Lenin dada

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III
Zürich im Februar 1916

Dies ist also ein lustiger Bruder, etwas exzentrisch, Experte in Gesang und russischem Tanz, fähig, Nachtlokale bis spät in der Nacht zu besuchen und dort eine gute Figur abzugeben, den wir im Februar 1916 in Zürich wiederfinden. Was aber sucht er dort? Einige Werke in den, verglichen mit Bern, viel besser dotierten Bibliotheken zu Rate ziehen – dies ist die offizielle Version.42 In Wahrheit aber sucht er Gelegenheiten, sich zu zerstreuen. Krupskaja gibt es in ihren Erinnerungen an Lenin zu: «Dann schoben wir unsere Rückkehr nach Bern wieder hinaus, bis wir schliesslich ganz in Zürich blieben, das (…) lebhafter als Bern war. (…) Überhaupt machte sich der kleinbürgerliche Geist weniger stark geltend.»43 In ihrer «Lebhaftigkeit» stand die kleine Russen-Gruppe den Stadtzürchern wahrhaftig nicht nach. Hören wir dazu Valeriu Marcu, der damals mit Lenin und dessen Freunden in Berührung kam:

Die Moskowiter (…) belebten aber als landfremde Elemente die Tische einheimischer Kaffeehäuser.44

Solche Zeugnisse tragen dazu bei, dass wir schliesslich eines der Rätsel aufklären können, welches noch immer die Anfänge des Cabaret Voltaire umgibt. Im sonst ausserordentlich genauen Bericht über den Eröffnungsabend vom 5. Februar, den sein Organisator Hugo Ball kurz danach niederschreibt, bleibt ein Programmpunkt tatsächlich merkwürdig dunkel, da anonym:

Mde. Hennings und Mde. Leconte sangen französische und dänische Chansons. Herr Tristan Tzara rezitierte rumänische Verse. Ein Balalaika-Orchester spielte entzückende russische Volkslieder und Tänze.45

Augenblicklich bemächtigt sich eine Hypothese unseres Verstandes: Lenin und seine Freunde! Wahrhaftig, wer sonst, wenn nicht sie, diese aufrichtigen Russen von revolutionärer Gesinnung, hätte es denn wagen können, in einem Künstler-Cabaret der Avantgarde zu singen, um den «Volksliedern» Russlands im Zürich von 1916 den Weg zu bereiten? Einige könnten an ein Orchester auf der Durchreise denken, das an diesem Tag in der Schweizer Stadt haltgemacht hat. Das käme einem Wunder gleich. Denn viele Russen waren damals auf den Strassen nicht anzutreffen, auch auf den schweizerischen nicht. Kommt hinzu, dass diese russische Präsenz keineswegs von kurzer Dauer war. Hugo Ball erklärt im bereits zitierten Text, dass sie nach dem Eröffnungsabend eine «Russische Soiree» veranstaltet hätten. Und unter dem Stichwort «Russische Soiree» vermerkt er am 4. März 1916 in seinem Tagebuch:

Ein kleiner gutmütiger Herr, der schon beklatscht wurde, ehe er noch auf dem Podium stand, Herr Dolgaleff (sic), brachte zwei Humoresken von Tschechow, dann sang er Volkslieder. (…)

Eine fremde Dame liest Jegoruschka von Turgenjew und Verse von Nekrassow.46

Wir wissen um den Kult, den Lenin mit genau diesen drei Schriftstellern trieb, was so mancher Historiker, Biograf oder Zeuge bestätigt, Krupskaja* an erster Stelle, die ihm darin wie in so vielem anderen** folgte, und wir dürfen so mit gutem Recht die wahre Identität dieses sogenannten Herrn Dolgaleff vermuten und auch kaum Mühe haben zu erraten, wer diese «fremde Dame» sein könnte, die ihn begleitete. Immerhin schliesst Hugo Ball seine Präsentation des Cabaret Voltaire mit den Worten: «Das kleine Heft, das wir heute [15. Mai 1916, d. h. dreieinhalb Monate später] herausgeben, verdanken wir (…) der Beihilfe unserer Freunde in Frankreich, Italien und Russland.»47 Beweis genug für die kontinuierliche Anwesenheit und Unterstützung.

