Schwarzes Gold

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Donnerstagmorgen, Marseille

Daquin wird vom Klingeln des Telefons geweckt. Er knurrt, braucht ein, zwei Sekunden, um sich zu erinnern, wo er ist, hat Mühe, den schlafenden Mann an seiner Seite zu erkennen. Die Flanke in einer schönen Kurve von der Schulter bis zur Hüfte, der Rücken von Vincent. Widersteht der Versuchung einer langen Liebkosung. Sechs Uhr am Morgen, gar nicht mal so früh, aber was für ein Abend …

Er nimmt ab. Bonino am anderen Ende der Leitung, genervt: »Wir haben einen weiteren Toten.«

»Und?«

»Es scheint sich um Jacques Simon zu handeln, leitender Angestellter der Somar. Bei der Leiche fanden sich Papiere mit Name und Position, und er wurde in einem Lieferwagen erschossen, der auf die Somar zugelassen ist.«

»Wo?«

»Im Parkhaus am Flughafen Nizza.«

»Ich komme.«

»Kein Grund, sich zu überschlagen. Die Leiche wurde gestern Abend gegen dreiundzwanzig Uhr entdeckt.«

Daquin rechnet kurz nach. Du hast sieben Stunden gebraucht, um mich zu benachrichtigen. Bei dem Tempo hättest du mich auch noch eine Stunde schlafen lassen können.

»Es wurden die üblichen Routinen durchgeführt, die Leiche ins Leichenschauhaus gebracht. Ich habe ein Team vor Ort gelassen, um zu ermitteln, wer den Flughafen gestern Abend betreten und verlassen hat.«

»Ich komme vorbei. Ich mache noch einen Abstecher zum Leichenschauhaus, ich will den Gerichtsmediziner aufsuchen, um ihm ein paar Fragen zu Pieri zu stellen, danach komme ich zu Ihnen ins Büro. Ich bin in zweieinhalb Stunden in Nizza und in drei Stunden bei Ihnen. Ich werde nicht lange bleiben, ich halte Sie also nicht von der Arbeit ab.«

Bonino stimmt murrend zu.

Ultrakurze Dusche, aber sorgfältige Rasur, was auch immer Dringliches anstehen mag. Den Rasierpinsel in der Hand, steht er vor dem Spiegel, zuerst die Rasierseife gründlich in der Holzschale aufschäumen, die Wangen, das Kinn mit dem weißen, sahnigen Schaum bedecken, der nach Sandelholz duftet, die Qualität der Einseifphase ist das Geheimnis einer harmonischen Rasur. Dann mit einem Rasiermesser aus schwedischem Stahl, der beste, über die Haut unter dem Schaum fahren, unendlich präzise, unendlich sanft, nur einen Hauch entfernt vom blutigen Schnitt. Ein allmorgendlich wiederholtes Ritual, ohne Ausnahme, um des Vergnügens willen, den Stahl und die Seife auf der Haut zu spüren. Auch um die Erinnerung an die Vergewaltigung tief im Wald auf Distanz zu halten, er war dreizehn Jahre alt, beschmutzter, besudelter Junge, das mit Erde und Laub verdreckte Gesicht in den Boden gedrückt, der Geschmack der Erde in seinem Mund. Feuchtes Handtuch auf die brennende Haut. Daquin inspiziert sein Gesicht, sauber, glatt, kantig. Die Zeremonie ist beendet, die Schutzmaske an ihrem Platz, der Tag kann beginnen. T-Shirt, Bluejeans, Mokassins, Lederblouson. Er hinterlässt Vincent eine Nachricht: »Ein Notfall. Zieh einfach die Tür hinter dir zu«, und eilt im Laufschritt hoch zum Évêché. Er nimmt einen Block, der auf Grimberts Schreibtisch herumliegt, schreibt: »Anruf aus Nizza heute Morgen 6 Uhr bei mir zu Hause, allem Anschein nach wurde Jacques Simon, Pieris Stellvertreter, gestern Nacht am Flughafen Nizza erschossen. Identifizierung steht noch aus. Gehen Sie wie geplant zur Somar, aber nutzen Sie jetzt die Gelegenheit, live zu beobachten, wie die Angestellten den Schock verdauen. Nach diesem zweiten Mord wird unser Antrag auf einen Durchsuchungsbeschluss sicher bewilligt werden, bis dahin seien Sie vorsichtig, schütteln Sie sie ein bisschen, aber gehen Sie nicht zu weit. Ich fahre nach Nizza. Wir sehen uns heute Abend wie vorgesehen.«

Er nimmt einen Dienstwagen und macht sich auf den Weg.

