Arminuta

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7

Als wir fast zu Hause angekommen waren, gab uns Vincenzo seinen Schlüssel. Er habe beim Karussell etwas vergessen, wir sollten ihm die Tür angelehnt lassen. Aber er kam und kam nicht, während ich wach lag, noch aufgeregt von dem Höhenflug. Auf der anderen Seite der Wand im Elternschlafzimmer ein rhythmisches Quietschen, dann nichts mehr. Die Stunden vergingen, und meine Beine zuckten unruhig, ich stieß mit dem Fuß gegen Adrianas Gesicht. Später erreichte mich die gewohnte Feuchtigkeit, ich stand auf und legte mich in Vincenzos immer noch leeres Bett. Als ich mich darin bewegte, begegneten mir die Gerüche seiner verschiedenen Körperzonen, Achseln, Mund, Geschlechtsbereich. Ich stellte ihn mir vor, wie er sich vor dem Wohnwagen mit seinem Zigeunerfreund über den Rauch der Zigaretten hinweg unterhielt. So schlief ich schließlich gegen Morgen ein.

Zum Mittagessen tauchte er wieder auf, in Arbeitshosen voller angetrockneter Zementflecken. Niemand schien seine nächtliche Abwesenheit bemerkt zu haben. Als er an den Tisch trat, wechselten die Eltern nur einen Blick.

Eiskalt schlug der Vater zu, ohne ein Wort. Vincenzo verlor das Gleichgewicht, im Fallen landete seine Hand in dem Teller voller Pasta mit Soße aus den Tomaten, die er in den Tagen zuvor bei der Feldarbeit verdient hatte. Auf dem Boden kauerte er sich abwehrend zusammen und wartete mit geschlossenen Augen, dass es vorbei wäre. Als sich die Füße des Vaters entfernten, rollte er ein wenig zur Seite und blieb auf dem Rücken liegen, um sich auf dem kühlen Fußboden zu erholen.

»Los, esst schon, ihr«, befahl die Mutter, das Baby im Arm. Es hatte bei dem Aufruhr nicht geweint, als sei es daran gewöhnt. Die Jungen gehorchten augenblicklich, Adriana etwas lustlos und später, nachdem sie die Tischdecke wieder glatt gezogen hatte. Nur ich war erschrocken, weil ich Gewalt noch nie aus der Nähe gesehen hatte.

Ich ging zu Vincenzo hin. Ein rascher, oberflächlicher Atem hob seine Brust. Aus seinen Nasenlöchern liefen zwei Blutrinnsale in den offenen Mund, und ein Backenknochen war schon leicht geschwollen. An seiner Hand klebte noch Sugo. Ich hielt ihm das Taschentuch hin, das ich einstecken hatte, doch er drehte sich weg, ohne es anzunehmen. Daraufhin setzte ich mich neben ihn auf den Boden, wie ein Punkt neben seinem Schweigen. Er wusste, dass ich da war, und schickte mich nicht weg.

»Das nächste Mal mach ich ihn zu Hackfleisch«, knurrte er zwischen den Zähnen, als er hörte, wie der Vater vom Tisch aufstand. Inzwischen hatten alle fertig gegessen, Adriana fing an abzuräumen, und der Kleine weinte vor Müdigkeit.

»Wenn du nichts essen willst, ist’s deine Sache«, sagte die Mutter im Vorbeigehen zu mir, »aber den Abwasch machst du trotzdem, heute bist du dran.« Sie deutete auf das volle Spülbecken. Sie haben sich nicht einmal angesehen, der Sohn und sie.

Vincenzo stand auf und säuberte im Bad sein Gesicht. Er stopfte sich ein bisschen zusammengerolltes Klopapier in die Nasenlöcher und lief hastig zur Arbeit, die Mittagspause war schon eine Weile zu Ende.