* «Anton Tschechow (…) hatte Lenin gern. [Die] Erzählungen Tschechows, deren Gestalten ihm im Gedächtnis blieben, sowie seine Dramen gefielen ihm. (…) Von Sibirien aus bat Lenin seine Mutter im Jahre 1898, ihm eine 12-bändige Ausgabe von Turgenjew in russischer Sprache zu schicken, dessen durchsichtiger klassischer Stil ihm Freude machte. Später bat er seine Schwester Anna, ihm Turgenjew auf Deutsch zu schicken, damit er durch den Vergleich der beiden Ausgaben Deutsch lernen könne» (Louis Fischer, Das Leben Lenins, a. a. O., S. 603). «Wladimir Iljitsch hatte Turgenjew (…) nicht einmal, sondern mehrere Male gelesen; er kannte die Klassiker ausgezeichnet und schätzte sie sehr» (Nadeschda Krupskaja, Erinnerungen an Lenin, a. a. O., S. 44). «Abends las Wladimir Iljitsch» im sibirischen Schuschenskoje «gewöhnlich (…) Nekrassow» (ibd.). «Nekrassow ist sicherlich eine jener literarischen Gestalten, die Lenin am meisten schätzte» (Jean-Michel Palmier, Lénine, l’art et la révolution, Paris, Payot, «Bibliothèque historique», 1975, S. 170). «Wolodja [Kosename für Wladimir] kann (…) Nekrassow schon fast auswendig» (Krupskaja in einem Brief vom 26. Dezember 1913 an die Mutter von Lenin, der diesen mitunterzeichnet, in: Werke Bd. 37, a. a. O., S. 442). ** Siehe etwa den Brief vom 26. Dezember 1913, der in der vorangehenden Fussnote zitiert wurde. Eine Passage dieses Briefes handelt von ihrem künstlerischen Geschmack, und Krupskaja drückt mit dem fortwährenden «wir» aus, dass sie in ihrem wie in Lenins Namen spricht. Was Nekrassow betrifft, berichtet Krupskaja in einem anderen Aufguss ihrer Erinnerungen, dass sie ihm die Werke nach Sibirien gebracht und zum Lesen gegeben habe («Was Iljitsch aus der schönen Literatur gefiel», in: Das ist Lenin, a. a. O., S. 112).