Beim Lesen von Daquins Nachricht ein Schauder der Erregung, Grimbert und Delmas eilen zur Somar. Auf der Place de la Joliette sieht man als Erstes den monumentalen Eingang zu den Docks, die steinerne Umsetzung des Traums von Größe und Wohlstand durch Handel, den die saint-simonistischen Ingenieure des 19. Jahrhunderts träumten, aber das 19. Jahrhundert ist tot, und die Docks laufen auf Sparflamme. Direkt gegenüber, an einem prächtigen Bürgerhaus, eine dezente Kupferplatte mit der Aufschrift »Somar, 3. Etage«. Die beiden Männer betreten das Gebäude.

»Wir ziehen in den Krieg ohne viel Munition«, bemerkt Delmas im Aufzug.

»Keine Aufregung. Vergiss nicht: Viele im Évêché wünschen, dass wir in dieser Sache so wenig wie möglich unternehmen. Von der Seite besteht also kein Druck. Daquin ist Feuer und Flamme, aber er ist ein Jungspund und ein Pariser, er braucht uns, um zu leben, auch von seiner Seite kein Druck. Mach in Ruhe deine Arbeit. Und du hältst dich an die Anweisung: du gehst nicht zu weit. Alles klar?«

»Ich habe verstanden.«

In der dritten Etage klingeln sie an der Tür. Ein Mann öffnet ihnen. Grimbert stellt sich vor. SRPJ Marseille, wir ermitteln im Mordfall Pieri. Der Mann macht wortlos Platz, um sie einzulassen. Kurzer Blick, eine große bürgerliche Wohnung, die in ein Büro verwandelt wurde. Den familiären Anstrich hat man offenbar absichtlich erhalten. Man erkennt einen langen dunklen Flur, von dem eine Reihe Zimmer abgehen, eine Tür führt in die Küche. Der Mann sagt: »Folgen Sie mir, wir sind alle im großen Salon.«

Großes, sehr helles Zimmer, drei Fenster zur Vorderfront mit Blick auf die Docks auf der anderen Seite des Platzes. Die Wände sind vollflächig mit Korkplatten bedeckt. Karten vom Mittelmeer, übersät mit verschiedenfarbigen Punkten, sind mit Reißzwecken neben großen Schaubildern angebracht, die Routen und Anlaufhäfen zeigen, mitsamt Uhrzeit und Datum. Sieben Büromöbel nehmen die Mitte des Zimmers ein, überladen mit Akten, Telefonen und diversen Geräten. Archivkartons stapeln sich an den Wänden entlang auf dem Boden. Die komplette Belegschaft der Somar, etwa zwanzig Personen, hat sich versammelt, sie sitzen auf den Stühlen, den Schreibtischen, den Kartons. Hier und da stehen Tassen und Gläser. Schon vom Eingang aus war das Stimmengewirr lebhafter Gespräche zu hören. Beim Eintreten der Polizisten erstirbt es abrupt. Bleierne Stille. Die Verwirrung ist spürbar, und auch die Feindseligkeit. Grimbert denkt: Eine im Unglück zusammengeschweißte korsische Familie. Ihm bricht der Schweiß aus.

»Hat man Sie unterrichtet, dass Simon letzte Nacht ermordet worden ist?«

Die Versammlung nickt, eine nicht zuzuordnende Stimme sagt: »Die Polizei von Nizza hat uns angerufen.«

In dieser Atmosphäre, die zum Schneiden ist, sucht Grimbert nach einer Eröffnung, die Bewegung in die Sache bringt, findet keine und hält sich daher an die einfachste Frage: »Beide Chefs binnen weniger als vierundzwanzig Stunden erschossen, wir ermitteln zu diesen Verbrechen … Hat jemand von Ihnen etwas zu sagen, das uns aufklären könnte?«

Die Gruppe bleibt in ihrem Schweigen vereint. Aus einem anderen Büro hört man das Signal eines Funkrufs, der Verantwortliche für die Funkkommunikation verlässt das Zimmer.