Während sie das Geschirr nachspülte, das ich ihr noch seifig reichte, erzählte Adriana mir von den Fluchten ihres Bruders. Beim ersten Mal, mit vierzehn, war er den Ausstellern nach einem Fest im Nachbardorf gefolgt. Er hatte ihnen geholfen, die Buden abzubauen, und sich, als sie aufbrachen, auf der Ladefläche eines Lastwagens versteckt. Beim nächsten Halt war er herausgekommen, voller Angst, nach Hause zurückgeschickt zu werden. Doch die Zigeuner hatten ihn ein paar Tage behalten, er arbeitete mit ihnen, während sie durch die Provinz tingelten. Als sie ihn dann in einen Bus setzten, der ihn wieder zu seiner Familie bringen sollte, hatten sie ihm zum Andenken ein kostbares Geschenk gemacht.

»Papa hat ihn nach Strich und Faden verprügelt«, sagte Adriana, »aber den Silberring mit den geheimnisvollen Zeichen hat er behalten. Den hat ihm sein Freund geschenkt, den du gestern gesehen hast.«

»Aber Vincenzo trägt doch gar keinen Ring.« »Er hat ihn versteckt. Manchmal streift er ihn über, dann dreht er ihn zwischen den Fingern und versteckt ihn wieder.«

»Wo denn? Weißt du das?«

»Nein, das wechselt. Es muss ein Zauberring sein, wenn Vincenzo ihn anfasst, ist er danach ’ne Weile glücklich.«

»Hat er heute Nacht auch bei den Zigeunern geschlafen?«

»Ich glaub schon. Wenn er mit diesem zufriedenen Gesicht heimkommt, war er immer bei denen. Dabei weiß er genau, dass er dann Prügel kriegt.«

Die Mutter rief sie zum Wäscheabnehmen auf den Balkon. Im Vergleich zu Adriana musste ich viel weniger im Haushalt helfen. Vielleicht wollte sie mich schonen oder vergaß, dass ich da war. Bestimmt traute sie mir nicht viel zu, und damit hatte sie nicht Unrecht. Manchmal verstand ich nicht einmal, was sie befahl, in diesem schnellen, abgehackten Dialekt.

»Weißt du noch, wie es war, als Vincenzo das erste Mal abgehauen ist?«, fragte ich, als Adriana in die Küche kam, um die zusammengelegten Lappen aufzuräumen. »War sie verzweifelt? Haben sie die Carabinieri benachrichtigt?«

Adriana runzelte die Stirn, bis ihre Brauen fast in der Mitte zusammenstießen.

»Die Carabinieri? Nein. Papa hat ihn mit dem Auto gesucht. Geweint hat die da nicht, aber immerhin den Mund gehalten«, antwortete sie und wies mit dem Kinn in Richtung des Geschreis gegen irgendeinen Sohn, drüben im Zimmer.

8

Um wenigstens ein bisschen zu schlafen, dachte ich ans Meer. Das Meer wenige Dutzend Meter von dem Haus entfernt, das ich bis vor einigen Tagen für mein Zuhause gehalten und wo ich von klein auf gewohnt hatte. Nur die Straße trennte den Garten vom Strand; wenn Südwestwind wehte, schloss meine Mutter die Fenster und ließ die Rollläden ganz herunter, damit der Sand nicht in die Zimmer drang. Aber das Brausen der Wellen hörte man, kaum gedämpft, und nachts wiegte es einen in den Schlaf. Daran dachte ich, wenn ich mit Adriana im Bett lag.

Wie Märchen erzählte ich ihr von den Spaziergängen mit meinen Eltern auf der Seepromenade, bis zur bekanntesten Eisdiele der Stadt. Sie ging mit Trägerkleid und rot lackierten Zehennägeln an seinem Arm, während ich vorauslief, um mich anzustellen. Gemischtes Fruchteis mit Schlagsahne für mich, Schokolade und Kaffee für die beiden. Adriana wusste gar nicht, dass es so viele Sorten gibt, ich musste sie ihr mehrmals aufzählen.

»Wo liegt diese Stadt überhaupt?«, fragte sie begierig, als handle es sich um einen magischen Ort.

»Etwa fünfzig Kilometer von hier.«

»Fahr doch mal mit mir hin, dann zeigst du mir auch das Meer. Und den Eisladen.«

Ich erzählte ihr von den Abendessen im Garten. Ich deckte den Tisch, während die Badegäste vom Strand kamen und wenige Meter entfernt auf dem Fußweg hinter dem Gartenzaun vorbeigingen. Sie schlurften in ihren Holzsandalen, und an ihren Fesseln rieselten die Sandkörnchen herab.