An dieser Stelle könnte uns ein Einwand dazu zwingen, unsere Studien abzubrechen. Der Einwand nämlich, dass Lenin am 5. Februar 1916 noch gar nicht in Zürich angekommen sei! Wenigstens dann, wenn wir uns auf das Gedächtnis von Krupskaja verlassen. Erst «Mitte Februar», schreibt sie 1931 (fünfzehn Jahre später, vergessen wir das nicht), «hatte Lenin in den Zürcher Bibliotheken zu arbeiten».48 Die übrigen Biografen schliessen sich dem selbstverständlich an.* «Ungefähr Mitte Februar», schreibt beispielsweise Maurice Pianzola, «fuhr Lenin (…) nach Zürich.»49 Auf der Schrifttafel, die die Stadtzürcher Behörden an der Fassade des Hauses Spiegelgasse 14 anbringen liessen, können wir heute noch lesen, dass Lenin vom 21. Februar 1916 bis 2. April 1917 hier gelebt habe. Willi Gautschi jedoch spricht vom 20. Februar.50 Die Unsicherheit wird bei der Durchsicht von Lenins Korrespondenz noch vergrössert, obwohl dieses Dokument aus erster Hand eigentlich alle Zweifel ausräumen sollte. Ist nicht ein Brief von Zürich an Olga S. N. Rawitsch mit «13. Februar 1916» datiert? Lenin gibt dort als Adresse an: «Uljanow (bei Frau Prelog) 7I Geigergasse 7I. Zürich. i.»51 Tatsächlich wissen wir aus den Erinnerungen von Krupskaja, dass sich das Paar nicht sofort an der Spiegelgasse niedergelassen hat. «Wir suchten uns ein Zimmer», schreibt sie. «Dabei kamen wir zu einer gewissen Frau Prelog, die eher den Eindruck einer Wienerin als einer Schweizerin machte.»52 Doch, so fährt sie fort, «wir hatten uns schon bei ihr eingerichtet, als sich am nächsten Tag herausstellte, dass ihr früherer Mieter wieder zu ihr zurückkehrte. (…) Frau Prelog bat uns, ein anderes Zimmer zu suchen.» (ibd.) Das bestätigt auch Pianzola: Lenin verliess das Zimmer bei Frau Prelog «schon am folgenden Tag».53 Wenn der Brief Lenins, der die Unterkunft bei Frau Prelog angibt, vom 13. Februar datiert, so müsste der Umzug zur «Schuhmacherfamilie Kammerer»,54 wohin sie gemäss allen Biografen, an erster Stelle Krupskaja, sogleich gingen, am 14. Februar stattgefunden haben. Was also geschah zwischen dem 14. und dem 20. oder 21. Februar (dem offiziellen Datum ihres Einzuges in die Spiegelgasse)? Ein erstes Rätsel. Aber es gibt noch ein weiteres: dass nämlich Lenin sogar schon vor dem 13. in Zürich ist! Tatsächlich ist ein Brief erhalten geblieben, den Lenin am 12. Februar von Zürich an Gregor Sinowjew geschickt hat.55 Und es kommt noch besser: In einem Brief von Bern an Moissei Markowitsch Charitonow, datiert vom 29. Januar 1916, kündet Lenin an:

* Mit Ausnahme David Shubs, der in seinem Lenin, Geburt des Bolschewismus erklärt: «Im Januar 1916 zogen Lenin und seine Frau aus Bern nach Zürich» (S. 170, Hervorhebung des Autors). Leider können wir dieser Aussage nicht den geringsten Glauben schenken, obwohl sie doch so gut in unser Konzept passen würde. Nicht nur mangelt es ihr an Beweisen oder Erörterung, sie beruht auch auf gänzlicher Unkenntnis der Korrespondenz Lenins, die unzweifelhaft beweist (siehe weiter unten), dass sich unser Mann noch am 30. Januar 1916 in Bern aufhielt!

Lieber Genosse! (…) Wir kommen am 4. Februar. Wenn möglich, suchen Sie uns ein Zimmer, das man jeweils für eine Woche mieten kann, für zwei Personen.56

Konnte das (Wohn-)Problem geregelt werden, und ist somit der 4. Februar das reale Ankunftsdatum Lenins in Zürich? Oder müssen wir gar noch weiter zurückgehen? Ein präziser Hinweis drängt uns dazu: Ein weiterer Brief vom folgenden Tag an denselben Empfänger weist uns auf den Mittwoch, 2. Februar. Denn dieser mit «Sonntag Abend» (30. Januar) datierte Brief ist ganz einem einzigen Ereignis gewidmet, das drei Tage später stattfinden soll:

 

Lieber Genosse! Eben erst habe ich erfahren, dass am Mittwoch in Zürich eine internationale Konferenz des Büros der Jugendorganisationen stattfindet. (…) Ich bitte Sie sehr, 1. in Erfahrung zu bringen (taktvoll: das ist alles konspirativ), und zwar möglichst konkret: Datum, Ort, Dauer, Zusammensetzung; 2. festzustellen, ob nicht auch ein Vertreter unserer Partei teilnehmen kann.57

