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4

Unter der Anleitung meiner Mutter schrieb ich einen selbstkritischen Artikel über das Hundeereignis. Ich brauche nicht zu sagen, daß jedes Schriftzeichen ein von Sprengpulver gefülltes Geschoß war, seine Reichweite konnte bis nach Taiwan gehen. Ich machte von den „übelsten Missetaten, gnadenlosen Moralverstoßungen und ungeheuerlichen Verbrechen“ Gebrauch. Sie waren die derzeitigen modischen Begriffe. Sogar die Worte in einer Bekanntmachung gegen kriminelle Vergewaltiger versäumte ich nicht zu nutzen. Mit dem Artikel in der Tasche spürte ich die Schwere, wie vom Eisenpfriem belastet, wobei die Spitze jeden Moment durchstach. Aber Tausendjahr war tagelang nicht ins Lager zurückgekehrt. Er hatte einen Wohnplatz in der Schule. Hatte er komplizierte Gegebenheiten zu erledigen, übernachtete er dort. Es war in der Woche ein großes Durcheinander in der Schule, ich konnte sogar nicht einmal seinen Schatten erblicken.

Am Wochenende wusch meine Mutter mit mir und Blümchen vor dem Lager unsere Moskitonetze. Wir hingen die gewaschenen Netze auf. Wasserperlen trieften ununterbrochen vom Netzrande hinab. Brennende Sonnenstrahlungen spielten voll an den triefnassen Netzen. Es zischte hörbar, als käme Feuer in Kontakt mit Wasser. Mit weit geöffneten Augen konnte man wahrnehmen, wie die Wassertropfen verdunsteten. Blümchen hob ein Netz, versteckte sich darin, lief wieder heraus und schwang die Tropfen vom Netz spritzig in alle Himmelsrichtungen, wobei das durch Wassertropfen gebildete Rechteck auf dem Boden zerstört wurde. Nun sah ich Tausendjahr mit einem völlig verschwitzten Kopf zurückkommen. Sein Gesicht war versteinert, ähnlich wie ein Stück eingefrorenes Fleisch. Er begrüßte niemand und schloss die Tür sofort fest hinter sich.

Familie Zhao wurde plötzlich ruhig, so ruhig wie sonst nie. Man hörte dann auf einmal Geräusche, wie ein Hocker zu Boden gestoßen wurde. Bergfluss rief gedämpft: „gib her, gib mir das zurück!“ „Du liest jeden Abend versteckt hinter dem Moskitonetz in Wirklichkeit solche Dinge? Ich habe geglaubt, du lernst Marx und Lenin auswendig! Schau dir doch an, daß diese Zeichen einem Schamesröte ins Gesicht treiben müssen. Jede Schriftzeile ist ein unzüchtiges Verbrechen! Ist das denn deine augenblicklich wichtigste Sache? Willst du nicht mehr Werkmeisterin werden?“ Die Stimme von Tausendjahr hob und senkte sich abwechselnd.

Bergfluss aber halsstarrig: „Gib mir das zurück!“ Anschließend ließ sich eine Rangelei vernehmen.

„Kein Problem, daß du das zurückbekommst. Aber du musst mir sagen, welcher Rowdy dir das geschrieben hat?“

Wieder eine Rangelei. Ein Glas zersplitterte am Boden. Mit einem Knall wurde eine Tür zugeschlagen. Schritte wurden lauter. Sandalen wurden an die Wand geknallt und fielen zu Boden. Tausendjahr schrie schrill: „Ah! Du wagst mich zu beißen!“

Ein Knall wurde hörbar, wie wenn eine starke Ohrfeige gegeben wurde. Ein leises Schluchzen von Bergfluss war zu vernehmen.

Mit einem Brief in der Hand trat Tausendjahr mit dunklem Gesicht vor das Lager ins Freie. Unsere Moskitonetze waren durch den Sonnenschein leichter geworden. Ein sanftes Wehen des Windes durchlüftete sie. Tausendjahr stand im Schatten der Netze und las den Brief. Wir lagen auf dem Bauch und beobachteten ihn. Er erhob sein Haupt und winkte mir zu. Ich ging hinüber. Er schob das Netz zu einer Seite und bedeckte uns damit. Durch die Gaze sahen wir vor dem Lagereingang eine Schar von näher rückenden Gestalten. Sie konnten mich aber nicht klar erkennen. Tausendjahr zeigte mir den Brief: „Schau dir an! Sind das nicht die Handschriften deines Vaters?“ Ich starrte den Brief an und schüttelte meinen Kopf.