»Und was habt ihr gegessen?«, wollte Adriana wissen.

»Gewöhnlich Fisch.«

»Also Thunfisch aus der Dose?«

»Nein, nein, es gibt noch ganz viele andere. Wir haben sie immer frisch auf dem Fischmarkt gekauft.«

Ich beschrieb ihr die Tintenfische, indem ich mit den Fingern die Fangarme nachahmte. Dann die ausgestellten, sich im Todeskampf windenden kleinen Bärenkrebse, die ich fasziniert beobachtete. Sie starrten mit den beiden dunklen Flecken am Schwanz zurück wie mit vorwurfsvollen Augen. Auf dem Rückweg, am Bahndamm entlang zusammen mit meiner Mutter, raschelte die Tüte bei ihren letzten Zuckungen.

Beim Erzählen war mir, als schmeckte ich die frittierten Fische, die gefüllten Calamari und die Fischsuppen, die sie zubereitete, noch auf der Zunge. Wer weiß, wie es meiner Mutter jetzt ging. Ob sie wieder ein bisschen zu essen angefangen hatte, ob sie öfter mal aufstand. Oder ob sie in irgendeinem Krankenhaus lag. Über ihre Krankheit hatte sie mir nichts sagen wollen, bestimmt wollte sie mich nicht erschrecken, aber in den letzten Monaten hatte ich sie leiden sehen, sie ging nicht einmal mehr an den Strand, obwohl sie sonst immer schon in den ersten lauen Maitagen damit angefangen hatte. Mit ihrer Erlaubnis ging ich allein zu unserem Sonnenschirm, mittlerweile sei ich ja groß genug, sagte sie. Auch am Tag meiner Abreise bin ich am Strand gewesen und habe mit den Freundinnen sogar Spaß gehabt, ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Eltern tatsächlich den Mut aufbringen würden, mich zurückzugeben.

Ich war noch immer braun, unterbrochen vom Weiß in Form eines Bikinis. In diesem Jahr brauchte ich einen Büstenhalter, ich war kein Kind mehr. Auch meine Brüder waren braun, aber nur da, wo bei der Arbeit oder beim Spielen im Freien die Sonne hinkam. Wahrscheinlich hatten sie sich am Anfang des Sommers geschält und waren dann erneut braun geworden. Vincenzo trug auf dem Rücken die dauerhafte Landkarte seiner Sonnenbrände.

»Hattest du auch Freundinnen in der Stadt?«, fragte Adriana. Sie hatte eben am Fenster eine Klassenkameradin begrüßt, die unten auf dem Platz nach ihr rief.

»O ja. Vor allem Patrizia.«

Mit Patrizia zusammen hatte ich auch im Frühling den Bikini ausgesucht. Wir hatten ihn in einem Geschäft in der Nähe des Schwimmbads gekauft, auch dorthin gingen wir zusammen. Sie war eine Superschwimmerin, ich ging eher gezwungenermaßen hin. Mir war immer kalt: bevor ich ins Wasser stieg, wenn ich wieder herauskam. Das Grau in dem Becken, der Chlorgeruch, das alles gefiel mir nicht. Aber jetzt, wo alles anders war, sehnte ich mich sogar danach.

Wir wollten uns den gleichen Bikini kaufen, Pat und ich, um uns am Strand mit unseren neuen Formen zu zeigen. Im Abstand von einer Woche hatten wir unsere erste Monatsblutung gehabt, und auch das Aufblühen der Pickel schien abgestimmt zu sein. Unsere Körper zeigten sich gegenseitig den Weg.

 

»Dir steht der hier besser«, hatte meine Mutter zwischen den Regalen des Geschäfts gerufen und einen weniger knappen Bikini hochgehalten. »Und die Haut am Busen ist auch besonders zart, weißt du, mit dem anderen würdest du dir einen Sonnenbrand holen.« Ich erinnere mich an jedes Detail dieses Nachmittags, am nächsten Tag ist sie krank geworden.