Hier mag Lenin der Form halber Charitonow noch so sehr nahelegen, «selbst teilzunehmen», wir begreifen rasch, dass er darauf brennt, dieser Vertreter zu sein. Ein einziger Umstand scheint dem zu widersprechen, dass er dort war: seine Teilnahme an einer politischen Versammlung am Abend des 8. Februar in Bern, wovon ein Artikel in der Berner Tagwacht zeugt.58 Die beiden Städte aber liegen so weit nicht auseinander – hundertdreissig Kilometer in der Eisenbahn –, und nichts hindert Lenin, sich in Zürich niederzulassen und für einen Abend nach Bern zurückzukehren. Erwiesenermassen verfuhr er bei anderer Gelegenheit ebenso: Etwa am 25. Februar 1916, als er nach Bern kam, um eine Veranstaltung unter dem Titel «Zwei Internationalen» abzuhalten.59 Ausserdem belegt sein Brief vom 17. Februar 1916 an Olga S. N. Rawitsch, dass Lenin den Fahrplan der Züge ab Zürich genauestens kannte und sich daraus auch seinen Vorteil zu ziehen wusste:

Legen Sie also bitte den Termin des Referats selbst fest, entweder vor dem 25. oder nach dem 26., und benachrichtigen Sie mich rechtzeitig. Ich bitte Sie auch sehr, sich mit Lausanne in Verbindung zu setzen, damit ich in 2 Tagen alles erledigen (…) kann. (…) Es gibt einen günstigen Zug: Er kommt in Genf 9.15 abends an. Ob ich den benutzen kann? Falls nicht, kann dann das Referat in Lausanne nicht am Tag vorher gehalten werden?60

Wenn wir im weiteren berücksichtigen, dass er nicht sofort jede seiner Adressänderungen allen seinen Briefpartnerinnen mitteilte (erst am 12. März 1916 zum Beispiel meldet er seiner Mutter: «Meine liebe Mama! Ich schicke Dir Fotografien (…). Wir wohnen jetzt in Zürich.»61), so werden wir es als sehr wahrscheinlich gelten lassen, dass er sich in Zürich schon einige Zeit vor dem ungefähren Datum («Mitte Februar») aufgehalten hat, an das sich Krupskaja fünfzehn Jahre später erinnert und das – diskussionslos – von allen Biografen übernommen wurde. Anders gesagt: Lenin war früh genug in Zürich, um am Eröffnungsabend des Cabaret Voltaire teilzunehmen. Und der Einzug Lenins in unmittelbarer Nachbarschaft erscheint uns nicht länger als Zufall, wie wir eingangs dachten, sondern als ganz und gar gewollter Akt.

IV
Begegnungen und Rätsel

Zwei Fragen sind noch unbeantwortet: Wie sind sich Lenin und die künftigen Dadaisten begegnet? Und warum diese Beharrlichkeit, mit welcher von beiden Seiten eine solche Zusammenkunft verborgen, ja gar bestritten wird?

Auf die erste Frage können wir nur mit Hypothesen antworten. Am plausibelsten ist die einer Begegnung zwischen Ball und Lenin, entweder in Zürich, wo Lenin schon lange vor dem Februar 1916 an Konferenzen teilgenommen hat (beispielsweise Ende Oktober 191562), oder in Bern, wo sich auch Ball eine Zeit lang aufhielt, bevor er nach Zürich kam, um sein Cabaret aus der Taufe zu heben. Denn Ball interessierte sich seit jeher für die russischen Revolutionäre. Huelsenbeck bezeugt es:

Er interessierte sich für Bakunin, und er ging zu einer anarchistischen Gruppe in Zürich – auch ich ging dorthin, obwohl ich regelmässig fast einschlief vor Langeweile –, Ball war daran sehr interessiert.63

Gewiss, von Bakunin zu Lenin ist ein langer Weg, aber für einen Internationalisten wie Ball, zugleich skeptisch64 und ökumenisch,* ist jede Stimme gut genug, gehört zu werden, sind alle Begegnungen wünschenswert. Zweite Hypothese: Die beiden Männer sind sich ganz einfach am Eröffnungsabend, dem 5. Februar 1916, begegnet. Schliesslich erschien ja in der Lokalpresse am 2. Februar ein Communiqué, das die Gründung eines Cabarets ankündet, wo «bei den täglichen Zusammenkünften musikalische und rezitatorische Vorträge stattfinden», und das «die junge Künstlerschaft Zürichs» einlädt, «sich ohne Rücksicht auf eine besondere Richtung» einzufinden. Lenin könnte sehr wohl diese rätselhafte Persönlichkeit sein, die jener «orientalisch» anmutenden Delegation angehörte, die sich, so Ball in seinem Tagebuch, an jenem Abend beim Organisator vorstellte:

