Bella mia

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4

Am Anfang waren wir zwei dunkle Zellklümpchen, die unsere Eltern noch für eines hielten. Wir wuchsen heran im sanften mütterlichen Ozean, der rund um uns ganz langsam weniger wurde. Im neunten Monat schob sich der Fötus Olivia eines Tages mit der raumgreifenden, ruhigen Bewegung eines kleinen Körpers, der sich im Schlaf herumdreht, nach vorne, direkt unter die elastische Bauchdecke. Dort drang eine Ahnung von Sonnenlicht herein und undeutlich, gedämpft, der Klang der Welt. In jenem Bereich konnte man sich noch ausdehnen, den Umfang der unvollkommenen Kugel und die Spannung der mütterlichen Haut erhöhen. Das hat Olivia getan. Ich war dahinter in meiner Hülle zwischen ihr und den harten Knochenringen der Wirbelsäule eingezwängt. Ich habe die verbleibende Zeit in der Enge, im Dunkeln, in der Stille verbracht. Meine Schwester fing äußere Schwingungen und Einflüsse auf und behielt sie für sich. Sie genoss die kreisenden Liebkosungen der gewölbten Hände, die Rundung, hinter der sie lag, war den Blicken ausgesetzt. Ich konnte mich nur über die Nabelschnur und das Blut versorgen.

So malte ich mir, als ich ungefähr acht Jahre alt war, unser Leben in der Gebärmutter aus. Ich war überzeugt, einen Urnachteil erlitten zu haben, der alle meine Schwächen rechtfertigte. Daheim wollte ich immer wieder die Geschichte unserer Geburt hören, wie viel Gramm und wie viele Zentimeter mehr ihr zugefallen waren, von ihrem helmförmigen dichten Haarschopf und den Extra-Mahlzeiten, die sie unserer Mutter durch ihr unerträgliches Wimmern abtrotzte. War mein geringer Hunger gestillt, kam ich wieder in die Wiege, und sie wurde erneut am Busen angelegt für diese zusätzliche Ration Milch, die ich mir dicker, gehaltvoller, auch gelber vorstellte. Als Kinder trugen wir die gleichen Kleider in verschiedenen Größen, meine immer eine Nummer kleiner. Oft nannten sie uns Olivia und ihre Zwillingsschwester oder, noch schlimmer, Olivia und die andere.

»Du heißt nach einer Königin, das schüchtert die Leute ein bisschen ein, deswegen sagen sie nie deinen Namen«, tröstete mich unsere Mutter, wenn ich sie nach dem Grund fragte.

In der fünften Klasse Grundschule sah ich, wie ein Gassenjunge aus dem Dorf mich, als ich vorbeiging, seiner Bande zeigte, etwas sagte und alle losprusteten. Sie gingen schon auf die Mittelschule. Meine Schwester beobachtete sie finster und stumm. Als wir eines Nachmittags lässig aus dem Kommunionsunterricht kamen, saß er auf einer Gartenmauer an unserer Straße. Er musterte uns schon von weitem, Olivia ging in der ungewöhnlichen Junischwüle einige Schritte vor mir. Zu ihr hat er nichts gesagt, doch als ich auf der Höhe seiner baumelnden Beine ankam, trällerte er dreimal: Da ist ja die miese Kopie, und streckte den Fuß aus, bis er mich anstieß. Olivia drehte sich um, musterte ihn von unten, bevor sie ihn am Hosensaum herunterzerrte und auf den Boden warf. Wie versteinert, den Kopf zwischen den Händen, sah ich bewundernd zu, während sie ihn verprügelte wie ein Junge, ohne ihn zu kratzen oder an den Haaren zu ziehen. Mit Fäusten schlug sie zu und bekam durch den Überraschungseffekt selbst wenig ab. Schließlich richtete sie sich auf, ließ ihn geifernd im Staub liegen und versetzte ihm einen letzten Tritt in den Hintern. Sie sammelte auch unsere auf den Steinen verstreuten Katechismusbüchlein ein, ich weiß nicht, wie sie mir heruntergefallen waren. Dann, auf dem Heimweg, strich sie mir mit ihrer vom Raufen schmutzigen Hand sanft über die Wange. Als Entschuldigung für die zu meiner Verteidigung eingesetzte Gewalt und als Versprechen, mich lebenslang zu beschützen, auch vor ihrer eigenen Überlegenheit.

