriff erst dann die von meiner Mutter zurückgelassene Reisschüssel. Er nahm einen Mundvoll, machte Pause, erst lange danach wieder einen Mundvoll.

Jedes Mal erreichte mindestens die Hälfte der Reiskörner nicht den richtigen Platz, sie landeten auf dem Tisch. Er schien anfangs den Teller fetten Fleisches als zusätzliches Essen auf dem Tisch nicht zu sehen, griff mit den Stäbchen wiederholt daneben. Immer wieder konnte er dann das Fleisch nicht festhalten. Er bemerkte nicht, daß die Reisschüssel von meiner Mutter vollgestopft worden und schwerer als sonst war. Das Fleisch schien seine Zunge heute nicht besonders zu reizen und es machte ihm keinen Unterschied zum Moschuskürbis als alltägliche Mahlzeit. Er speiste für eine gute Stunde und schaffte nur eine kleine Hälfte. Die meiste Zeit machte er Pausen. Die Zubereitung der Speisen durch meine Mutter mit größter Sorgfalt übersah er, so wie ihn Bergfluss übersehen hatte.

Es war zum ersten Mal so mäuschenstill in unserer Wohnung, wie auch im gesamten Lagerhaus. Nachts wälzte sich Vater im Bett hin und her und schlief erst ein, als es am Fenster hell wurde. Es gab seitdem auch kein Schnarchen mehr. Stattdessen knirschte er leise mit den Zähnen. Unversehens umarmte er mich im Schlaf und stieß hervor: „Bergfluss, Bergfluss“. Vor Schreck war ich wie gelähmt. Er schien seine Verwirrung eingesehen zu haben und ließ seine Hand los, die nun schlaff auf meine Seite fiel. Meine Mutter hustete ein paar Mal laut und stand von ihrem Bett auf. Die in der letzten Nacht verstummten Geräusche kehrten morgens ins Lager zurück. Da war das Pinkeln von Tante Fang und das Spucken von Onkel Zhao. Wir richteten uns auf Grund dieser vertrauten Geräusche im Bett auf, wuschen uns das Gesicht und verschwanden. Mein Vater faulenzte allein im Bett weiter.

Wenn dieses nächtliche Vorkommnis nur das eine Mal gewesen wäre, hätte meine Mutter das möglicherweise entschuldigen können. Auch ich hätte das entschuldigt. Aber mein Vater war unbeherrscht, umarmte mich in den folgenden Nächten immer wieder und schrie dabei „Bergfluss, Bergfluss“. Bevor ich meine alte Gänsehaut los war, überzog mich schon wieder eine neue. Ich konnte nicht umhin, auf einem zusammengestellten Bettchen zu schlafen. In den folgenden Nächten umarmte mein Vater sein Kopfkissen und rief nach wie vor den Namen jener Frau. Meiner Mutter riss schließlich der Geduldsfaden, sie schrie plötzlich auf, griff nach einem Wasserglas, das sie in Richtung meines Vaters Bett zum Kopfende hin schmiss und donnerte ihn aus vollem Hals an: „Du, Schurke! Raus mit dir!“

Mein Vater stieg verdrießlich aus dem Bett, zog sich eine Jacke an und trollte sich wirklich. Er rollte wie ein Eisenring immer vorwärts, rollte über die Eisen-Pferd-Straße, die Drei-Bindungen-Straße und hielt an der Einfahrt zur Eisenbahn. Du weißt, daß damals in der Nacht die ganze Stadt ruhte, nur die Züge auf den Schienen schliefen nicht. Sie fuhren hin und her, manchmal ein ganzer Zug voll von Lichtern, manchmal mit Waren zu Bergen aufgeladen. Mein Vater saß am Rand der Bahngleise und beobachtete die Züge. Warum wollte er die Züge beobachten? Er hatte heimlich die Waffenfabrik aufgesucht und durch andere erfahren, daß Bergfluss dort nicht mehr zur Arbeit erschienen war. Sie war in den Zug vom Lokführer Dong versetzt worden. Sie würde mit Sicherheit eines Tages das ganze China bereisen.