„Ob das von Wärmespender ist?“ „Keine Ahnung!“

Er hielt den Brief dicht unter die Nase und sah ihn noch einmal genau an. Er runzelte die Stirn: „Wer konnte dann das sein? Was man sich alles erlauben darf! Hatten dein Pa und deine Ma neulich Zankereien?“

Ich nickte.

„Worüber haben sie gestritten?“

„Mein Vater wollte was von meiner Mutter. Meine Mutter wollte ihm das nicht geben.“

„Übrigens, kannst du deinen Vater mit linker Hand ein paar Schriftzeichen schreiben lassen?“

„Soll er die gleichen Schriftzeichen aus dem Brief schreiben?“

Er schüttelte den Kopf. Seine Blicke suchten eilig im Brief herum. „Sollen wir ihn lieber den Namen Bergfluss schreiben lassen?“ „Quatsch! Lass ihn folgendes schreiben: Sehnsucht nach dem Vaterland. Nur diese Schriftzeichen. Merk dir, er soll mit linker Hand schreiben. Sollte dir das gelingen, bekommst du eine rote Armbinde!“

Ich nickte mit dem Kopf und gab ihm, was ich als Selbstkritik geschrieben habe. Er nahm es, warf einen Blick darauf und schimpfte: „Dummkopf! Ich wollte die Leute doch nur abschrecken. Wer ließ dich wirklich schreiben?“ Er knüllte meinen Artikel zusammen, warf ihn zu Boden und drehte sich weg, um zu gehen. Ich hob ihn wieder auf. Es war sehr schade. Ich hatte ihn so lebendig geschrieben, aber er hatte nur wenig Einblick genommen. Anfangs hatte er doch damit geprahlt, meine Aussagen durch den Lautsprecher der Schule vorzulesen.

Ab jenem Tag verfolgten meine Blicke ständig die linke Hand meines Vaters. Seine linke Hand zeigte keinen Unterschied zu seiner rechten. Die Blutgefäße auf seinen Handrücken waren stark hervorstehend und auffällig, als wollten sie aus der Haut herausspringen. Oder wie jemand, der sich jede Zeit von seinem Ursprungsbetrieb versetzen lassen wollte. Bis auf den Daumen waren alle vier restlichen Finger mit feinen Härchen versehen. Die Falten auf dem Gelenke waren zu einem Knoten gerunzelt, ähnlich wie Baumknollen. Und die Fingernägel waren zwar lang gewachsen, es befand sich darin aber kein halbes Pünktchen von Schwarz. Jede Fingerspitze war gleichmäßig rund geformt. Am Handgelenk war ein roter Punkt sichtlich, der von einem Moskitostich stammte. Mit dieser Hand hielt mein Vater die Schüssel, kratzte sich an der rechten Achselhöhle, knöpfte sein Hemd auf. Das war die Hand, die in der linken Hosentasche steckte, die das Obst zum Abschälen nahm und den Boden der Teetasse trug. Alles in allem entlastete sie gewöhnlich die rechte Hand, leistete eine tolle Zusammenarbeit mit der Rechten und erledigte alle möglichen Dinge. Nur hatte sie nicht geschrieben.

Infolge der Beobachtung seiner linken Hand veränderte sich überraschend auch die Verhaltensweise an meinem eigenen Körper. Ich fand heraus, daß ich mit meiner linken Hand den Löffel nahm, um Suppen zu essen. Der Riemen meiner Schulmappe wechselte unerklärlicherweise von der rechten zur linken Schulter. Ich drehte sogar mit der linken Hand den Wasserhahn und hielt mit links die Stäbchen. Gerade in denjenigen Tagen war ich ein „Linkshänder“ geworden, was bis heute nicht korrigiert worden ist, anscheinend so wie es folgerichtig war, daß nach dem Monatsanfang die Monatsmitte kommen musste. Mit einem Groschen in der Hand versuchte man Millionär werden zu wollen. Im Grunde war ich nicht zufrieden mit dem Leben als Linkshänder. Merkwürdigerweise fing ich an, auch mit meiner Linken zu schreiben. Als mein Vater das sah, riss er den Stift aus meiner Hand und schrie: „Wann bist du ein Linkshänder geworden?“ Ich nahm meinen Stift zurück und nahm ihn in meine rechte Hand. Während des Schreibens ging der Stift automatisch wieder in meine Linke. Auf dem Papier schrieb ich andauernd: „Sehnsucht nach dem Vaterland“, bis ich scheinbar in Wirklichkeit eine echte Sehnsucht empfand. Meinem Vater wurde schwindelig beim Zuschauen, als wäre er immer im Kreis gelaufen. Er nahm meinen Stift an sich und begann selber mit der linken Hand „Sehnsucht nach dem Vaterland“ zu schreiben. Er lächelte, nachdem er das fertig hatte. „Wie kann man deine linke Hand mit meiner vergleichen! Du bist dafür noch zu jung und ungeschickt.“ Ich schnitt das ab, was mein Vater mit linker Hand geschrieben hatte, „Sehnsucht nach dem Vaterland“ und steckte den Zettel in ein Kuvert, fand es nicht sicher genug und umhüllte es zur Sicherheit mit einer Plastikfolie. Erst so war mir ein Stein von Herz gefallen. Ich fügte das Kuvert in ein Buch, das ich dann in meiner Schultasche versteckte, die ich anschließend an die Wand hing und legte mich endlich flach ins Bett. Kaum war ich eingeschlafen, wurde ich durch das Schnarchen meines Vaters geweckt. Daraufhin erhob ich mich leise vom Bett, holte die Tasche von der Wand und legte diese unter mein Kopfkissen. Mein Hinterkopf spürte die Härte des Buches und konnte sogar den Platz des Zettels erfühlen. Nur auf diese Weise hörte ich, wie nach dem Gebrauch von Schlaftabletten, sehr schnell die Laute der anderen nicht mehr.