* Erwähnen wir jetzt schon die Worte des Aufrufes vom 2. Februar (siehe weiter unten): «… es ergeht an die jüngere Künstlerschaft Zürichs die Einladung, sich ohne Rücksicht auf eine besondere Richtung mit Vorschlägen und Beiträgen einzufinden» (Hervorhebung des Autors) (Zit. nach Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, a. a. O., S. 71 ; siehe auch Hans Richter, Dada – Kunst und Anti-Kunst, a. a. O., S. 14).

5.11. (…) Gegen sechs Uhr abends (…) erschien eine orientalisch aussehende Deputation von vier Männlein, Mappen und Bilder unter dem Arm; vielmals diskret sich verbeugend. Es stellten sich vor: Marcel Janco, der Maler, Tristan Tzara, Georges Janco und ein vierter Herr, dessen Name mir entging.65

Orientalische Gesichtszüge, kleine Statur:* passt alles zusammen. Diese Hypothese erklärt gewiss nicht, wie Lenin vorher mit den Brüdern Janco und Tzara (oder sie mit ihm) in Kontakt gekommen war, aber sich dies zu erklären, braucht wenig Vorstellungskraft: Alle waren sie im Exil, Slawen, die aus benachbarten Ländern stammen, und alle waren sie am gesellschaftlichen Umsturz interessiert; alles Gründe, die eine Begegnung begünstigen. Ein Ort wie das Café Terrasse in Zürich, wo auch Richter ausgerechnet die drei Rumänen kennenlernte,66 ist im Übrigen einer solchen Begegnung noch förderlich, zumal auch Lenin gern dorthin zum Schachspiel ging.67

* Darüber eine einzige Zeugenaussage – von grosser Statur sozusagen: jene von Joseph Stalin, als er über seine erste Begegnung mit «dem Adler unserer Partei» berichtet, die er im Dezember 1905 anlässlich der Konferenz der Bolschewiki im finnischen Tammerfors hatte. «Ich sah», sagt er, «einen gewöhnlichen Mann von unterdurchschnittlicher Grösse …» (Lénine tel qu’il fut, mit Beiträgen von J. Stalin, W. Molotow, K. Worochilow u. a. Paris, Bureau d’éditions, 1934, S. 21. Hervorhebung des Autors).

Ball ist darüber von Anfang an auf dem Laufenden. Warum aber – und dies ist unsere zweite Frage –, warum aber hat er bis Juni 1917 gewartet, um die Anwesenheit Lenins überhaupt zu erwähnen, und noch dazu, wie wir gesehen haben, in einer so ungenauen Art und Weise?* Wir wären versucht zu antworten: Eben genau weil Lenin zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Zürich ist, sondern unter den bekannt abenteuerlichen Umständen nach Russland zurückgekehrt und deshalb keiner Gefahr mehr ausgesetzt war. Denn für einen politischen Flüchtling wie ihn war es nicht ungefährlich, sich im Cabaret Voltaire öffentlich sehen zu lassen. Alle Zeitzeugen haben die Ironie jener Situation hervorgehoben, in welcher die dadaistischen Spassvögel von der Polizei bespitzelt oder sogar belästigt wurden, während sie jene, die im Begriffe waren, eine der grössten Revolutionen der Geschichte vorzubereiten, glänzend ignorierte.68 Weder Lenin noch die paar Dadaisten, die seine wahre Identität kannten, hatten ein Interesse, daran etwas zu ändern.

* Siehe oben. Das heisst, dass Ball zu durchsichtigen Anspielungen durchaus fähig ist. Siehe unten, Kap. IX, Anm. I.

