Rettungskreuzer Ikarus 11 - 20: Verschollen im Nexoversum (und 9 weitere Romane)

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»Das werden wahrscheinlich Wartungsteams sein, die versuchen, die Schäden an den Energieleitern zu beheben«, vermutete Sonja neben Sentenza.

»Dafür sind die Lebenssignaturen aber zu schwach«, räumte Trooid über das Kom ein. »Sie sterben, Captain.«

»Also war doch etwas faul. Können Sie uns dorthin lotsen, Arthur?«

Etwas krächzte in der Verbindung. Dann war eine andere Stimme zu vernehmen. »Captain, hier ist Johannsson, ich kann Sie führen.«

Sentenza runzelte die Stirn und drehte sich halb zu Anande um. »Doc, Ihr Patient ist wieder auf den Beinen.«

»Das spricht doch für meine Heilkünste, oder?«, gab der Bordarzt unfreiwillig komisch zurück. »Soll ich nach ihm sehen?«

»Nein, er wird uns vielmehr zu den Eingeschlossenen führen. Ich brauche Sie dort. – Also, schießen Sie los, Johannsson. Wir befinden uns im mittleren Ring, etwa dreißig Schritt vom Lift entfernt, der in den oberen Ring führt.«

»Halten Sie sich an der nächsten Abzweigung rechts.«

Richterin Dorothea versuchte verzweifelt, an den Captain heranzukommen, doch Thorpa und Darius Weenderveen bewegten sich so geschickt hin und her, dass sie keine Chance hatte.

»Captain«, meldete sich nochmals Arthur Trooid zu Wort. »Wir haben einen an die Zuflucht gerichteten Funkspruch der Regierung von Albira II erhalten. Man ist äußerst ungehalten, dass sich das Schiff noch in ihrem Hoheitsgebiet befindet. Sie drohen damit, es abzufangen und notfalls mit Gewalt aus dem System zu entfernen.«

»Ganz toll«, brummte Roderick. »Schicken Sie denen eine Nachricht von mir, Trooid. Wir sind noch mit der Rettungsmission beschäftigt.«

»Aye, Captain.«

Sie erreichten die Abzweigung. Sentenza informierte Johannsson über das Kom, und als sie in den rechten Korridor einbogen, statt geradeaus weiterzugehen, schallte hinter ihnen der empörte Ruf Richterin Dorotheas auf. Sentenza ignorierte ihn.

»Captain, wo … wo wollen Sie hin?«, rief sie ihm hinterher und blieb unschlüssig stehen. »Captain!«

Die Crew der Ikarus ließ sich nicht aufhalten. Dorothea eilte zum nächsten Komlink und hieb die Sprechtaste fester herunter als beabsichtigt.

»Wir haben keine Zeit für Spielchen«, raunte Roderick Sonja zu.

Der Chief presste die Lippen aufeinander und nickte leicht. Fast gleichzeitig schwangen die beiden herum und hielten plötzlich die handlichen Stunner schussbereit im Anschlag. Weenderveen und Anande sprangen zur Seite, nur Thorpa reagierte nicht rechtzeitig und zappelte wie wild, als die elektrischen Ladungen sirrend an ihm vorbeizuckten und die beiden Guardians erfassten, die sich in Dorotheas Begleitung befanden. Die Wächter strauchelten und gingen bewusstlos zu Boden. Ein weiterer Schockblitz streckte die Richterin nieder.

»Jetzt haben wir den Salat«, murmelte Weenderveen.

»Sind Sie übergeschnappt?«, kreischte dagegen Anande.

»Doc, auf Ihr Urteil kann man sich verlassen«, pflichtete Thorpa ihm bei. »Um ein Haar hätte es mich erwischt.«

Sentenza gebot den anderen mit einer herrischen Geste zu schweigen. In zwei, drei Sätzen umriss er ihre Lage und teilte ihnen mit, was er durch Trooid erfahren hatte.