Später tat unsere Mutter so, als machte sie ihr Vorwürfe; gewisse Dinge, mahnte sie, müssten ihr oder Papa mitgeteilt und nicht mit Fäusten geregelt werden.

»Schließlich seid ihr nicht allein auf der Welt«, setzte sie noch hinzu. Schonend betupfte sie Olivias Wunden mit einem Desinfektionsmittel und versicherte sich ab und zu, dass ich noch hinter ihr stand, um ihr sauberen Verbandsmull zu reichen. Wie immer sorgte sie sich mehr um mich als um Olivia und die Schwellungen in deren Gesicht.

Am nächsten Tag sollten in der Schule die Klassenfotos gemacht werden, aber man konnte sich auch einzeln ablichten lassen. Der Fotograf zögerte kurz, als Olivia sich selbstbewusst in die Bank vor der Tafel setzte, auf der »Es lebe die 5b« stand.

»Du willst auch ein Einzelbild?«, fragte er mit einem Blick auf ihre blauen Flecken.

»Eins allein und eins mit meiner Schwester«, erwiderte sie und fuhr sich durch die Haare. Bevor sie zum Stift griff, um sich in Schreibhaltung in Positur zu setzen, zog sie aus der Schützentasche eine wer weiß wo ergatterte Sonnenbrille, mit der sie ihr blaues Auge und das angeschlagene Lächeln kaschierte. Im Objektiv eine zehnjährige Diva, heldenhaft und draufgängerisch.

Die Episode mit der Schlägerei erwies sich bei späterer Betrachtung als treuer Spiegel der ungleichen Beziehung zwischen uns Zwillingsschwestern. Aus Angst, uns zu verlieren, sind wir nie aus diesem Rahmen herausgetreten. Und in meinem inneren Album ist das Foto ihres kämpferischen Gesichts aus der fünften Grundschulklasse im Lauf der Jahre auf den ersten Platz vorgerückt und hat andere Momentaufnahmen unseres gemeinsamen Lebens in den Schatten gestellt.

Später, als die Gesichter ausgeprägter wurden, ließen winzige Details eine von uns heiter und gewinnend erscheinen, und mich gewöhnlicher. Einige Millimeter Unterschied im Augenabstand genügten, ein etwas wärmerer Hautton, am Mund eine leichte Betonung des Amorbogens. Beim Malen erfahre ich jeden Tag, wie wenig es braucht.

Auf dem Gymnasium gingen wir in verschiedene, aber nebeneinandergelegene Klassen, doch ab der Hälfte des Vormittags durchdrang ihre Gegenwart die Wand, und ich spürte, wie sie sich, für die anderen unsichtbar, in meinem Klassenzimmer ausbreitete. So breitet sich jetzt, während ich arbeite, ab der Hälfte des Vormittags ihre Abwesenheit aus. Ich beschließe, eine Pause einzulegen, so sehr zieht sich die Kraft aus den Händen zurück in die Handgelenke, die Arme, zum Herzen. Ich trete an das große Fenster, das auf die Felder hinausgeht. Im Vorübergehen streichle ich den runden Mahagonitisch, der in meinem Wohnzimmer stand. Olivia und ich hatten ihn vor Jahren auf einer Antiquitätenmesse erworben, es sei ein englisches Stück aus dem 19. Jahrhundert, ein echtes Schnäppchen, hatte uns der Verkäufer versichert. Nach dem Erdbeben habe ich ihn gesäubert und vorerst auf seinen Messingrollen hier abgestellt. Ich weiß nicht, ob ich mir früher oder später wieder eine Wohnung um diesen Holztisch schaffen werde, der sich so angenehm anfühlt durch die ausgelöschten Spuren der anderen, die ihn vorher besessen haben.