Am folgenden Tag ging ich zum Büro von Tausendjahr, dessen Tür offen stand. Ich ging hinein und übergab ihm den Zettel. Seine Augen begannen sofort hell zu leuchten. Er nahm den Zettel mit einer Hand und mit der anderen griff er flink nach dem Brief in seiner Jackentasche. Er breitete den Brief auf dem Tisch aus. Das war der Brief des Gauners an Bergfluss. Mit einer Schere schnitt er den Zettel nur mit dem Schriftzeichen „Sehnsucht“ aus. In Wirklichkeit brauchte er nur das eine Schriftzeichen, das er jetzt mit dem im Brief verglich. Seine Blicke wanderten durch den Brief und blieben stehen, wo die Zeichen standen. Er starrte sie lange an, mal von links, mal von rechts und erhob den Kopf erst, nachdem er den ganzen Brief verglichen hatte. „Der Brief zeigt neunmal das Schriftzeichen ´Sehnsucht´, wovon vier ähnlich sind; schau her!“ Ich beugte mich vor und sah es mir genau an. Er fragte dann: „Sind sie ähnlich?“

„Ein bisschen ähnlich, aber nicht sehr.“

„Ich bin auch nicht sicher. Für die Beurteilung brauche ich einen Fachmann. In den folgenden Tagen musst du sehr aufmerksam sein. Gibt´s dann irgendwas Neues über deinen Vater, sage mir sofort Bescheid.“

 

5

Mein Vater schnarchte vor Mitternacht viel. Oft stand er nach Mitternacht auf und trank kaltes abgekochtes Wasser aus der Kanne, die auf dem Tisch stand. Er gab dabei einen besonders hellen Laut von sich. Onkel Yu aus der Nachbarschaft zeigte mir öfters zwei Finger und sagte: „Dein Vater hat letzte Nacht wieder zwei Kannen geleert.“ Mein Vater trank deshalb so viel kaltes Wasser, weil er sich zu warm fühlte. Seiner Meinung nach fingen in der Nacht alle vitalen Organe an zu brennen, auch sei er gar nicht müde. Einmal mitten in der Nacht fächelte er sich Luft zu, ging im Haus auf und ab, klatschte ständig nach Moskitos auf seinem Arm und sprach laut: „Hört ihr, hört ihr, wie lästig das ist! Ob man so noch weiterleben kann!“

Ich wurde dadurch aufgeweckt. Eine weibliche Stimme stöhnte leise, mit Unterbrechungen, mal hörte sie auf, mal stöhnte sie weiter, mal klang es vom Dach herab, mal außerhalb vom Fenster. Ich spitzte meine Ohren und überlegte lange, bis ich die Stimme der Tante Fang identifizierte. Sie schien schwer unter Schmerzen zu leiden und unterdrückte mit Mühe das Schreien. Aber langsam konnte sie sich nicht mehr beherrschen. „Ach ja, Ach ja“, stöhnte sie laut auf. Die Geräusche wurden immer heftiger und ihre Stimme erhob sich immer mehr. Mit dem lauteren Stöhnen fing ihr Bettbrett zu knarren an. Nach meinen Lebenserfahrungen muss ein Bett erst damit anfangen, wenn man sich vor Schmerzen unruhig hin und her wälzt. Mein Vater ging an das Bett meiner Mutter und klopfte zweimal. „Hör mal, hör mal das an!“ Meine Mutter gab keinen Laut von sich, sie schlief wie ein Stein. Mein Vater schlug sich auf den Schenkel und ging aus dem Haus.