»Wir werden jetzt mit Johannssons Hilfe bis zum Tempelraum vordringen, das verfluchte Schott aufsprengen und die Leute dort herausholen«, schloss der Captain, stieß dabei jedoch auf missbilligende Blicke seitens Doktor Anandes und Thorpas.

»Captain, es war schon unverantwortlich genug, die Richterin und ihre Wächter zu betäuben«, wandte der Bordarzt der Ikarus protestierend ein. »Wenn wir jetzt zusehen, dass wir zu unserem Schiff zurückkehren und im Hyperraum das Weite suchen, können wir von Glück reden, wenn uns Asiano nicht vor der Führung des Raumcorps verklagt.«

»Machen Sie sich nicht ins Hemd, Doc«, fiel ihm Sonja ins Wort. »Sollen wir die Unschuldigen, die im Tempel eingeschlossen sind, verrecken lassen?«

»Wir können mit unserem Wissen doch jetzt wieder zu Asiano zurückkehren«, schlug Thorpa aufgeregt mit seinen Astarmen wedelnd vor. »Diesmal wird er uns nicht abweisen und belügen können.«

»Das dauert zu lange«, gab Sentenza zu bedenken. »Den Leuten wird die Luft zu knapp, falls Sie das vergessen haben sollten. Wir gehen jetzt da rein, basta!«

Wütend darüber, dass seine eigenen Leute ihm in den Rücken fallen wollten, drehte sich Sentenza abrupt um und lief den Korridor entlang.

»Meine Herren?«, fragte Sonja. »Sie können meinetwegen gerne hier Wurzeln schlagen – nehmen Sie’s nicht persönlich, Thorpa –, aber der Captain scheint sauer zu sein. Wenn Sie je wieder an Bord seines Schiffs wollen, dann …«

Sie ließ den Rest unausgesprochen und rannte Sentenza hinterher. Weenderveen zuckte auf Anandes fragenden Blick hin die Achseln. Dann spurteten auch sie los und zogen Thorpa mit sich.


Der frische Luftzug kitzelte seine Nase. Es war merklich kühler geworden, aber vielleicht bildete er sich dies auch nur ein. Ein wenig träge hob er die Lider und blinzelte kurz, ehe er sich an die gedämpften Lichtverhältnisse gewöhnte. Nur schwach strömte der Schein einer Leuchtquelle zu ihm herüber.

Reno ächzte leise, als er sich aufrichtete. Verwirrt schaute er sich um und rätselte für ein, zwei Momente, was mit ihm geschehen war. Da schlug ihm die Erkenntnis mit voller Wucht ins Bewusstsein und verdammte ihn für wertvolle Zeit zur Bewegungsunfähigkeit.

Wie lange war er bewusstlos gewesen?

Waren Nova und die anderen längst tot?

Reno stemmte sich hoch und wäre beinahe wieder gestürzt, als Schwindel ihn erfasste. Der körperliche Schaden, der ihm durch den Sauerstoffentzug im Tempelraum zugefügt worden war, war größer, als er angenommen hatte. Wie würde es erst den anderen ergehen?

Wenn ich nur wüsste, wie viel Zeit bereits vergangen ist …

Er hielt sich an den Rändern des Wartungstunnels fest und ging mit immer schneller werdenden Schritten dem fernen Licht entgegen. Schließlich rannte er, getrieben von der Angst, versagt zu haben …


Sekunden dehnten sich zu Minuten, diese wiederum scheinbar zu Stunden und es schien kein wirkliches Vorwärtskommen zu geben. Zweimal musste die Rettungsmannschaft Hindernissen ausweichen, die ihnen von der Besatzung der Zuflucht offensichtlich in den Weg gelegt worden waren: ein versiegeltes Schott, ein geflutetes Korridorsegment. Dank Gundolf Johannssons Navigationshilfe waren sie jedoch auf Umwegen zu ihrem Ziel gelangt.

Fast schon hätte Roderick Sentenza aufgeatmet, als die Stimme des Suchenden über das Kom verkündete, sie hätten es geschafft und müssten jetzt ein zweiflügeliges Portal erkennen können, das mit allerlei religiösen Symbolen ausstaffiert war.