Grimbert fährt fort. »Ist jemandem von Ihnen etwas aufgefallen? Eine Geste, ein Wort …«

Immer noch nichts. Es auf einem Umweg versuchen.

»Wissen Sie, was aus Ihrer Firma werden wird?«

Neuerliches Schweigen. Man hört ein paar Schniefer vonseiten der Frauen. Bevor irgendjemand den Mund aufmacht, kommt der Verantwortliche für die Funkkommunikation zurück, fahl.

»Die türkische Polizei hat die Leiche von Kapitän Nicolas Serreri gefunden, der gestern Nacht im Hafen von Istanbul ertrunken ist.« Eine junge Frau schreckt hoch, aufgerissener Mund, und bricht in Tränen aus. »Die Polizisten sagen, es handelt sich um einen Unfall. Der Kapitän hatte zu viel getrunken und ist, als er sich allein an Bord befand, von der Santa Lucia gestürzt. Sie bitten uns, die Leiche abzuholen. Das Schiff nimmt danach Kurs auf Marseille.«

Die korsische Familie krümmt sich unter dem Schock, bekommt Risse. Die Angestellten sehen einander an, suchen einen Halt, jemanden, an dem sie sich festklammern können. Einige Frauen haben tränenglänzende Augen, zwei von ihnen treten zu der weinenden jungen Frau und nehmen sie in den Arm. Sie lässt sich gegen sie sinken, verbirgt ihr Gesicht an ihren Schultern und schluchzt. Die Männer kratzen sich am Hals.

Grimbert murmelt Delmas zu: »Nimm das Frauentrio mit nach nebenan. Die Junge ist bestimmt seine Witwe oder etwas in der Art. Notier dir ihre Adresse, dann sollen ihre Freundinnen sie nach Hause bringen. Hätschle sie. Es ist selbstverständlich ein Mord, aber Klappe halten.«

Delmas nickt, geht zu den drei Frauen und dirigiert sie in ein anderes Büro.

Der Familie keine Zeit lassen, sich wieder zu fangen. Grimbert geht zum Angriff über. »Unfall oder nicht, der Zähler zeigt jetzt drei Tote. Versuchen wir vorwärtszukommen. Ich wiederhole meine Frage: Was wird aus der Somar werden?«

Der älteste Mann unter den Anwesenden antwortet: »Wir haben keine Ahnung. Pieri war alleiniger Eigentümer der Firma. Und Simon hat uns für heute Morgen einberufen, um uns zu sagen, wie er mit der Situation umgehen will.«

»Warum nicht gestern darüber sprechen, warum bis heute warten?«

»Simon hat uns nichts gesagt. Er hat uns nur gebeten, heute Morgen hier zu sein. Gestern nach dem Mittagessen hat er ohne jede Erklärung den Lieferwagen genommen und ist weggefahren. Er wirkte sehr besorgt, das war alles.«

Grimbert lässt den Blick über sein Publikum schweifen. »Er ist sicher zu einer Verabredung gefahren. Weiß niemand etwas über Simon und eine mögliche Verabredung?«

»Doch, ich.«

Alle Augen richten sich auf eine pummelige junge Frau mit dunklem Haar, kaum achtzehn, die die Hand hebt wie in der Schule, ihre Stimme zittert leicht.

 

»Sprechen Sie.«

»Vorgestern, am Tag von Monsieur Pieris Ermordung, hat niemand wirklich gearbeitet, wir waren sehr erschüttert, alle. Gegen vierzehn, fünfzehn Uhr klingelte das Telefon in Monsieur Simons Büro. Er war nicht im Zimmer. Ich bin rangegangen. Ein Ferngespräch aus Johannesburg für Monsieur Simon. Ich habe ihn aus der Küche geholt, er hat den Hörer genommen und die Tür zugemacht. Vom Flur aus hörte ich ihn sagen: ›Pieri, mehrere Schüsse, auf offener Straße‹. Danach hörte ich ihn sagen: ›die Uhrzeit passt mir‹ und ›einen ruhigen Ort‹, etwas in der Art.«

Die Stimme ist nicht sehr fest, das Mädchen errötet. Die Familie missbilligt schweigend. Grimbert lächelt ihr zu. Erster erkennbarer Fortschritt. Dieses Mädel da, man weiß noch nicht, warum sie bereit ist zu reden, treibt sich in den Büros herum, nimmt Anrufe an, lauscht an Türen. Vielleicht eine Goldmine, die es auszubeuten gilt.