Meistens nach Mitternacht nahm mein Vater am Wasserteich vor dem Haus eine kalte Dusche. Er goss sich kühles Wasser über den Kopf, duschte sich lange, als wollte er das große Feuer im Körper löschen. Nach der Dusche saß er still auf der Betonbank. Anfangs saß er tatenlos herum, später hatte er gelernt, mit billigen Zigaretten die Zeit totzuschlagen. Er rauchte eine nach der anderen. So verbrachte er Stunde um Stunde und ließ keine Sekunde die Zigaretten ausgehen. Er sagte mir einmal, das Rauchen vertreibe zwar keine Sorgen, aber die lästigen Mücken. Onkel Yu musste jede Nacht unbedingt einmal urinieren, pünktlich wie unsere riesige Holzuhr an der Wand. Manchmal ging er zum Klo hinter dem Lager, aber ab und zu, um ein paar Schritte zu ersparen, pinkelte er unter den Baum vor dem Haus; ein Wasserlassen im Freien. Obwohl er die mit der Zigarette hell beleuchteten Finger meines Vaters sah, machte er nicht mal ein Zeichen des Grußes. Er fühlte sich abgehoben wie ein stinkreicher Mensch, der keine Lust hätte, mit einem Bettler zu verkehren.

Einmal war Onkel Yu gerade dabei, sein bestes Stück herauszufischen, da schrie mein Vater ihn an: „Grünhügel“. Onkel Yu kriegte einen Schock und es kam kein Urin mehr, als litte er plötzlich an einem Blasenverschluss. Ein lange in Vergessenheit geratener Ruf ließ seinen Mund unbewusst hervorstoßen: „Jung...Jungherr.“ Das war eine Anrede aus der alten Zeit. Damals war Onkel Yu noch ein junger Buchhalter in der Firma meines Großvaters. „Grünhügel“ war der Name, den mein Großvater ihm gegeben hatte. Nach der Gründung des Neuen China glaubte er, an Ausstrahlung zu gewinnen, wenn er sich warmherzig gab und änderte seinen Namen in „Wärmespender“. Er band seine kurze Hose zu und näherte sich meinem Vater: „Es ist noch Nacht. Du sitzt immer hier?“ Mein Vater seufzte: „Könnt ihr etwas leiser sein? Kannst du veranlassen, daß Zierapfel nicht so laut ist? Ich war eigentlich entschlossen, ein Leben lang vegetarisch zu essen. Das Geschrei von deiner Frau macht mir aber wieder Appetit auf Fleisch. Man fühlt sich wie in einen heißen Ölkochtopf gefallen. Was für ein Leiden für mich!“

„Dies miese Geschöpf! Ich hinderte sie am Schreien, aber sie konnte nicht anders. Das nächste Mal lege ich ein Kopfkissen auf ihren Mund.“

„Da kriegt sie keine Luft mehr. Das ist lebensgefährlich.“

„Was für ein komisches Haus das ist! Man hat für sich kein Geheimnis mehr. Hätten wir unsere Immobilien nicht spendiert, würden wir gar keinen stören, auch wenn wir so laut wie ein Lautsprecher wären.“

Sie unterhielten sich kurz und dann ging Onkel Yu. Ungern Abschied nehmend rief mein Vater noch einmal „Grünhügel“. Onkel Yu drehte seinen Kopf: „Ist noch was?“ Mein Vater zögerte einen Augenblick. „Lassen wir das! Du kannst gehen!“ Onkel Yu kam zurück: „Seid ihr knapp bei Kasse? Brauchst du etwas Geld?“ Mein Vater schüttelte den Kopf. „Diese Sache, die traue ich mir noch nicht auszusprechen...“

„Ist es denn noch schwerer als Geldleihen, um den Mund aufzumachen?“

„Das ist wie eine Narbe am Körper. Man schämt sich, das zu zeigen. Nach dem Seminar scheint meine Frau Lebensfroh plötzlich im Kopf nur ein blankes Papier zu sein. Sie ist danach so prüde geworden, daß ich mich ihr nicht mehr nähern kann. Es ist zehn Jahre her, daß ich so ein Leben nicht mehr habe, wie du es in der Nacht hast. Ich fürchte, das nicht länger aushalten zu können, falls es so weiter geht...“

„Eure Zankereien haben wir alles mitbekommen, nur nicht verstanden, warum sie sich so benimmt.“