Von draußen kommt auch an diesen kurzen Wintertagen immer viel Licht herein. Häufig genügt mir zum Malen der Sonnenschein, der durch die Fenster fällt. Und ich friere nie, der alte gusseiserne Ofen heizt den ganzen Raum, der Besitzer hatte recht. Gegen eine geringe Miete hat er mir das Erdgeschoss seiner Villa überlassen, dazu Berge von Brennholz und einen verrotteten Tisch an der Außenmauer, damit ich in der warmen Jahreszeit im Freien arbeiten kann. Es muss sich um eine Erbschaft handeln, aber ich weiß nichts darüber, ich werde mal die Briefträgerin fragen. Er lebt in Bologna und kommt einmal im Monat übers Wochenende, außerdem vierzehn Tage zu Weihnachten und den ganzen August. Innerlich nenne ich ihn den Professor; ich weiß, dass er an der Universität lehrt. Beim letzten Besuch vor den Feiertagen kauft er einen großen Karton voller Sachen von mir zum Verschenken, er wirkte ehrlich oder will mir einfach helfen.

Olivia würde dieser Ort hier gefallen, seltsam, dass er uns auf unseren endlosen Autofahrten entgangen ist. Jetzt würde sie mit dem Rücken zum Fenster sitzen und mir beim Malen zusehen. Wenn ich daran denke, fängt die Farbe an zu spinnen. Sie wird zäh und weigert sich eigensinnig zu fließen, oder aber sie wird zu flüssig und tropft auf die getrocknete Glasur. Der Pinsel stolpert über die mikroskopischen Unebenheiten der geschrühten Keramik.

Ich bin auf einer Insel gestrandet, die unversehrt geblieben ist, keine Bruchlinie führt hier vorbei, und außerdem war die Villa schon länger restauriert. Doch am Hang gegenüber kann man ein Dörfchen sehen, das durch eine Laune des Erdbebens zerstört wurde, und in der anderen Richtung, ganz unten dieser undeutliche Fleck, das ist L’Aquila. Von hier aus gesehen, könnte sie noch immer die sagenhafte Stadt der neunundneunzig Kirchen und neunundneunzig Brunnen sein. Ich könnte mich für heute Abend mit jemandem an der Fontana Luminosa verabreden und nach einem Film im Rex noch bis spät in die Nacht in einem Bierkeller in der Altstadt sitzen. Am nächsten Morgen würden mich um sieben die Glocken von San Pietro wecken, und ich könnte zu Fuß zur Arbeit gehen, quer durch die gewohnten Gassen.

5

Marco kam eines Nachmittags, als es in Strömen regnete.

Wir holten ihn am Parkplatz unter unserem Block zwischen den Erdbebenisolatoren ab. Er ließ die vier Wangenküsschen über sich ergehen, lud die Reisetaschen aus, stellte sie auf die Betonfläche und entfernte sich dann ein paar Meter. Roberto, der Exmann meiner Schwester, stieg mit der Langsamkeit eines alten Mannes aus dem Auto und wollte nach einem Gruß mit niedergeschlagenen Augen sofort wieder die Frage der Unterhaltszahlung anschneiden, als wäre die von seiner verstorbenen Frau auf uns übertragbar. Ich bekräftigte noch einmal unsere schon mehrfach am Telefon geäußerte Ablehnung. Wenn du meinst, tu das Geld auf die Bank für deinen Sohn, sagte meine Mutter herablassend, so kalt wie noch nie. Ich unterhielt mich kurz mit ihm über Marcos neue Schule, über die problemlos gefundenen Bücher, zum Glück war erst Oktober, der nach dem Erdbeben.