»Ich sehe es!«, rief Thorpa aus.

»Ja, aber die Menschenmenge davor, gehört nicht dazu, oder?«, brummte Darius Weenderveen und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Gläubigen, die sich zu Dutzenden vor dem Portal versammelt hatten. Es sah nicht so aus, als wären sie gekommen, um die Rettungscrew zu unterstützen.

Unbeirrbar schritt Roderick Sentenza auf die anderen zu – bis er gezwungen war, stehen zu bleiben, da die religiösen Fanatiker eine unüberwindbare Barriere vor dem Portal geschaffen hatten.

»Wer hat hier das Wort?«, fragte Sentenza laut.

Niemand meldete sich. Alle standen still und mit vor der Brust verschränkten Armen da und gafften die Leute der Ikarus einfach nur an.

»Ich bin Captain Roderick Sentenza vom Raumcorps«, versuchte er es noch einmal. »Meine Crew und ich sind hier, um Ihre Mitgläubigen im Tempelraum zu befreien. Wenn Sie uns nicht durchlassen, werden Ihre Freunde sterben.«

Ein hagerer Adept in gelber Robe trat aus der Reihe vor und starrte Sentenza unverwandt an.

»Geh weg, Raumcorps«, raunte er ihm mit einer Fistelstimme zu. »Wir wollen deine Hilfe nicht.«

»Sie vielleicht nicht!«, fauchte Sonja. »Aber die Menschen dort drin sterben.«

»Wenn es ihr Schicksal ist, dann soll es so sein«, erwiderte der Mann ungerührt. »Ihr habt nicht das Recht, die Türen aufzubrechen und unseren Tempel zu entweihen.«

»Ich fasse es nicht«, seufzte Sentenza, dann hob er seine Stimme an und brüllte fast: »Ist keiner bereit, den Leuten im Tempelraum zu helfen? Sie werden sterben, wenn wir dieses Schott nicht öffnen. Wollen Sie das verantworten? Wollen Sie zu ihren Mördern werden?«

Was immer er sich durch seine Moralpredigt erhofft hatte, die völlig gegenteilige Wirkung setzte plötzlich ein. Die Suchenden und Adepten stimmten einen hohen Singsang an, der nach nur wenigen Sekunden in ein schallendes Geschrei und Gekreische ausartete. Wie hysterisch schrien die Leute durcheinander, pressten sich selbst die Hände auf die Ohren und begannen, wie wild auf dem Boden aufzustampfen.

Sonja brüllte etwas über den Lärm hinweg, doch Sentenza verstand es nicht. Er deutete mit einem Wink an, dass sie sich zurückziehen sollten. Rasch liefen sie den Gang entlang, den sie gekommen waren, und bogen in einen Nebenarm ein, der sich durch ein Schott sichern ließ. Erst als das Tor mit einem dumpfen Schlag in die Fugen eingerastet war, verebbte das Gekreische aus dem Korridor.

»Schlimmer als im Kindergarten«, kommentierte Jovian Anande und pulte sich mit einem Finger im Ohr herum. »Ich bin fast taub geworden.«

»Mir ergeht’s nicht anders«, sagte Weenderveen. »Und wenn Sie noch einmal sagen, wir sollten verhandeln, Doc, dann versetze ich Ihnen einen Tritt.«

 

»Vielleicht hab ich mich geirrt.«

Sentenza blickte sich um. Dies war nicht der Gang, den sie gekommen waren. Aber er hatte auch nicht vor, den Rückweg anzutreten. So leicht wollte er nicht aufgeben.

Falls es nicht schon zu spät ist.

»Johannsson, wir kamen nicht durch. Gibt es einen anderen Weg in den Tempelraum hinein?«

»Nein, nur das Portal«, kam prompt die Antwort aus dem Kom.