„Sie findet das schmutzig. Ihrer Meinung nach soll man als erhabener Mensch darauf verzichten. Sie ist beeinflusst durch ihre Leitung. Ich lebe seit fast zwanzig Jahren mit ihr. Sie hört mir ungern zu, sie hört nur auf ihre verdammte Leitung. Ich weiß nicht, welche Zauberkraft ihre Leitung hat!“

„Ob man ihr etwas Medizin verschreiben lassen kann?“

„Alles ausprobiert, alles ohne Wirkung. Mehrmals war ich dabei, Fehler machen. Ich hatte aber Angst, bestraft zu werden. Manchmal habe ich sogar ans Sterben gedacht. Grünhügel, hilf mir bitte!“ „Das ist weder wie Bodenkehren oder Tischwischen, noch wie Wassertragen oder Reiskochen. Wie kann ich dir helfen?“

Mein Vater kniete sich blitzartig vor Onkel Yu: „Grünhügel, ich bitte dich! Nur du kannst mir helfen!“ Onkel Yu schien etwas verstanden zu haben. Seine Stimme begann zu zittern. „Lang-wind, wie kannst du sowas denken! Auch der Bruder von derselben Mutter könnte dabei nicht helfen!“

„Nur einmal, erweis mir und Zierapfel eine Gnade! Ich werde im nächsten Leben vier Räder haben, um mich zu revanchieren.“

Onkel Yu drehte sich um, ging fest entschlossen weg. Die Kieselsteine unter seinen Füßen flogen auf. Mein Vater kniete starr wie ein Stück Eisen lange da.

Einige Tage später überreichte Onkel Yu meinem Vater ein Papierpäckchen: „Ich habe jemand aufgetragen, einen alten Arzt für Chinesische Medizin in der Drei-Verbindungen-Straße aufzusuchen, um dir diese Medizin verschreiben zu lassen. Man nimmt das zweimal im Monat. Es ist garantiert, daß du nicht weiter dumme Gedanken hast.“ Mein Vater steckte die Nase ins Päckchen, roch ein paar Mal darin und schleuderte es blitzschnell zum Fenster hinaus. Das Päckchen ging kaputt und die Heilkräuter verstreuten sich auf dem Boden. Onkel Yu bückte sich, um sie aufzunehmen.

„Wärmespender, oh, Wärmespender, es ist OK, daß du mir nicht helfen willst! Aber warum musst du noch zusätzlich meinen Körper ruinieren?“

„Denke doch nicht falsch! Ich habe befürchtet, daß du da Nacht für Nacht so sitzt und dabei krank werden musst.“

„Danke für deine gute Absicht. Ich bereue sehr, dir so viel erzählt zu haben.“

„All andere Hilfe kann ich dir geben, nur diese schaffe ich wirklich nicht. Diese Sorgen kann man echt nicht runterschlucken!“

„Nicht alle haben kein Herz wie du. Nicht alle sind undankbar wie du. Wie vielen Menschen hat unsere Familie Zeng in der Vergangenheit geholfen? Auch kein Bettler ging mit leeren Händen von uns weg. Ich glaube nicht, daß es in der Umgebung keinen Menschen gibt, der nicht ein weiches Herz hat.“

6

Einige Zeit war vergangen, als sich eine Röte im Gesicht meines Vaters zeigte, die man aber nicht als gesunde Farbe bezeichnen konnte. Sein Schnarchen wurde immer lauter und dauerte immer länger, konnte sogar von Beginn der Nacht bis zur Morgendämmerung währen. Nach Mitternacht musste er nicht mehr das Bett verlassen. Beim Gemüseputzen und Kochen wollte seine Zunge nicht nur den Geschmack probieren, auch aus dem Mund entsprangen ihm ein paar südländische Volksweisen. Er hatte die Chinesische Medizin nicht genommen. Wie konnte er sich so einfach in einen anderen Menschen verwandelt haben?