 

Der Junge achtete nicht auf unser schleppendes Gespräch, er hatte sich sofort die an irgendein Gerät angeschlossenen Ohrstöpsel reingeschoben. Ein bisschen krächzende Musik drang bis zu uns, als unter uns Erwachsenen Stille eingetreten war. Nach einem imaginären Fußball tretend ging er hin und her, ab und zu quietschten seine nicht zugebundenen Schuhe auf dem Zement.

In Rom bei seinem Vater hatte er es kaum sechs Monate ausgehalten, das restliche Frühjahr nach dem Erdbeben und den stumpfen Sommer über, und sich hinter einer undurchdringlichen Stummheit verschanzt. Seine Großmutter und ich hatten ihn in jener ersten Trauerzeit häufig gesehen und angerufen, doch er war auch mit uns nicht sehr gesprächig. Mein Schwager dagegen rief oft an, um sich über Marcos Untaten zu beklagen. Wenn es ihm nicht gelang, bemitleidet zu werden, nannte er ihn in pathetischem Ton dein Neffe. Mein Neffe hatte seiner jungen Geigerin, derentwegen er sich von Olivia getrennt hatte, die Autoreifen zerstochen.

»Dabei war sie so rücksichtsvoll«, tönte Roberto schamlos, »sie ist noch vor Marcos Ankunft in ein anderes Stadtviertel gezogen, damit wir unter uns sein können.« Durch sein nutzloses Warten auf meine Antworten entstanden im Gespräch immer wieder peinliche Pausen.

»Ab und zu kommt sie und kocht uns etwas Leckeres, aber Marco setzt sich nicht mal mit an den Tisch …«, ging das elende Gejammer weiter. Marco ernährte sich lieber von Crackern oder von Luft. Bei einem dieser Besuche war er hinuntergegangen und hatte die Operation Aufgeschlitzte Reifen durchgeführt.

»Mit einem Küchenmesser, stell dir mal vor«, wunderte sich Roberto noch immer.

Bei der Gelegenheit hatte ich meine ganze Sympathie für den jungen Saboteur verraten: »Wieso, was hätte er denn sonst nehmen sollen? Ein Skalpell?«

Enttäuscht von meinen kargen sporadischen Kommentaren, erzählte er dann ein paar dramatischere Episoden, um wenigstens ein bisschen Empörung auszulösen.

»Er muss unsere SMS gelesen haben … Er hat ihr von meinem Handy aus unanständiges Zeug geantwortet, so weit ist es schon gekommen. Und er traut sich sogar, es zu leugnen, sagt, dass er es nicht war. Oder vielmehr, er sagt gar nichts, schüttelt nur den Kopf.«

Marco weigerte sich stur, mit seinem Vater zu sprechen. Mittlerweile war er in Anbetracht des erlittenen Traumas von der zweiten in die dritte Klasse Mittelschule versetzt worden.

Als seine Großmutter und ich zum letzten Mal mit ihm telefoniert hatten, schien er aufzuhorchen bei der Nachricht unseres Umzugs in eine der Wohnungen des Projekts C.A.S.E. im Ortsteil Coppito 3. Am selben Abend wandte er sich unvermittelt an seinen Vater, aber nur, um ihm mitzuteilen, dass er zu uns ziehen würde, wenn wir ein Zimmer für ihn hätten. Roberto brauchte nur wenige Tage Bedenkzeit, um sich zu überzeugen, dass das die beste Lösung war. Zwanghaft wiederholte er es jedes Mal bei den häufigen Telefongesprächen jener Woche. Für ihn und für alle, für ihn und für alle, murmelte er hektisch, statt zu sagen, für mich, was die unangenehme Wahrheit gewesen wäre.

Während wir immer noch auf dem Parkplatz standen, kam ein Wind auf und wehte den Regen schräg bis auf die Motorhauben der Autos, die in der vordersten Reihe parkten. Ein Typ aus dem ersten Stock fuhr mit seinem Lieferwagen herein, der meterlange nasse Spuren hinterließ. Es wurde allmählich kalt da unter dem Block, und wir schwiegen seit ungefähr zwei Minuten, die uns in unserer quälenden Befangenheit ewig vorkamen. Alle drei blickten wir auf Marco, in ständiger Bewegung und zu dünn angezogen für ein so rauhes Klima. In einem letzten Versuch, seinen Sohn vor der Trennung noch einmal zu erreichen, ergriff Roberto diesen Vorwand.