»Was jetzt?«, erkundigte sich Weenderveen. »Schießen wir uns den Weg frei?«

Für den Bruchteil einer Sekunde war Roderick Sentenza versucht, genau das zu tun. Aber er würde keine Leben gefährden, um andere zu retten. Nicht die Protestierenden draußen vor dem Schott waren die Schuldigen, sondern einzig und allein Asiano, der sich zu einem Halbgott aufgeschwungen und durch seine Lehren die Jünger zum Tode verurteilt hatte.

Ich weiß es nicht … Die Worte kamen Sentenza nicht über die Lippen. Die Ausbildung und der Drill in der Raummarine hatten ihn gelehrt, niemals und unter keinen Umständen Ratlosigkeit vor der Mannschaft preiszugeben. Er war ihr Captain, ihm vertrauten sie – er wusste alles. Für die Crew sollte es jedenfalls den Anschein erwecken. Aber dies hier war nicht die Raummarine. Er befehligte keinen Zerstörer mehr, sondern eine interstellare Ambulanz. Und die Leute unter seinem Kommando waren mehr als seine Untergebenen – sie waren seine Freunde geworden.

Ehe sein Schweigen unangenehm werden konnte, erklang von weiter hinten im Gang ein Poltern. Die Crew fuhr mit gezogenen Stunnern herum. Mitten im Korridor lag eine Gitterklappe, die anscheinend von der Wand gefallen war. Sentenza und die anderen staunten nicht schlecht, als sich ein Paar Füße aus einer Öffnung schob. Kurz darauf folgte der dazugehörige Körper. Es handelte sich um einen Mann in der grauen Robe der Suchenden mit kahl geschorenem Schädel. Als er aufblickte, sah er direkt in die Mündungen der fünf Stunner und prallte erschrocken zurück.

»Wer sind Sie?«

Sentenza grinste. »Die Fragen stellen wir. Wo kommen Sie her?«

Der andere deutete hinter sich in den Schacht.

»Wo führt er hin?«, fragte Sonja, und als er nicht gleich antwortete, presste sie ihm den Stunner direkt auf die Brust. Die Geste wirkte. Der Mann schluckte kurz und drückte vorsichtig die Mündung der Waffe von sich weg.

»Ich heiße Reno und bin ein Suchender. Ich komme aus diesem Wartungsschacht.«

»Erzählen Sie hier keine Märchen«, zischte Sonja. »Wenn Sie ein Suchender sind, dann bin ich Ihr Erlöser höchstpersönlich.«

»Ich … ich verstehe nicht«, stammelte Reno.

»Sonja hat recht«, mischte sich Weenderveen ein. »Ein Suchender würde bestimmt nicht hier so verstohlen herumkrauchen. Die Angst, erwischt zu werden, steht ihm ja förmlich ins Gesicht geschrieben.«

»Jetzt aber mal langsam!«, begehrte Reno auf. »Wer bei St. Salusa sind Sie eigentlich?«

»St. Salusa?«, echote Sentenza und grinste plötzlich breit.

Reno fluchte. »Na gut, Sie haben mich erwischt. Was jetzt? Ich habe keine Zeit für …«

»Wir sind ein Rettungsteam des Raumcorps und sind hier, um die im Tempelraum Eingeschlossenen zu befreien.«

»Warum sagen Sie das nicht gleich?«, gab Reno zurück. »Kommen Sie, hier führt ein Weg hinein.«


Den Lotsen und Schiffsführern auf der Plattform des Turms war das Unbehagen deutlich anzumerken. Normalerweise ließen sich der Erlöser und Superior Saladin nur selten auf der Brücke der Zuflucht blicken. Sie interessierte die Raumfahrt an sich nicht. Für die religiösen Führer war sie nur Mittel zum Zweck, um ihre Worte, ihren Glauben über weite Strecken ins Universum hinaustragen zu können.

Doch jetzt waren sie nun mal hier und allein ihre Gegenwart schraubte das Leistungspotenzial der Anwesenden zurück, da sie sich beobachtet fühlten und Fehler vermeiden wollten. Hin und wieder blickte jemand auf und schielte verstohlen zu den beiden ranghöchsten Männern im Orden der Erleuchteten hinüber.