So hatte ich auf den winzigen Bikini mit Schleife zwischen den Körbchen und an den Hüften verzichtet. Patrizia nicht, sie wollte ihn trotzdem. Sie kam oft zu uns nach Hause, ich zu ihr seltener; meine Eltern fürchteten, die Untugenden ihrer Familie könnten mich anstecken. Sie waren fröhlich, ein wenig zerstreut und unordentlich. Nie sahen wir sie sonntags in der Messe, nicht einmal zu Ostern und Weihnachten, vielleicht standen sie nicht früh genug auf. Wenn sie Hunger hatten, aßen sie, was ihnen gerade passte, und sie verwöhnten auch ihre zwei Hunde und eine ungezogene Katze, die auf den Tisch sprang, um die Reste zu stehlen. Ich erinnere mich an die nachmittäglichen Brote, die wir uns allein schmierten, mit Wellen von Schokolade, auch wenn das den Zähnen schadete.

»Die gibt mir Kraft zum Schwimmen«, sagte Pat. »Nimm doch noch eine Scheibe, deine Mutter sieht es ja nicht.«

Nur einmal durfte ich bei ihr übernachten. Ihre Eltern waren ins Kino gegangen, und wir saßen bis spät vor dem Fernseher und knabberten Chips, und dann blieben wir noch fast die ganze Nacht wach und redeten von Bett zu Bett, mit der Katze, die schnurrend auf der Decke lag. Solche Freiheiten war ich nicht gewöhnt, am nächsten Tag wäre ich zu Hause beinahe über dem Hühnerbrustfilet eingeschlafen.

»Die werden dir doch nichts gegeben haben?«, fragte meine Mutter besorgt.

Patrizia hielt es für einen Scherz, als ich ihr sagte, ich müsse weggehen. Anfangs begriff sie diese Geschichte von der echten Familie, die mich wiederhaben wollte, nicht, und ich begriff sie noch weniger, als ich sie aus meinem eigenen Mund hörte, so wie man sie mir erzählt hatte. Ich musste sie erneut erklären, und plötzlich wurde Pat von Schluchzern geschüttelt. Da bin ich wirklich erschrocken, an ihrer Reaktion erkannte ich, dass mir etwas Schlimmes bevorstand. Pat weinte sonst nie.

»Hab keine Angst, deine Eltern, diese hier, meine ich, werden das nicht zulassen. Dein Vater ist doch Carabiniere, er wird schon einen Ausweg finden«, versuchte sie, mich zu trösten, als sie sich wieder gefasst hatte.

»Er sagt immer wieder, dass er’s nicht verhindern kann.«

»Deine Mutter ist bestimmt fix und fertig.«

»Seit einer Weile geht es ihr nicht gut, vielleicht seit sie weiß, dass sie mich nicht mehr behalten kann. Oder sie hat beschlossen, mich wegzugeben, weil sie krank ist und es mir verheimlichen will. Eine Familie, die nie aufgetaucht ist, und jetzt wollen sie mich auf einmal zurückhaben – das kann ich einfach nicht glauben.«

»Wenn man dich so anschaut, ähnelst du allerdings keinem von deinen Eltern. Jedenfalls nicht denen, die wir kennen.«

Die Idee kam mir dann in der Nacht, am Morgen teilte ich sie Patrizia unter ihrem Sonnenschirm mit. Wir schmückten sie bis in die kleinsten Einzelheiten aus und waren von unserem Plan begeistert. Nach dem Mittagessen lief ich schnurstracks zu ihr, ohne meine Mutter, die im Schlafzimmer ruhte, um Erlaubnis zu fragen. Zu der Zeit hätte sie mich sowieso gehen lassen, mit einem müden, gedankenverlorenen Ja.

Pat öffnete mir mit gesenktem Kopf, hielt sich an der Türe fest und schob mit dem Fuß barsch die Katze weg, die ihr mit dem Schwanz um die Beine strich. Ich wollte schon gar nicht mehr eintreten. Doch sie nahm mich an der Hand und begleitete mich zu dem Nein, das ihre Mutter mir sagen musste. Wir Mädchen hatten uns ausgedacht, dass wir am folgenden Tag vom Strand zusammen zu Pat gehen würden und ich mich dort verstecken würde, solange es nötig war, auch ein, zwei Monate. Wenn ich verschwunden wäre, würden sich diese ganzen Eltern vielleicht mehr anstrengen, um eine Lösung für mich zu finden. Ich würde auch daheim anrufen, aber nur einmal und nur ganz kurz – wie im Kino –, um sie zu beruhigen und ihnen meine Bedingungen zu diktieren.