Grimbert bringt noch einiges in Erfahrung. Über Simon: eng mit Pieri verbunden, eine Vertrauensbeziehung zwischen den beiden Männern, beinahe schon Freundschaft, aber er war nicht jeden Tag in der Firma, sagen wir, etwa jeden zweiten Tag, nicht ganz regelmäßig. Über Kapitän Serreri: ein junger Mann, keine vierzig, schon sehr lange sehr eng mit Pieri, der ihn sehr mochte. Ein bisschen wie sein Sohn.

Grimbert bittet um eine kurze Führung durch die Büros. Ein zweiter großer Raum, ehemals Wohn- oder Esszimmer, fünf hineingepferchte Schreibtische, die Buchhaltung. Bunte Kurvendiagramme an die Korkwände geheftet, und Grafiken mit Schiffsnamen darüber. Und noch drei Zimmer. Im ersten, schallisoliert, drängen sich ein Funkgerät, Empfangs- und Sendestation, und drei Fernschreiber, die sich in unregelmäßigen Abständen einschalten und zu rattern anfangen. Heute ist die Frequenz nicht sehr hoch. Die bedruckten Papierstreifen türmen sich in Schlangen zu Füßen der Maschinen, ohne dass sich jemand darum kümmert. Das nächste Zimmer ist klein und es herrscht peinliche Ordnung, ganz im Gegensatz zu den großen Gemeinschaftsbüros. Schubladen, Schränke geschlossen, nicht ein einziges herumliegendes Papier.

»Das ist das Büro von Maïté Antoniotti, Pieris Sekretärin.«

»Ist sie heute nicht hier?«

»Nein, sie kümmert sich um die Beerdigung.«

»Ist sie eine Angehörige?«

»Nein, aber es läuft auf dasselbe hinaus. Sie war wie eine Mutter für Pieri.«

»Immer wieder die korsische Familie«, flucht Grimbert.

Im nächsten Raum die beiden Schreibtische von Pieri und Simon nebeneinander. Ordentlich, wie das Büro der Sekretärin.

Auf dem Rückweg geht Grimbert noch einmal beim Fernmeldezimmer vorbei, wo der Verantwortliche aufräumt, um sich zu beschäftigen.

»Simon war gestern Vormittag hier. War er über den Mord an Pieri informiert?«

»Natürlich, wie wir alle.«

»Hat er mit der Santa Lucia kommuniziert?«

»Ja, sofort. Er wollte den Kapitän persönlich und vor allen anderen benachrichtigen. Nicolas gehörte ein bisschen zur Familie.«

»Hat Simon ihm Anweisungen bezüglich des Schiffes gegeben?«

»Ehrlich, ich habe keine Ahnung. Simon hat mich aus dem Raum geschickt, sobald er mit Nicolas verbunden war. Ich dachte, es wäre wegen der Emotionen, ein sehr persönliches Gespräch.«

»Sonst nichts, was Sie mir sagen könnten?«

»Danach wurden alle anderen Kapitäne informiert, und Simon hat sie gebeten, die Anweisungen abzuwarten, die er ihnen heute Morgen geben wollte. Es wurde noch nichts unternommen, aber ich denke, dass die Somar die ganze Flotte jetzt nach Marseille zurückbeordern wird.«

Delmas steht jetzt mit der Gruppe Klageweiber im Büro von Pieri und Simon. Er macht Grimbert ein Zeichen: Kontaktaufnahme mit der Witwe, Mission erfüllt. Die beiden verabschieden sich und gehen. Haben es eilig, an die frische Luft zu kommen und tief durchzuatmen.

Donnerstag, Nizza

Es kostet Daquin etwas Zeit, das Hôpital Pasteur und dann den Eingang zum Leichenschauhaus zu finden: ein moderner Bau namens Le Reposoir, eine langgezogene einstöckige Betonkonstruktion, an einen Hang gebaut, abgelegen am Ende eines steilen Wegs. Ein Dutzend Meter weiter eine kleine steinerne Kirche, die um einiges älter wirkt, eine zwischen Sträuchern versteckte Zuflucht. Polizei der Körper, Polizei der Seelen. Die Körper quälen und die Seelen trösten. Hör auf zu grübeln, du bist am Ziel angekommen. Daquin erhält die Erlaubnis, einen kurzen Blick auf die Leiche von Jacques Simon zu werfen. Drei Kugeln mitten in den Brustkorb. Dicht beisammen, alles Treffer, wie bei Pieri. Mit der Autopsie wurde noch nicht begonnen, man wartet auf die Anwesenheit eines Vertreters der Niçoiser Kriminalpolizei, der angekündigt ist, sich aber offenbar verspätet. Daquin fragt den Gerichtsmediziner, ob er vor zwei Tagen auch die Autopsie von Pieri durchgeführt hat. Ja, das war tatsächlich er.