Asiano hatte auf seinem thronartigen Sessel Platz genommen. Der Superior hockte in dem etwas minderprunkvollen Stuhl daneben. Beide unterhielten sich mit dem Kommandanten der Zuflucht, einem Captain, den Sie vor einigen Jahren irgendwo in einer Bar für ehemalige Offiziere der Raummarine aufgelesen hatten. Nicht jeder der Schiffsbesatzung war ein Gläubiger. Die meisten wurden vom Orden für ihre Dienste bezahlt – und dafür, keine Fragen zu stellen und jeden Befehl des Erlösers auszuführen.

»Die Ikarus befindet sich noch immer in unserem Hangar«, teilte der Kommandant mit.

»Ich habe auch nicht erwartet, dass sie uns so schnell verlassen würde«, entgegnete Asiano und blickte auf den Bildschirm neben sich, der den Rettungskreuzer auf seinen Landestelzen im Hangar zeigte. Der Erlöser lehnte sich zurück und legte den Kopf in den Nacken. Über ihm war freier Weltraum. Die Plattform mit dem Kommandostand befand sich dicht unter der Biosphärenkuppel, jedoch abgeschirmt vom Leuchtring und den künstlich geschaffenen Wolken. Von hier aus hatte man einen sagenhaften Blick hinaus in das All.

»Sie werden versuchen, gewaltsam in den Tempel einzudringen«, gab Saladin an seiner Seite zu denken. »Das können wir nicht zulassen. Unsere Jünger würden Gegenmaßnahmen erwarten.«

Asiano nickte. Er wollte sich das Raumcorps nicht zum Feind machen, also konnte er nicht offen gegen dessen Leute vorgehen. Aber jetzt auf die Schnelle eine Intrige zu spinnen, das würde nur zu einem Desaster führen. Er hatte die andere Sache von langer Hand vorbereitet. Bereits zweimal hatten sie versucht, ihn und seinen Orden zu infiltrieren. Den ersten Verräter zu finden, war ein Kinderspiel gewesen – ihn auf die eine oder andere Art loszuwerden, auch. Sicherlich hätte es auch beim zweiten Mal geklappt, wären dieser Sentenza und sein Rettungskreuzer ihnen nicht in die Quere gekommen. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass der Zeitfaktor für ihn und seine Pläne spielte.

»Wo befindet sich das Rettungsteam derzeit?«, erkundigte er sich beim Captain.

»Sie waren vorhin im mittleren Ring, nahe dem verschlossenen Tempelraum. Mehrere Dutzend Suchende und Adepten haben den Weg blockiert. Sie kamen nicht durch.«

Asiano lächelte. Der Sauerstoff musste im Tempelraum bereits so knapp geworden sein, dass die ersten Jünger bewusstlos waren. Er überlegte, ob sie nicht die Restluft absaugen sollten, doch jeglicher Eingriff, den er jetzt anordnete, würde seinen Plan, die Sache wie einen Unfall aussehen zu lassen, zunichtemachen. Er musste abwarten und hoffte, dass zumindest der Spion starb, ehe Sentenza es doch noch irgendwie schaffte, in den Tempel einzudringen.

Er nickte dem Captain zu, woraufhin dieser sich zum Leitstand zurückzog. Nur der Kommandant und Superior Saladin teilten Asianos Wissen um die Vergeltungsaktion gegen den unerwünschten Eindringling. Er war sich ihrer Loyalität sicher. Der Captain hatte eine fette Prämie erhalten und Saladin war ihm treu ergeben.

Und alt.

Niemanden würde es verwundern, wenn er plötzlich eines natürlichen Todes starb – nur für den Fall, dass er einmal nicht in Asianos Sinne wirken sollte.

»Sollen wir die Guardians schicken?«, fragte Saladin nach, der von den Gedanken des Erlösers nichts ahnte.