»Ich geh nicht zu denen. Entweder ich ziehe zu euch, oder ich hau ab und zieh durch die Welt.«

Pats Mama umarmte mich fest, mit der gewohnten Herzlichkeit und einer neuen Verlegenheit. Sie machte etwas Platz auf dem Sofa und bedeutete mir, mich neben sie zu setzen. Auch sie schob die Katze weg, es war nicht ihr Moment.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte sie. »Du weißt, wie sehr ich dich mag. Aber das geht nicht.«

9

»Hat’s dir in der Stadt nicht gepasst?«, fragte mich Vincenzo unvermittelt.

Wir waren im Abstellraum im Souterrain des Wohnhauses. An den Wänden entlang ein unförmiger Haufen kaputter Körbe, von der Feuchtigkeit wellige Kartons, eine löchrige Matratze, aus der Wollflocken herausquollen. In einer Ecke eine Puppe ohne Kopf. In dem wenigen freien Raum in der Mitte schälten wir Kinder die Tomaten zum Einmachen und schnitten sie in Stücke, ich aber war die langsamste.

»Das hat die Signorina wohl noch nie gemacht«, hatte mich schon einer der Brüder mit Fistelstimme verhöhnt.

Der Kleine tauchte einen Arm in den Eimer mit den Abfällen und steckte ein Stückchen in den Mund. Die Mutter war gerade nicht da, sie war etwas holen gegangen.

»Also? Wieso bist du hierhergezogen?«, hakte Vincenzo nach und wies mit rot verschmierter Hand in die Runde.

»Das hab ja nicht ich entschieden. Meine Mutter hat gesagt, ich wäre jetzt groß und meine echten Eltern wollten mich wiederhaben.«

Die Augen auf mich gerichtet, hörte Adriana aufmerksam zu, sie brauchte nicht auf ihre Finger und das Messer zu schauen, mit dem sie arbeitete.

»So ’n Quatsch! Schlag’s dir aus dem Kopf, von dir hat hier keiner geträumt!«, sagte Sergio, der gemeinste. »He, Ma«, brüllte er dann nach draußen, »stimmt es wirklich, dass du sie zurückgewollt hast, diese blöde Gans?«

Vincenzo schubste ihn mit dem Arm, und Sergio fiel hämisch lachend von der umgedrehten Holzkiste, auf der er saß. Mit dem Fuß stieß er gegen einen halb vollen Behälter, und ein paar schon geschälte Tomaten landeten auf dem Zementboden im Staub. Ohne zu überlegen, wollte ich sie wegwerfen, doch mit einer raschen, erwachsenen Bewegung nahm Adriana sie mir noch rechtzeitig weg. Sie spülte sie ab und drückte sie aus, bevor sie sie in den großen Topf zurücktat. Schweigend drehte sie sich um und fixierte mich, hatte ich verstanden? Man durfte nichts vergeuden. Ich nickte.

Die Mutter brachte die sauberen Flaschen, in die die Tomaten abgefüllt wurden. In jeder lag schon ein Basilikumblatt.

»O Gott, hast du etwa heut deine Tage?«, fragte sie mich schroff.

Vor Scham antwortete ich zu leise.

»Was? Ja oder nein?«

Mit einer Geste des Fingers wiederholte ich mein Nein. »Ein Glück, sonst wär hier alles verschimmelt. Wenn du deine Blutung kriegst, kannst du bestimmte Arbeiten nicht machen.«

Auf dem Feuer, das in einem Winkel zwischen dem Wohnhaus und der erdigen Böschung brannte, wurden die Flaschen mit Sugo dann in einem riesigen Kessel im Wasserbad sterilisiert und waren gerade fertig. Da erschien Vincenzo, sich immer wieder umblickend, mit einem halben Sack voll Maiskolben und überhörte geflissentlich die Frage, wo er die herhätte. Wir entfernten die Blätter und den Bart, die Körner innen waren zart und verspritzten Milch, wenn man sie mit dem Fingernagel ritzte. Ich beobachtete die anderen und machte es wie sie. Der Rand eines Blatts schnitt mir in meine noch zu weiche Haut.