Doch als Lenin im April 1917 in seine Heimat zurückgekehrt war, hätte die Dadaisten nichts mehr gehindert, zu reden und den wichtigen Anteil, den Lenin in den Anfängen ihrer Bewegung leistete, hervorzuheben. Erstaunlich also ist, wie wir gesehen haben, ihr Schweigen, oder mindestens die Ungenauigkeit ihrer Zeugenaussage. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Merkwürdigkeit ist nicht unbedingt in einer zähen Komplizenschaft mit dem bolschewistischen Führer zu finden, so als ob sein dadaistisches Abenteuer ein schwerer Fehler gewesen wäre, das der Welt für immer hätte verschwiegen werden sollen. Die einleuchtendste Erklärung ist so viel naheliegender: Die meisten Dadaisten haben gar nicht gewusst, dass Lenin in Zürich einer der ihren war. Das war besser so. Denn es existierte nicht nur die äussere Bedrohung durch die Schweizer Polizei: Im Innern selbst des Cabaret Voltaire wimmelte es nur so von seltsamen Typen. Wiederholen wir, welche hauptsächlich vertretenen Gattungen Marcel Janco in seinen Erinnerungen aufzählt:

… Maler, Studenten, Revolutionäre, Touristen, internationale Betrüger, Psychiater, die Halbwelt, Bildhauer und nette Spione auf der Suche nach Informationen.69

Valeriu Marcu bestätigt die Bedeutung dieses letztgenannten Gelichters in Zürich, was in einem neutralen Land zur Zeit des Weltkrieges unschwer erklärt werden kann:

Jede Strassenecke hatte Ohren, Hände schrieben verstohlen in Notizbücher, jeder Laut aus der Fremde wurde aufgenommen und weitergegeben. Das neutrale Land war das einzige Fenster ins feindliche Gebiet. Kein Quadratmillimeter der Öffnung blieb unbesetzt.70

Marcu, wir haben es bereits weiter oben erwähnt, lebte zu dieser Zeit in Zürich und weiss, wovon er spricht; punkto «russischer Emigration» fügt er noch das folgende interessante Detail an: «Alle Fraktionen verfluchten sich in gewohnter Frische …»71

Unter diesen Umständen verstehen wir, dass Lenin keinerlei Wert darauf legte, die Aufmerksamkeit der einen oder anderen dieser liebenswürdigen Bruderschaften oder Klüngel auf sich zu ziehen, ganz zu schweigen von einigen menschewistischen «Genossen» oder Gegnern der Zimmerwalder Konferenz (1915), deren kleinbürgerliche Ansichten er damals gegeisselt hatte und die nun ihrerseits mit Genuss seine nachtschwärmerisch-artistischen Eskapaden dazu verwenden würden, ihm das Kompliment zu erwidern. Ganz abgesehen von einzelnen aufdringlichen Besuchen aus seinem eigenen politischen Lager, wie etwa dieser «Neffe der Genossin Semljatschka», der – wie Krupskaja zu berichten weiss – «so schmutzig und abgerissen» war, «dass die Schweizer Bibliotheken ihm schliesslich den Eintritt verwehrten». Mit seinen regelmässigen Besuchen fiel er Lenin stark auf die Nerven, insbesondere da er «prinzipielle Fragen» mit ihm erörtern wollte.72 Lenin musste also Vorsichtsmassnahmen ergreifen. So wie der Vizekönig in Offenbachs Périchole genoss er die Vorteile seines Inkognitos. Wer die Biografie Lenins auch nur etwas kennt, weiss im Übrigen, dass er nicht abgeneigt war, sich zu verkleiden. «1905 bis 1907 hat er die russische Grenze nur verkleidet passiert», erzählt Ivan V. Pouzyna, indem er sich zum Beispiel als Typograf namens Erwin Weikow ausgewiesen habe und eines Tages sogar «als kirchlicher Vorsänger verkleidet» in Moskau angekommen sei.73 Eine Fotografie in der von der sowjetischen Kommunistischen Partei herausgegebenen Biografie zeigt ihn uns im August 1917 rasiert, geschminkt und mit Perücke (Abb. 3 und 4); wir wissen, dass er sich allein in diesem Monat nacheinander als Arbeiter der Waffenfabrik von Sestrorezk, als Schnitter am Ufer des Rasliw-Sees und als Lokomotivführer zwischen Udelnaja und Finnland ausgegeben hat.74

 

Abb. 3: Lenin, geschminkt und mit Perücke, August 1917 (Foto: D. Leschtschenko).