»Kannst du nicht ein Sweatshirt überziehen?«, fragte er ihn laut, aber schon resigniert, und Marco hielt kurz inne, fixierte ihn und verzog leicht angeekelt den Mund. Dann trug er sein Gepäck noch ein paar Meter weiter von dem Auto weg, das ihn hergebracht hatte, als wollte er die überfällige Abfahrt beschleunigen, und schlenderte weiter in seinem Nirvana-Hemd in der feuchten Kälte herum.

Ich verschränkte fröstelnd die Arme, da begriff Roberto.

»Es wird spät, ich habe heute Abend ein Konzert in Rom«, flüsterte er. Er wirkte sehr schwach. Es gab keinen Grund, ihn hinaufzubitten.

Um sich nicht von seinem Vater verabschieden zu müssen, tat Marco so, als gelte seine ganze Aufmerksamkeit plötzlich einem Hund, der auf der Suche nach der richtigen Karosserie zum Pinkeln herumschwänzelte. Meine Mutter und ich sahen zu, wie er davonfuhr, der gebeugt in seinem leeren Auto sitzende Musiker. Der Junge kam erst näher, als das Motorengeräusch Richtung Staatsstraße verklungen war. Dann stiegen wir im Gänsemarsch mit den Taschen die Treppe hinauf, er stampfte auf jeder Stufe. Ich schloss ihm die Tür auf, und er betrat die Wohnung mit angehaltenem Atem, nach einigen Sekunden lief er sogar rot an. Instinktiv ging ich zum Balkon, und er schlug spontan den Fluchtweg ein.

Doch draußen tropfte unerbittlich das Wasser vom oberen Balkon, dessen Boden wie überall in dieser Siedlung aus Latten mit Ritzen dazwischen besteht. Er stand da und atmete die Nässe ein, die Tropfen rannen ihm über die Nasenspitze und aus den Locken, die vom Gewicht des Regens glatt herunterhingen. Seine Großmutter konnte es nicht mit ansehen und brachte ihm ein Handtuch.

»Komm rein und zieh dich um«, bat sie ihn, »sonst wirst du noch krank.«

Während ich am Herd heiße Schokolade kochte, servierte meine Mutter einen noch lauwarmen Apfelkuchen. Beim Anschneiden duftete er noch nach geschmolzener Butter, Zimt, Zitrone und Zuckerstreuseln. Mit Mühe aß Marco ein halbes Stück Kuchen und trank schlürfend ein paar heiße Schlucke. Anschließend hatte er den gleichen Dalí-Schnurrbart wie nach den Tausenden Tassen Kakao, die er als Kind getrunken hatte. Untröstlich saß er da, unserer hilflosen Fürsorge ausgeliefert.

Später zeigte ich ihm das blank geputzte Zimmer mit den orange-gelben Vorhängen und der dazu passenden Tagesdecke auf dem Bett. Er warf sich darauf und schlief sofort ein, wie ohnmächtig. Zur Abendessenszeit fragte sich die Großmutter besorgt, ob sie ihn wecken sollte. Ich konnte sie überzeugen, dass ihm eine Mahlzeit weniger nichts ausmachen würde, zog ihm die stinkenden Schuhe aus und deckte ihn für die Nacht zu.

Am nächsten Morgen überzogen lauter neu erblühte Pickel das apathische Gesicht.