Die gute Gesichtsfarbe meines Vaters hätte lange bestehen können, hätte ich mich vielleicht nicht zum Sperlingfang entschieden. Aber der Sperling schien mich zu necken, genau wie eine augenblinzelnde Frau. Sollst du sie nicht als die zu Jagende betrachten, wird es heißen, daß du machtlos bist. Damals war ich unfähig, richtig zu denken. Nach dem vergangenen Vorfall glaube ich jetzt, daß das ein weiblicher Sperling gewesen sein musste, denn sonst wäre das unerklärliche Verhalten nicht wie das eines liederlichen Frauenzimmers gewesen. Ich verdächtige den Vogel sogar, durch Tausendjahr entsandt worden zu sein. Er flog vom Hausdach herunter und landete innerhalb eines Meters vor mir. Die Federn schüttelnd zwitscherte er „jiji-zhazha.“ Mit sachten Schritten ging ich auf ihn zu und streckte meinen Arm aus, um ihn zu fangen, aber er sprang einige Schritte nach vorn. Ich versuchte es noch einmal und er sprang wieder nach vorn. Jedes Mal sprang er nicht sehr weit, nach wie vor in der Reichweite meines Armes, als hätte er einen Mathematiker zu Rat gezogen, um die Distanz präzis auszurechnen. Einmal berührten meine Finger bereits seine Federn. Er war nicht verängstigt und sprang wieder einen kleinen Schritt, als ob er auf mich hätte warten wollen. Ich hielt inne, atmete ein paar Mal tief ein. Dann, den Atmen anhaltend, warf ich mich auf ihn. Meine Nase berührte die Erde; das tat weh. Er flog unter meiner Hand davon, landete auf dem Dachvorsprung und zwitscherte laut. Ich hob einen Stein und warf nach ihm. Er machte einen Sprung und kroch in ein Nest unterm Dach. Der Holzsäule entlang kletterte ich nach oben. Ohne Schwierigkeiten war ich am Dachrand angekommen. Ich steckte meine Hand ins Nest. Zwei Sperlinge flogen aufgescheucht aus ihrem Nest heraus und ich wurde dadurch sehr erschreckt. Ein Dachziegel brach ab. Ich habe erzählt, daß wir zwischen den drei Familien lediglich einfache Trennwände hatten und jeder Haushalt das einzige Dach des Lagers gemeinsam überm Kopf hatte. Die Sperlinge waren weggeflogen. Ich war hoch wie im Himmel und schaute durch die Ziegelspalten ins Haus hinunter. Die Abdeckung der Moskitonetze, die Schränke und die tönerne Wassertonne der Familie Yu, alles sprang mir auf einen Blick ins Auge. Onkel Zhao rauchte Pfeife im Wohnzimmer. Ein Kreis weißen Rauches umwickelte wie zartes Gewebe seine Haare. Im Schlafzimmer der Familie Zhao lag mein Vater zu meiner Überraschung auf Bergfluss. Ach du meine Güte! Mein Körper fing an zu zittern und mir standen Haare zu Berge. Mir war, als würde das ganze Lager in sich zusammenstürzen. Der an meinem Gesicht klebende Ziegel fiel direkt vor Onkel Zhao auf den Boden und zersplitterte. Onkel Zhao hob seinen Kopf:

„Wer ist da?“ Mein Vater wälzte sich blitzschnell vom Körper von Bergfluss weg und deckte sich mit einer Jacke zu. Mit erhobenem Haupt schaute er herauf. Sie konnten nur maximal ein kleines Stück meines Gesichts sehen, während ich sie vollständig sah.

Onkel Zhao lief durch die Hintertür des Lagers. Mit der Hand am Sonnenzelt gestützt schaute er zu mir herauf: „Du bist es, Kleiner!“ Unmittelbar lief auch mein Vater aus dem Haus und brüllte mich an, indem er mir drohte. „Suchst du den Tod? Warte ab, wie ich dich bestrafe!“ Mein Vater sprang wie der Sperling hin und her und suchte nach etwas. Er fand endlich eine Bambuspeitsche und schwang sie geräuschvoll durch die Luft. „Komm sofort runter!“ Ich stand auf dem Dachrand und mir zitterten die Beine wie Stroh im Wind auf einer Mauer. Onkel Zhao entriss meinem Vater die Peitsche, zerbrach sie und schmiss sie zu Boden. „Ihn so zu erschrecken!“

Ich schob mich langsam zur Säule und wollte daran herunterrutschen. Meine Hände waren wie betäubt und ich konnte mich nicht richtig festhalten. Um ein Haar wäre ich wie ein Ziegelstein abgefallen. Mit dem Kopf nach oben gerichtet meinte Onkel Zhao: „Guang-xian, keine Panik, festhalten, langsam runterrutschen. Ja, so ist es richtig, die Säule fest umklammern. Gut so, ja, beide Beine zusammendrücken. Ja, langsam, langsam runterrutschen. Keine Angst. Dein Onkel Zhao kletterte in seinen jungen Jahren öfters hier auf und ab, um die Sperlinge oben zu fangen, für deinen Großvater zum Schnapsdrink. Vor Freude darüber lud er mich zu einem Schluck ein. Ja richtig, so kommst du runter, weiter runter..!“

 

Der Stimme von Onkel Zhao folgend kam ich gut runter, mit beiden Füßen sicher auf dem Boden. Kaum stand ich aufrecht, wurde mein Ohr durch meinen Vater hochgezogen. Ich schrie vor Schmerzen und stand auf allen Zehen. Mein Vater donnert mich an: „Was hast du gesehen?“

„Ich habe dich nackt gesehen.“

Meines Vaters Hand drehte noch fester: „ Was hast du wirklich gesehen?“

Ich versuchte mit beiden Händen mein Ohr zu schützen und schrie vor Schmerzen noch lauter auf.