Anschließend röstete Vincenzo sie über der verbleibenden Glut und wendete sie ab und zu mit bloßen Händen, mit einem raschen Schubs seiner schwieligen Fingerspitzen.

»Wenn sie ein bisschen angekohlt sind, schmecken sie besser«, erklärte er mir mit einem schiefen Lächeln.

Den ersten hielt er Sergio, der sich schon freute, kurz vor die Nase und reichte ihn dann mir. Ich verbrannte mich daran.

»Recht geschieht’s ihr«, knurrte Sergio, während er wartete, bis er an die Reihe kam.

»Maiskolben habe ich fast noch nie gegessen, und nur gekocht. So sind sie viel leckerer«, sagte ich.

Niemand hörte es. Stumm half ich Adriana, alle Gefäße zu spülen, die wir für die Soße gebraucht hatten, und sie wieder im Abstellraum zu verstauen.

»Kümmer dich nicht um Sergio, der ist zu allen gemein.«

»Womöglich hat er recht, vielleicht haben deine Eltern mich gar nicht zurückgewollt. Inzwischen bin ich mir sicher, dass ich hier bin, weil meine Mutter krank ist. Aber ich wette, wenn sie wieder gesund ist, kommt sie mich holen.«

10

Liebe Mama oder liebe Tante,

ich weiß nicht mehr, wie ich dich nennen soll, aber ich will wieder zu dir. Im Dorf geht es mir nicht gut, es ist nicht wahr, dass eure Verwandten mich erwartet haben, im Gegenteil, sie haben mich aufgenommen wie ein Unglück, ich bin allen im Weg und bloß ein Esser mehr.

Du hast immer gesagt, das Wichtigste für ein Mädchen ist die persönliche Hygiene, deshalb berichte ich dir, dass es in diesem Haus sogar schwierig ist, sich zu waschen. Wir teilen uns zu zweit ein schmales Bett mit einer Matratze, die nach Pipi stinkt. Im selben Zimmer schlafen auch die Jungen, sie sind fünfzehn und älter, das würde dir gar nicht gefallen. Ich weiß nicht, was hier noch passieren kann. Du gehst doch jeden Sonntag in die Messe und unterrichtest im Pfarrhaus Katechismus, du kannst mich in dieser Lage nicht allein lassen.

Du bist krank und wolltest mir nicht sagen, was du hast, aber ich bin groß genug, um dir nahe zu sein und dir zu helfen.

Ich habe verstanden, dass du mich als Baby zu meinem Besten aufgenommen hast, weil ich in einer armen, kinderreichen Familie geboren war. Hier hat sich nichts geändert. Wenn ich dir wichtig bin, dann schicke bitte den Onkel, er soll mich abholen, andernfalls springe ich irgendwann aus dem Fenster.

P.S.

Entschuldige, dass ich mich nicht von dir verabschieden wollte an dem Morgen, als ihr mich gezwungen habt wegzugehen, und danke für die fünftausend Lire, die du zwischen die Taschentücher gelegt hast. Was noch übrig ist, wird für den Umschlag und die Briefmarke reichen.

Ich vergaß, den Brief zu unterschreiben, den ich auf eine aus einem linierten Heft herausgerissene Seite gekritzelt hatte. Neben der Tür des Tabakladens warf ich ihn in den roten Briefkasten und zählte das Restgeld, genug für zwei Wassereis, eins mit Pfefferminzgeschmack für mich und eins mit Zitrone für Adriana.

»An wen hast du den Brief geschickt?«, fragte sie, während sie das Eis auspackte und das Papier sorgfältig ableckte.

»An meine Mama in der Stadt.«

»Die ist keine Mama.«

»Na gut, an die Tante«, korrigierte ich mich genervt.