6

Im Winter kommt die Müllabfuhr noch vor Tagesanbruch zu den C.A.S.E., wenn es am dunkelsten und eisigsten ist. Ich bin schon lange wach, den Atem meiner Mutter im anderen Bett nehme ich inzwischen kaum noch wahr. In einer Nachbarwohnung oder vielleicht im Stockwerk über uns wird jemand von einem anhaltenden, nervenaufreibenden Husten gequält, hält für eine kurze Atempause inne, dann geht es wieder los. In unbestimmter Ferne bellt immer derselbe Hund, drei kehlige, tiefe Laute, die er alle paar Sekunden wiederholt, sie wecken ein Angstgefühl in meinem Bauch, das meinen Darm in Bewegung bringt. Gleiches bewirkt der Wind, wenn er so gewaltsam gegen die Scheiben drückt, dass man meinen könnte, sie wölbten sich in die noch dunklen Zimmer hinein.

Am Ende der Nacht warte ich auf die Müllmänner. Ich erkenne das Geräusch beim Herunterschalten unten an der Abzweigung der Staatsstraße. Ich stelle mir die zwei Männer hinter den von ihrem Atem beschlagenen Autofenstern vor, folge ihnen, wenn sie an die Container heranfahren und aussteigen, um den Müll abzutransportieren; nach einigen Schritten auf dem Asphalt steigen sie wieder ein, die Türen werden nacheinander geschlossen. Der Fahrer greift mit Unfallschutzhandschuhen nach dem Lenkrad und legt knirschend den Rückwärtsgang ein, dann den ersten, den zweiten und los, der Motor verklingt in der noch vollkommenen Dunkelheit. Und weg sind sie, ohne etwas von der kurzen Intimität zwischen ihnen und mir zu ahnen. Bei jedem Halt erinnert sie die beißende Kälte daran, dass sie noch leben.

Manchmal höre ich, wie Marco, der im Nebenzimmer schläft, mit tieferer Stimme als tagsüber unbekannte Sprachen spricht. Wenn ich die Kraft aufbringe, gehe ich hinüber und lege die beim Träumen verrutschte Decke wieder über ihn, streiche ihm ohne sein Wissen über die Haare und die von geheimnisvollen Abenteuern zerfurchte Stirn. Heute früh wimmerte er gegen fünf Uhr, auch seine Großmutter hat es bemerkt.

Bleib im Bett, habe ich geflüstert und bin aufgestanden, ohne Licht zu machen. Im Durchgang zwischen den beiden Zimmern bin ich über etwas Weiches gestolpert, der Länge nach hingefallen und mit dem Kopf gegen den Türrahmen geknallt. Noch bevor ich mich wieder aufgerappelt habe, ist mir am Mief von Marcos Schuhen klar geworden, was passiert war: Jeden Tag sage ich ihm, dass er sie nicht herumliegen lassen soll. Wütend habe ich sie mit meinen Pantoffeln zur Seite gekickt, meine Mutter beobachtete mich bestürzt. Er schlief selig weiter und stöhnte nicht einmal mehr.

Im ersten Augenblick schmerzte der im Fall verstauchte Finger nur leicht, und ich schlüpfte wieder unter meine Steppdecke, schon um mich aufzuwärmen. Um sieben Uhr beschloss ich, mit dem inzwischen pulsierenden, wurstähnlichen Finger in die Notaufnahme zu fahren, wo sie mir die niedrigste Dringlichkeitsstufe zuwiesen. Die Krankenschwester lächelte über die unübersehbare Beule auf meiner Stirn, die ich ganz vergessen hatte.

Nach stundenlangem Warten stellen sie endlich fest, dass nichts gebrochen ist, und beginnen, mit Verbandsmull und Schienen zu hantieren. Ich bitte den Pfleger, Daumen und Zeigefinger möglichst frei zu lassen.

»Wozu brauchen Sie die?«, will er wissen, während er anfängt, sie einzubinden. Ausweichend erzähle ich ihm etwas von dringenden Lieferterminen und Keramiken, die ich bemalen muss.

»Ah, meine Mutter liebt Keramik, aber der Finger hier, wie ist das eigentlich passiert?«, fragt er neugieriger.