Eines Tages nach unserer Heimkehr sahen wir einen Zettel auf dem Tisch liegen. Es waren die Handschriften des Vaters: „Ich habe in Peking zu tun und werde in fünf Tagen wieder zu Hause sein.“ Meine Mutter hielt den Zettel, ihre Hand zitterte leicht. „Weißt du, warum Papa nach Peking gefahren ist?“ fragte Blümchen. „Besucht er den Vorsitzenden Mao?“

„Diese große Ehre hat er nicht, er besucht Bergfluss im Zug.“ Meine Mutter zerriss den Zettel, warf ihn zu Boden und versetzte ihm einen kräftigen Tritt. „Ein großer Gauner ist dein Vater,“ platzte sie ihren Jammer heraus, „ich kann mit ihm nicht weiterleben. Hätte ich nicht euch beide Geschwister, hätte ich mich schon tausendmal wollen scheiden lassen. Er muss überlegen, welcher unmögliche Typ Bergfluss ist. In welcher Hinsicht ist sie besser als deine Mutter? Kann sie Kaligrafie? Kann sie Instrumente spielen? Kann sie sticken? Das alles kann sie nicht. Sie kann nur mit dem Hintern wackeln. Wenn die beiden nebeneinander auf einer Bank sitzen, verhalten sie sich wie zwei Schurken!“

Nach dem Abendessen fing meine Mutter an, zu packen. Sie legte die Kleidungen von ihr und Blümchen ordentlich in den alten Lederkoffer und auch die halbe Flasche Parfüm. Ich fragte: „Mutter, was ist mit meinen Sachen?

„Wir können nicht alle wegfahren. Du musst hierbleiben, um für deine Mutter auf das Haus aufzupassen.“

An jedem Feierabend packte meine Mutter den Koffer neu. Manchmal erinnerte sie sich an ein Buch, manchmal plötzlich an ein Album oder an einen Kamm. Alles, was sie finden konnte, steckte sie in den Koffer. Schließlich konnte der Koffer wirklich nichts mehr aufnehmen. Sie nutzte zusätzlich ein Tragenetz, in das bald auch nichts mehr ging. Sie begann dann die Sachen aus dem Koffer und dem Netz heraus zu nehmen und änderte ständig die Strukturen, mal heraus und wieder hinein, mal hinein und wieder heraus. Das wiederholte sie mehrere Tage.

Eines Abends, als mein Vater niedergeschlagen wieder zu Hause ankam, packte meine Mutter den Koffer: „Wir haben zusammen zwei Kinder. Jeder sorgt für eines.“ Mein Vater fragte: „Wo willst du hin?“ „Zusammen mit Tieren im Zoo zu leben, ist besser als mit dir.

Wenn dir das klar geworden ist, komme ich zurück. Dann lassen wir uns scheiden.“

Mein Vater hockte auf dem Boden, griff mit beiden Händen an seinen Kopf. Meine Mutter nahm noch das Netz in die Hand und ging mit Blümchen aus dem Haus. Ich versetzte einen Fußtritt gegen den Hocker und schimpfte: „Verdammt Scheiße!“

Mein Vater hob den Kopf: „Zu wem sagst du Scheiße?“

„Das weißt du nicht?! Ich hätte das nicht geglaubt, du bist unverbesserlich.“

Mein Vater stand augenblicklich auf: „Das ist Liebe! Kapierst du?“ „Liebe ist, die eigene Frau zu lieben. Die Frau eines anderen zu lieben ist ein Schurkenstück!“

Mein Vater sprang auf und ab: „Wie kann ich dir das erklären? Ich umschreibe das einfach so. Nachdem du zum Beispiel zehn Jahre keinen Tropfen Öl genossen hast und dir plötzlich jemand eine Mahlzeit mit Fleisch anbietet, wie kannst du das vergessen, wie kannst du den wegschicken?“