»Genau, sie ist die Cousine zweiten Grades von unserm Vater. Das heißt, in Wirklichkeit ist der Mann der Cousin, der, der dich hergebracht hat, der Carabiniere. Aber das Geld hat sie, sie sorgt für dich.«

»Woher weißt du das?« Die hellgrüne Flüssigkeit lief am Stil entlang auf meine Finger.

»Gestern Abend hab ich unsre Eltern im Schlafzimmer reden hören. Ich hatte mich im Schrank versteckt, weil Sergio mich verhauen wollte. Anscheinend will dich diese Adalgisa sogar auf die Oberschule schicken, du Ärmste.«

»Was haben sie noch gesagt?« Ich drehte das Eis um, damit es von der Spitze tropfte.

Adriana schüttelte den Kopf, nahm es mir weg, leckte es rundherum ab, gab es mir zurück und forderte mich mit einer ungeduldigen Geste auf, es endlich zu essen.

»So wie die in der Patsche steckt, wiederholten sie immerzu.«

Lustlos lutschte ich an dem Rest Eis, steckte es eine Weile ganz in den Mund, bis nur noch ein farbloser, frostiger Hauch übrig blieb.

»Gib her«, sagte Adriana gereizt und nagte den Stiel vollends ab.

Ich fragte den Postboten, wie lange ein Brief in die Stadt brauchen würde, verdoppelte die Tage und gab für die Antwort noch einen zu. Dann begann ich zu warten, saß jeden Morgen ab elf Uhr auf dem Mäuerchen, während die Kinder auf dem Platz Fangen oder Kästchenhüpfen spielten. In der freundlichen Septembersonne baumelte ich mit den Beinen und malte mir manchmal aus, anstelle eines frankierten Umschlags würde gleich der Onkel kommen, der Carabiniere, den ich für meinen Vater gehalten hatte. Mit einem langen, grauen Auto würde er mich heimfahren, und dann würde ich ihm alles verzeihen, dass er sich nicht geweigert hatte, mich zurückzugeben, dass er mich dort auf dem Asphalt hatte stehen lassen.

 

Oder sie würden alle beide kommen, sie wieder gesund, die Haare toupiert von dem üblichen Friseur, der auch mir die Haare schnitt – mittlerweile war mir der Pony über die Augen gewachsen –, um den Hals eines der weichen Seidentücher, die sie in den Übergangszeiten trug.

»Was erwartest du, einen Liebesbrief?«, scherzte der Postbote, nachdem er zu meiner Enttäuschung vergeblich in seiner Ledertasche gesucht hatte.

Der Lieferwagen hielt mitten am Nachmittag unter dem azurblauen Himmel. Der Mann am Steuer stieg aus, um zu fragen, in welchem Stock die Empfängerin der Waren wohnte, der Name war der meiner Mutter. Er begann, einige verpackte Teile auszuladen, die Kinder unterbrachen sofort ihre Spiele, um ihm zu helfen, die Sachen die Treppe hinaufzutragen. Wir waren alle neugierig, und ihm machte es Spaß, uns in Spannung zu halten.

»Vorsicht, Vorsicht mit den Ecken. Gleich, wenn ich es aufbaue, werdet ihr sehen, was es ist«, wiederholte er den Ungeduldigsten.

»Wo schlafen die Mädchen?«, fragte er, als folgte er auswendig gelernten Anweisungen.

Adriana und ich öffneten ihm die Tür zu unserem Zimmer und sahen uns ungläubig an. In wenigen Minuten nahm vor unseren Augen ein Stockbett Gestalt an, komplett mit Leiter und neuen Matratzen. Der Mann schob es an die Wand und stellte rund um die freien Seiten einen faltbaren, dreiteiligen Paravent auf, um es abzuschirmen. Dann lief er hinunter, um noch etwas zu holen, die Antwort auf meinen Brief war noch nicht vollständig.

»Wer hat dieses ganze Zeug überhaupt bestellt? Und wer soll das jetzt bezahlen?«, fragte Adriana besorgt, als erwachte sie plötzlich aus einem Traum. »Papa hat schon Schulden. Und wo ist Mama eigentlich abgeblieben?«

Nach dem Mittagessen war sie mit dem Kleinen verschwunden, ohne uns Bescheid zu sagen. Vielleicht war sie bei irgendeiner Nachbarin hängen geblieben.