Abb. 4: Die Perücke von Lenin (Foto: Roger–Viollet, Paris).

Eine letzte, an sich unwichtige Frage: War Krupskaja auf dem Laufenden oder nicht? Lenin und sie hatten wohl ein Eheleben und teilten nachts das gleiche kleine Zimmer, tagsüber waren sie selten beisammen: Lenin war meist in der Bibliothek,* Krupskaja als Sekretärin im Büro der russischen Emigrantenkasse tätig. Dieses Büro unter der Leitung von Felix Jakowlewitsch machte es sich in Zürich zur Aufgabe, die kranken «Genossen» und Arbeitslosen zu unterstützen.75 Die Kasse des Büros war damals «ziemlich leer», aber an Projekten mangelte es, wie sie selbst sagt, nicht: Ihre Tage waren derart ausgefüllt, dass sie kaum in der Lage war, genau zu wissen, was Wladimir Iljitsch mit den seinen tat. Ein lesenswerter Abschnitt in Das ist Lenin scheint dennoch darauf hinzuweisen, dass sie mehr darüber wusste, als sie gerade zugeben wollte:

* «Er bemühte sich, die Zeit voll auszunutzen, in der die Bibliothek geöffnet war. Morgens ging er Punkt neun Uhr in die Bibliothek und sass bis zwölf Uhr mittags dort (von zwölf bis ein Uhr war die Bibliothek geschlossen); dann ging er nach Hause, wo er genau zehn Minuten nach zwölf Uhr eintraf; nach dem Mittagessen ging er sofort wieder in die Bibliothek und blieb bis sechs Uhr abends, bis sie geschlossen wurde, dort. Zu Hause war es damals nicht sehr günstig zu arbeiten» (Nadeschda Krupskaja, Erinnerungen an Lenin, a. a. O., S. 375).

Er nahm das Leben in all seiner Kompliziertheit und Vielseitigkeit in sich auf. Bei Asketen aber kommt das ja wohl kaum vor.

Am allerwenigsten war Iljitsch – mit seinem Verständnis für das Leben und die Menschen, mit seiner so leidenschaftlichen Einstellung zu allem – jener tugendhafte Spiessbürger, als der er jetzt zuweilen dargestellt wird: ein mustergültiger Hausvater mit seiner Gattin, mit Kindern; Bilder der Angehörigen stehen auf dem Tisch, da ist ein Buch, ein wattegefütterter Hausrock, ein schnurrender Kater sitzt auf seinen Knien (…). Es wäre besser, weniger solche Sachen zu schreiben.76

Interessanterweise zitieren im Oktober 1930 die jungen Redakteure der zweiten Ausgabe von Surréalisme au service de la Révolution das Wichtigste dieser Passage, so als ob sie – scharfsinniger als die Zürcher Dadaisten – erraten hätten, wie nahe der wirkliche Lenin einigen der ersten Avantgarden Europas stand.77

Fügen wir dem noch eine eingeschobene Bemerkung derselben Krupskaja an:

Zwar war unser Zimmer hell, aber seine Fenster gingen auf den Hof hinaus, in dem es fürchterlich roch, weil sich dort eine Wurstfabrik befand. Nur spät nachts konnten wir die Fenster öffnen.78

Natürlich bedeutet dies nichts, aber es klingt in diesem Nichts doch die Möglichkeit an – was sage ich? –, die Glaubwürdigkeit, ja die Wahrscheinlichkeit von abendlichen Besuchen im benachbarten Cabaret Voltaire, und wäre es nur anlässlich der berühmtesten Soireen (am 3. Juni etwa oder am 23. Juni 1916), als es während der heissen Sommernächte in der ärmlichen Wohnung an der Spiegelgasse 14 schwierig wird, ein Auge zu schliessen, gequält von den Dämpfen der Wursterei.

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