»Der Marseiller SRPJ hat mich mit der Ermittlung betraut, aber der Autopsiebericht wurde mir noch nicht zur Kenntnis gebracht.«

»Normal, ich habe ihn noch nicht rausgeschickt.«

»Können Sie mir den Inhalt in groben Zügen skizzieren?«

»Ich habe Eintrittswunden von zehn Kugeln festgestellt, von denen ich sagen würde, dass sie wahrscheinlich allesamt tödlich waren. Das ist ziemlich bemerkenswert. Und Spuren einer mindestens zehn Jahre alten, wenn nicht noch älteren schweren Verletzung. Sehr wahrscheinlich eine Schussverletzung. Perforation des rechten Lungenflügels, Risse im Brustbein, Beschädigung des Zwerchfells, Rippenbrüche, er muss den Brustkorb voller Knochensplitter gehabt haben. Der Mann scheint mindestens zweimal operiert worden zu sein.«

»Danke, Doktor.«

Daquin verlässt das Reposoir und begegnet vor dem Gebäude einer großen, kräftigen Frau um die fünfzig, in einen beigefarbenen Allerweltsregenmantel gehüllt, das Gesicht verquollen, die sich, von einem Polizisten in Uniform begleitet, blindlings vorwärtsbewegt.

Der erwartete glückliche Zufall?

»Verzeihen Sie, sind Sie Madame Simon?«

»Ja.«

»Darf ich mich vorstellen? Ich bin Commissaire Daquin vom SRPJ Marseille, möchten Sie, dass ich Sie begleite, oder wollen Sie lieber allein sein?«

»Allein, danke.«

Sie geht hinein. Daquin beschließt, auf sie zu warten, teilt dem Polizisten in ihrer Begleitung mit, dass er ihn ablöst und sich um Madame Simon kümmert. Kann er bitte Bonino Bescheid geben, dass Commissaire Daquin etwas später kommt?

Als sie das Leichenschauhaus verlässt, ist die Frau in Tränen aufgelöst. Daquin schlägt ihr vor, in der Krankenhauscafeteria ein Getränk zu nehmen. Sie lehnt mit einer Kopfbewegung ab.

»Ich möchte lieber so schnell wie möglich nach Hause, nach Paris, zurück zu meinen Kindern.«

Daquin erbietet sich, sie zum Flughafen zu fahren, und sie nimmt an.

Im Wagen versiegen die Tränen allmählich. »Ermitteln Sie zum Mord an meinem Mann?«

»Ja, Madame.«

Schweigen.

»Ich habe immer gewusst, dass ich eines Tages seine Leiche im Leichenschauhaus identifiziere. Ich habe immer gewusst, dass das eines Tages passiert.« Sie holt tief Luft. »Als wir geheiratet haben, war er Capitaine. Er hat im Indochinakrieg gekämpft, dann im Algerienkrieg.« Sie schweigt einen Moment. »Schon Algerien war schwer zu ertragen, wissen Sie. In der Armee haben plötzlich uralte Freunde, Waffenbrüder, aufeinander geschossen. Ein Albtraum. Nach 1962 hat er zwei Jahre in irgendwelchen Büros in Paris gearbeitet, er sprach mit mir nicht mehr darüber, was er tat, er entfernte sich von mir, das war hart … Eines Tages teilte er mir mit, dass er in Zukunft regelmäßig außerhalb von Paris zu tun hätte.«

»Leben Sie noch in Paris?«

»Ja.«

»Mit Ihrem Mann?«

»Natürlich.« Sie fährt fort: »Er erzählte mir, er hätte eine halbe Stelle als kaufmännischer Angestellter angenommen, in einer Transportfirma, und er sei die rechte Hand eines ehemaligen Gangsters.«