„Schäme dich zu weinen! Sage, was hast du tatsächlich gesehen?“ „Ich... ich habe gar nichts gesehen.“

„Merk dir, du hast gar nichts gesehen. Sonst schlage ich dir deine Schneidezähne ein!“

Mein Vater ließ endlich los. Mein Ohr ähnelte einem Stück brennender Kohle und erwärmte meine Handfläche. Onkel Zhao brachte mich zu seiner Wohnung. Er holte ein kleines Gefäß mit Arznei, mit der er mein dick geschwollenes Ohr bestrich. Dabei erzählte er mir: „Ab heute bist du sozusagen erwachsen geworden. Als ich so alt war wie du jetzt, war ich schon dreimal wegen Hunger auf den Straßen umgekippt. Das letzte Mal war ich deswegen vor eurem Hauseingang fast hingestürzt. Dein Großvater hatte mich aufgenommen. Hätte ich nicht in Gedanken deinem Großvater einen Dank erweisen wollen, hätte ich heute deinen Vater nicht so gut behandelt. Obwohl ich, Aufrichtig Zhao, aus einer armen Familie stamme, bin ich in keinem Fall ein undankbarer Typ. Gibt mir jemand einen Löffel Reis, so gebe ich ihm eine Schüssel zurück. Was ich tue, ist gut für deine Familie, ist auch gut für die Gesundheit deines Vaters. Sollte dein Vater schwer erkranken oder nicht Haus halten können und sich in den Kehrfluss stürzen, dann müssten alle Mitglieder deiner Familie Hunger leiden. Dann könnte es sein, daß es um euch noch schlimmer steht als mir damals. Ich war ein Leben lang ohne ordentliche Kleidungen. Kannst du mein Verhalten verstehen? Wenn ja, solltest du deinen Mund zunähen und nichts von dem weitererzählen, was du heute gesehen hast.“

Die Wattekugeln mit der Medizin von Onkel Zhao wurden kräftig an meine Ohren gedrückt. Ich schrie auf.

Plötzlich bemerkte ich, daß mich ein Paar Augen die ganze Zeit betrachtet hatten. Das waren die Augen von Bergfluss. Sie hatte sich heute in die Schale geworfen, lehnte sich an den Türrahmen ihres Schlafzimmers, zerknackte dabei Melonenkerne und die Schalen spuckte sie in meine Richtung. Ihr Gesicht war so ruhig, als ob gar nichts geschehen wäre. Wahrscheinlich war sie es gewohnt. Die weißen Schalen bedeckten langsam den ganzen Boden. Eine flog auf den Kopf von Onkel Zhao, der sich nicht länger beherrschen konnte und sie anbrüllte: „Zurück in dein Zimmer! Benimm dich nicht so, als wärst du die Hauptfrau. Du bist maximal eine Konkubine!“ Bergfluss schimpfte einmal leise, wackelte kurz mit ihrem Po und ging aus dem Haus.

7

Was für ein Gefühl hegt man, wenn man weiß, daß man ein Geheimnis in sich birgt? Das Gefühl wäre gleich dem, als hätte man in der Brust eintausend oder zehntausend Pferde, die rollend und grollend galoppieren. Die Gefahr könnte existierten, daß sie jeden Moment herausrennen. Ich war seit damals wie mein Vater geworden, der kaltes Wasser in großem Zug trank. Manchmal trank ich an einem Tag zwei Kannen. Weil ich dermaßen weiter trank, bekam mein gesunder Körper eine Nierenkrankheit. Seinerzeit dachte ich mir, daß mein Vater hartherzig und rücksichtslos wäre. Er hatte für seinen eigenen Körper ein Plätzchen gefunden, aber den quälenden inneren Druck dieses Erlebnisses zwang er mir jetzt auf. Man soll wissen, daß ich damals erst 15 Jahre alt war!