»Ich bin im Dunkeln über die Schuhe meines Neffen gestolpert«, antworte ich ganz ruhig, und er schüttelt lachend den Kopf. »Aber malen können Sie damit ohnehin nicht«, fügt er ungerührt hinzu.

Ich gehe durch die Glastür und denke, ich sehe nicht recht: Da sitzt er in seiner ganzen Haarpracht hinten im Wartezimmer, die zu langen Gliedmaßen angewinkelt, denn er weiß nicht, wohin damit, den Rucksack nachlässig unter den blauen Plastiksitz geknallt. Der elektrisch aufgeladene Pony fällt ihm über die Augen, entweder hat er mich wirklich nicht gesehen, oder er tut nur so. Ich eile schnurstracks an ihm vorbei, noch dazu trägt er genau die Schuhe. Ich gehe den Flur entlang und wende mich zum Ausgang. Plötzlich kommt mir der Zweifel, dass er nicht meinetwegen hier ist, sondern weil es ihm schlecht geht; eigentlich müsste er um diese Zeit in der Schule sein. Hastig mache ich kehrt, und als ich um die Ecke biege, stoßen wir beinahe zusammen, fast hätte ich ihm meinen geschienten Mittelfinger ins Auge gerammt. Er stößt einen unterdrückten Schrei aus.

Sofort falle ich ungehalten über ihn her.

»Wieso bist du hier statt in der Schule, wer hat dich überhaupt hergebracht? Darf man erfahren, wann du endlich etwas besser auf deine Sachen aufpasst? Hast du gesehen, was du angerichtet hast?«

Die Vorübergehenden schauen uns an, bestimmt halten sie uns für Mutter und Sohn. Ich warte auf den Gegenangriff, doch er dreht sich weg und schweigt; wenn er das macht, verbirgt er die Tränen, ich weiß es. Ich betrachte meinen geschienten Finger und würde ihn mir vor Scham am liebsten abschneiden lassen, zusammen mit der Zunge, und beides wie Schnittblumen auf dem Grab meiner Schwester verdorren lassen. Als ich leise Marco rufen will, versagt mir die Stimme. Ich berühre seinen Arm, und er zieht ihn nicht weg, er stößt ihn mir nicht in den Bauch, wie ich es verdient hätte. Ich entschuldige mich, sage, dass ich mit meiner verdammten Angewohnheit, im Dunkeln durch die Wohnung zu tappen, ja selbst schuld bin, jedenfalls ist nichts gebrochen, bloß eine leichte Verstauchung, er soll sich keine Sorgen machen. Ich drücke seinen Arm etwas fester und spüre, wie schmächtig und hart er unter der Daunenfüllung ist.

Einige Minuten bleiben wir noch so stehen, dann gehen wir in stillschweigendem Einverständnis los.

»Wie machst du es jetzt mit dem Fahren?«, fragt er, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. »Ich helfe dir, das Steuer zu halten«, bietet er an, »dann kannst du mit der linken Hand schalten.«

Er ist geschickt, wahrscheinlich durch all diese Computerspiele; wir wählen einen längeren Weg, und im Lauf der Kilometer werde ich lockerer, überlasse ihm fast ganz die Kontrolle über das Lenkrad. Auf einmal lacht er, schlägt sich aufs Knie.

 

»Jetzt wirst du die ganze Zeit mit Stinkefinger rumlaufen«, bemerkt er, »und durch die Schiene fällt es noch mehr auf.« Nacheinander beantwortet er alle meine Fragen von vorher.

»In der Schule hatten wir heute in den letzten Stunden eine Versammlung, die Großmutter hat mir eine Erlaubnis unterschrieben, dass ich früher gehen darf, also bin ich hergekommen, um nachzusehen, wie es dir geht. Die Krankenschwester mit dem Schnurrbart in der Notaufnahme sagte mir, sie müssten dich noch verarzten. Daraufhin habe ich die Großmutter angerufen, heute früh war sie ein bisschen in Sorge um dich.«