»Erinnern Sie sich an den Zeitpunkt?«

»Sehr präzise. 1964.«

»Mehr Einzelheiten hat er Ihnen nicht genannt?«

»Nicht sofort. Er versuchte Witze darüber zu machen, aber ich, ich war wütend. Ich habe einen Soldaten geheiratet, keinen halben Banditen. Am Ende sagte er zu mir: ›Ich bin immer noch Soldat, aber Frankreich befindet sich nicht mehr im Krieg. Man hat mich auf einen anderen Posten abkommandiert, und meine Pflicht als Soldat ist es, dir nicht mehr darüber zu sagen, deine Pflicht als Soldatenfrau ist es, das unhinterfragt zu akzeptieren.‹«

»Und Sie haben keine Fragen mehr gestellt?«

»Ich habe es geschafft, seine Einkünfte zu überprüfen, und heute bin ich nicht stolz darauf. Weder die Quelle noch der Betrag haben sich je verändert. Also habe ich akzeptiert, dass mein Mann in geheimer Mission unterwegs war. Er ist für Frankreich gestorben, das steht fest. Und es ist das, was ich meinen Kindern sagen werde.«

Daquin trifft gegen Mittag beim SRPJ Nizza ein. Allgemeiner Aufruhr. Das Team vom Flughafen ist gerade zurück. Sie haben die Passagierlisten der Flüge überprüft, die um den für Simons Ermordung angenommenen Zeitpunkt herum gestartet oder gelandet sind. Sie sind auf den Namen Michael Frickx gestoßen. Daraufhin haben sie alle Taxiunternehmen befragt, ohne Ergebnis, dann die Autovermietungen. Treffer. Frickx hatte einen Wagen reserviert, einen Mercedes, und er hat ihn etwa zum geschätzten Zeitpunkt des Mordes abgeholt. Ein Polizist öffnet sein Notizbuch, um die Aussage der Angestellten vorzulesen: »›Er wirkte ruhig. Nein, nicht angespannt, nicht nervös. Normal. Er hat die Übernahmeerklärung für seinen Wagen gegen zweiundzwanzig Uhr unterschrieben, eine Stunde, nachdem er gelandet war. Wir haben nur noch auf ihn gewartet, bevor wir schließen.‹« Der Polizist fügt hinzu: »Er hatte kein Gepäck, das haben wir überprüft. Eine Stunde, der Flughafen ist klein, das gibt ausreichend Zeit.«

Bonino sieht Daquin an und zieht eine Grimasse. Nicht nur, dass Madame Frickx an Pieris Seite ist, als er erschossen wird, nicht nur, dass sie erklärt, ihr Mann habe regelmäßig geschäftlich mit ihm zu tun, jetzt stellt sich auch noch heraus, dass Frickx selbst sich etwa zu der Zeit am Flughafen aufhält, als Simon dort ermordet wird. Es ist fortan unmöglich, die Präsenz der Familie Frickx in dem Fall zu ignorieren. Was zwangsläufig bedeutet, dass Komplikationen bevorstehen. Das hat der Niçoiser Polizei gerade noch gefehlt. Zwei Bullen werden zur Villa in Cap Ferrat geschickt, um Monsieur Frickx zu bitten, sich um vierzehn Uhr bei der Kriminalpolizei Nizza zu einem Gespräch mit Inspecteur Bonino und Commissaire Daquin einzufinden, der mit den Mordfällen betraut ist.

Dann führt Bonino Daquin in sein Büro, um ihn über die bisherigen Aktivitäten seines Teams zu unterrichten. Kein übertriebener Eifer, aber anständige Arbeit. In sämtlichen Kfz-Werkstätten der Region wird weiter nach dem Motorrad der Mörder gesucht, vielleicht eine Ducati. Wenig Hoffnung in dieser Hinsicht. Pieris Aufenthalte in Nizza: Seit etwa einem Jahr kam er regelmäßig in die Stadt. Er drehte eine Runde durch die Kunstgalerien, informierte sich über neue Trends auf dem Kunstmarkt, machte sich Notizen. Und besuchte regelmäßig das Casino im Palais de la Méditerranée, das Restaurant und die kleine Galerie im selben Gebäude. Wo er übernachtete, konnte hingegen noch nicht ermittelt werden.