Für eine Zeitlang kam mein Vater regelmäßig nachts nicht nach Hause. Er behauptete stets, eine wichtige Sitzung zu haben. Er hätte in der Nacht Überstunden gehabt, um bessere Lautsprecher zu produzieren. Von der oberen Leitung wäre er aufgefordert worden, die Lautsprecher für noch lautere und deutlichere Qualität zu produzieren. Am besten sollte man das aus einer Entfernung von 10 Li (1 Li = 1/2 Kilometer) hören. Kein einziges Wort durfte überhört werden, nicht einmal ein kompliziertes Wort. In der Fabrik war eine Gruppe für die Lösung der Schlüsselaufgaben organisiert worden. Mein Vater war ein Mitglied davon. Wenn er nicht nach Hause kam, zeigte sich im Gesicht meiner Mutter erstaunlicherweise ein Lächeln. Das war so komisch, als wären Süßkartoffeln gegessen worden, war aber nicht ganz ehrlich. Eines Abends brachte meine Mutter mir und Blümchen bei, sich zu waschen. Wir sollten viel Seife benutzen und uns wiederholt waschen, je sauberer desto besser. Dann holte sie uns zum Anziehen zwei nagelneue Hemden aus dem Schrank. Da sie strahlend weiß waren und wir uns nicht trauten, uns hinzusetzen, standen wir dumm herum. Wir fanden sogar keinen Platz für unsere Hände. Meine Mutter sagte: „Ihr könnt euch ruhig hinsetzen. Alle Hocker zu Hause habe ich eben mit Seifen sauber geputzt.“ Blümchen und ich nahmen auf den Hockern Platz. Meine Mutter sagte jetzt: „Bleibt da sitzen! In wenigen Minuten lasse ich euch etwas erleben.“ Wir hielten unseren Kopf aufrecht, legten beide Hände auf die Knie und schlugen nicht nach den Mücken, die uns im Gesicht stachen.

Hochkonzentriert verfolgten wir die Wassergeräusche, die meine Mutter im Bad beim Duschen zustande brachte.

Endlich kam meine Mutter in einem ausgeblichenen und karierten Hemd aus dem Bad. Das Hemd war zwar nicht mehr neu, denn am Kragen war der Rand rau geworden, aber es sah sogar noch sauberer aus als unsere Neuen. Sie öffnete die kleine Holzkiste in der Hand: „Mama zeigt euch eine neue Erfahrung.“ Wir traten zu ihr und sahen, daß in der Kiste ein Parfümfläschchen lag. „Das habe ich heimlich zurückbehalten. Ihr sollt niemand ein Wort darüber sagen!“ Sie nahm das Fläschchen in die Hand und tropfte etwas auf unsere Körper. Ich zuckte mit meinen Nasenflügeln und machte einen tiefen Atemzug, eine Welle von Blumenduft ließ mich abheben. Blümchen meinte: „Wie herrlich!“ Meine Mutter drückte sofort einen Finger auf ihren Mund und machte ein „pst“. Das war das erste Mal für mich, mit Parfüm in Kontakt zu kommen. Dieser Duft tauchte später in meinem Leben nie wieder auf. Meine Mutter träufelte auch auf ihren Körper einige Tropfen, dann schloss sie ihre Augen und atmete sanft ein: „Dieser Duft erinnert mich sofort an meine Mädchenzeit.“ Wir drückten uns fest an ihr Kleid, in der Furcht, daß die Reste des Duftes unbemerkt und umsonst verschwanden.

„Das ist eine bourgeoise Sentimentalität. Wenn ihr das weitersagt, werden wir verurteilt werden. Ausnahmsweise biete ich euch heute dieses Erlebnis. Wisst ihr warum? „

Wir schüttelten den Kopf. „Weil Guang-xian heute sechzehn geworden ist.“

Erst in diesem Moment konnte ich mich erinnern, heute Geburtstag zu haben. Meine Augen wurden langsam nass. Es entstanden viele Tränen. Auch zitterten meine Lippen. Die in meinem Bauch vergrabenen Worte wollten heraus. Manche sammelten sich in der Tiefe, manche krümmten sich, manche waren bereit, jeder Zeit aus dem Mund zu schießen. Ich aber spürte plötzlich eine Kälte, die über meinen Rücken kroch und schlug eilig auf meinen Mund, um die nach draußen eilenden Worte mit Kraft zurückzuschlagen. Meine Mutter schloss weiter genüsslich ihre Augen. Ihre Brust hob und senkte sich langsam, ihre langen Augenlider bebten sanft. An beiden Seiten der Nase blähten sacht die Nüstern. Ihre Gesichtsfarbe war weiß wie Lauchzwiebeln und ruhig wie ein Spiegel. Sie konnte sich durchaus niemals vorstellen, betrogen zu werden. Komischerweise neigte mein Mund dazu, sich mehr zu öffnen, je ruhiger ihr Gesichtsausdruck wurde. Das Stadttor war kaum noch zu verteidigen. Ich sah mich gezwungen, meiner Handfläche mehr Kraft zu geben, um meinen Mund noch fester zu schlagen.