»Unsere Eltern haben uns aber kein Geld dagelassen«, begann meine Schwester, sich dem Mann gegenüber zu rechtfertigen, der mithilfe des üblichen Rattenschwanzes an Gassenkindern etliche Kartons heraufgetragen hatte. Sie enthielten zwei Garnituren farbige Bettwäsche, eine wollene Steppdecke und eine leichtere Decke. Alles schien nur für eines der zwei Betten übereinander bestimmt zu sein. Außerdem noch Toilettenseife, mein Lieblingsshampoo und eines gegen Läuse, das konnte ich hier vielleicht brauchen. Und ein Pröbchen des Parfüms meiner Mutter, sie hatte bemerkt, dass ich ihr morgens, bevor ich zur Schule ging, immer ein paar Tropfen stibitzte.

»Die Ware ist schon bezahlt. Ich brauche nur noch die Unterschrift eines Erwachsenen als Quittung.«

Adriana übernahm es, die unsichere Schrift des Vaters nachzuahmen. Als wir wieder allein im Zimmer waren, fragte sie mich, ob sie oben schlafen dürfe, dann unten, dann noch mal oben. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und kletterte die Leiter rauf und runter, um verschiedene Positionen auszuprobieren. Das alte, klapprige Bettgestell und die übel riechende Matratze schleppten wir auf den Treppenabsatz.

»Ich habe Angst, dass ich die neue Matratze vollmach.« »Sie hat auch ein undurchlässiges Gummituch gekauft.

Nimm du es.«

»Wer hat was gekauft?«

In diesem Augenblick kam die Mutter heim, auf ihrer Schulter baumelte der Kopf des schlafenden Kindes. Sie war gar nicht erstaunt über die Neuigkeit, die Adriana ihr sofort zeigen wollte, indem sie sie an der Bluse hinzog. Verärgert über die Begeisterung der Tochter, betrachtete sie mit stumpfer Geringschätzung erst das Bett und den Rest, dann mich.

»Das schickt dir diese zimperliche Zicke von Tante. Wer weiß, was du über uns erzählt hast. Gestern hab ich am öffentlichen Fernsprecher mit ihr geredet, Signora Adalgisa hat mich von Ernesto zur Cantina rufen lassen.«

Das Privileg, hinter einem Wandschirm auf fabrikneuen Matratzen zu schlafen, hat sich schon am ersten Abend gegen mich und Adriana gewendet. Die Jungen versteckten sich hinter dem Dingsda, so nannten sie es, und erschreckten uns, indem sie plötzlich mit einem Schrei heraussprangen. Sie warfen es mehrmals um, und im Lauf einer Woche war die Bespannung der drei Flügel an mehreren Stellen zerrissen. Sie steckten die Köpfe durch die Löcher und kreischten laut. Machtlos wohnten meine Schwester und ich der Zerstörung unserer keinen separaten Welt bei, unsere Proteste nutzten nichts, und die Eltern griffen nicht ein. In den Jahren als Einzelkind hatte ich nicht gelernt, mich zu verteidigen, hilflos und wütend musste ich die Angriffe über mich ergehen lassen. Es war seltsam, dass Sergio, wenn er vor mir auftauchte, nicht von meinen stummen Flüchen getroffen tot umfiel.

Nur Vincenzo beteiligte sich nicht an dem Schabernack; genervt von ihrem Radau, schrie er die Brüder manchmal an, sie sollten endlich aufhören. Nachdem wir den mittlerweile unbrauchbaren Wandschirm in den Abstellraum hinuntergetragen hatten, sah er mich abends und morgens beim Aufwachen lange an, als hätte ihm der Blick auf meinen Körper gefehlt. Wegen der anhaltenden Hitze dieses endlosen Sommers waren wir weiterhin spärlich bekleidet.

In dem Bett, das Adriana so begeistert hatte, konnte sie weder oben noch unten schlafen, wir wechselten die Plätze andauernd. Zu unterschiedlichen Zeiten kam sie und schmiegte sich an mich, egal, wo ich schlief. Aber Wachstuch gab es nur eines, und so tränkte Adriana unfreiwillig die neuen Matratzen alle beide.

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