Die Familie Frickx, Emily und ihr Mann: Er ist Leiter des Mailänder Büros von Co Trade, Europaverantwortlicher eines der weltgrößten Unternehmen im Erzhandel. Sie: ein Kind aus reicher Familie, schwerreicher Familie. Enkelin eines südafrikanischen Bergbaumagnaten mit Diamant- und anderen Edelsteinminen.

»Die sich damit vergnügt, auf der Promenade des Anglais Klaviere zu Kleinholz zu machen.«

»Mhm …«

»Ein Pärchen, das mit Staatsanwalt Coulons Hypothese einer Abrechnung im Milieu nicht recht zusammenpasst.«

»Ihre Präsenz in diesem Fall ist vielleicht reiner Zufall.«

»Ein hartnäckiger Zufall. Und der Mord an Simon?«

»Die Erfahrung zeigt, dass Abrechnungen oft geballt auftreten.«

»Aber Simon ist polizeilich nicht aktenkundig, oder irre ich mich?«

Bonino hebt in einer Ohnmachtsgeste beide Hände.

»Ich bin heute Morgen beim Leichenschauhaus Madame Simon begegnet.«

 

Bonino zuckt zusammen und sagt sich, dass er besser daran getan hätte, selbst hinzufahren.

»Wussten Sie, dass ihr Mann eine Militärkarriere hinter sich hatte?«

»Das wusste ich noch nicht.«

»Sie ist überzeugt, dass er immer noch zum Führungsstab der Armee gehörte und die Somar nur ein Deckmantel war.«

»Und Sie glauben ihr aufs Wort?«

»Ich neige dazu, ihr zu glauben, ja.«

»Sie stimmen doch mit mir überein, dass das nachgeprüft gehört, es kann vielerlei Gründe geben, warum ein Ehemann …«

In diesem Moment klopft ein Polizist an die Tür, tritt ein. Er kommt gerade von der Villa in Cap Ferrat, ratlos.

»Michael Frickx ist gestern Abend spät eingetroffen und heute Morgen sehr früh nach Mailand abgereist.«

Am Ende seiner Nerven schreit Bonino beinahe: »Er hat seine Frau allein gelassen?«

»Nein, er hat einen Cousin seiner Gattin angerufen, damit er kommt und ihr Gesellschaft leistet. Ein junger Mann, fünfundzwanzig, dreißig Jahre alt. David Hammersfeld. Südafrikaner. Ich habe seinen Namen notiert, seine Adresse. Als ich ihn nach seinem Beruf fragte, hat er geantwortet, dass er das Geld seiner Familie verballert.« Er schweigt einen Moment, immer noch schockiert.

Daquin fragt: »War das ein Scherz?«

Der Polizist fährt fort: »Nein, ich glaube nicht. Ich wollte die Krankenpflegerin sprechen, um ihre Einschätzung zu Madame Frickx’ Gesundheitszustand zu hören, aber der Cousin hat sie weggeschickt …«

Daquin fällt ihm ins Wort: »Es gab eine Krankenpflegerin? Ich habe davon keine Spur in der Akte gesehen.«

Niemand geht darauf ein. Und der Polizist spricht weiter: »Dann habe ich im Mailänder Büro von Frickx angerufen, die europäische Niederlassung von Co Trade, seine Frau hatte mir die Nummer gegeben …«

»Und?«

»Er sei auf Geschäftsreise. Seine Mitarbeiter behaupten, nicht zu wissen, wo er ist. Er hätte keine Telefonnummer hinterlassen und sei bis zu seiner Rückkehr nach Mailand, Zeitpunkt unbestimmt, nicht erreichbar.«

Nach einem Moment des Schwankens hält es Bonino nicht mehr, er steht auf. »Es ist Essenszeit. Bitte entschuldigen Sie mich, Commissaire, ich bin verabredet …«

Sobald er den SRPJ verlassen hat, sucht Daquin Staatsanwalt Coulon auf, der ihn unverzüglich empfängt.

»Ein zweiter Mord … und ein dritter …«, sagt der Staatsanwalt mit einem süffisanten Lächeln. Und er informiert ihn über den »bedauerlichen Unfall«, der dem Kapitän der Santa Lucia zugestoßen ist.

Es wird schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, weiter abzuwarten, Daquin erhält den Durchsuchungsbeschluss für die Somar und die Wohnungen der Opfer, Pieri und Simon.

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