Asiano faltete die Hände ineinander und betrachtete das Sternenmeer über sich. Eine Zeit lang schien es, als hätte er die Frage des Superiors gar nicht gehört, doch dann antwortete er: »Nein, wir warten.«


Schwitzend hetzten Sentenza, Sonja, Anande und Reno durch den Wartungsschacht. Je mehr sie sich dem Tempelraum näherten, desto stickiger und heißer wurde die Luft. Es gab wahrlich angenehmere Orte als diesen. Sie hatten Weenderveen und Thorpa am Eingang zurückgelassen. Der ältere Robotingenieur litt ohnehin an einer Art Klaustrophobie und hätte im engen Schacht wahrscheinlich Panikanfälle bekommen.

»Ist es noch weit?«

»Wir sind gleich da«, beruhigte Reno Sonja.

Es war zunehmend dunkler geworden. Schließlich hatten sie die zu ihrer Ausrüstung gehörenden Lampen eingeschaltet. Die Lichtkegel tanzten über verrottete Metallwände. Der Zustand des Ganges war übler als der des Decks im unteren Ring. Er wurde anscheinend nie gesäubert – wozu auch, wenn er nur alle Jubeljahre von einem Techniker genutzt wurde, um Wartungsarbeiten durchzuführen?

»Das ist die Kammer unter dem Schrein«, sagte Reno und deutete auf eine Aussparung am Ende des Tunnels.

Das Kom knackte. »Captain Sentenza?«, fragte die Stimme Trooids an.

»Was gibt es?«

»Die Regierung von Albira II hat mehrere Schiffe gestartet, um die Zuflucht aus dem Sonnensystem zu eskortieren. Sie haben gedroht, das Feuer zu eröffnen, sollte man nicht kooperieren.«

»Mist! Haben Sie denen gesagt, dass wir noch an Bord sind?«

»Natürlich. Aber es schien ihnen nichts auszumachen, uns mit zu vernichten.«

»Fantastisch.« Sentenza war jetzt gewiss nicht in der Stimmung für politische Kapriolen. Vorrangig mussten die Gläubigen gerettet werden. »Sagen Sie denen, dass sie sich die Aufnahme ins Raumcorps von der Backe schmieren können, wenn sie das Feuer eröffnen.«

Reno schritt voran in die Kammer und zeigte auf eine schmale Klappe in der Wand. »Das ist der Zugang zum Tempelraum«, flüsterte er.

»Dann rein.«

Sentenza fühlte die Hand Renos auf seinem Unterarm. »Seien Sie vorsichtig, Captain. Beim letzten Mal haben die mich fast erschlagen.«

Roderick nickte nur, zog den Laser und feuerte auf die Luke.

Funken sprühten, als der Blitz in das Metall einschlug und einen Teil einfach wegsprengte. Die Klappe schwang nach innen auf. Sentenza und Sonja stürmten in den Raum, kümmerten sich jedoch nicht um die allesamt auf dem Boden liegenden Menschen, sondern rannten mit angehaltenem Atem zum Portal.

»Sprengen!«, befahl Roderick. Als er einatmete, tanzten Flecken vor seinen Augen. Er röchelte. Die Luft war mehr als verbraucht.

Sonja taumelte ebenfalls, schoss jedoch. Gleißende Entladungen bohrten sich von innen in das Portal. Der Chief ließ den Finger nicht vom Abzug und sandte einen lang gezogenen Lichtfinger in drei Metern Höhe durch das Tor und zog dann eine kreisförmige Bahn. Sie hoffte, dass der durchschneidende Laserstrahl nicht die gläubigen Demonstranten auf der anderen Seite erfasste. Der Kreis war abgeschlossen. Eine letzte Entladung, dann fiel das herausgeschnittene Segment herunter. Frische Luft strömte in den Tempelraum. Durchzug entstand durch die noch geöffnete Luke zum Wartungstunnel. Zwar war noch immer der schale Geruch von abgestandener Luft gegenwärtig, aber die Rettungscrew konnte es zumindest riskieren durchzuatmen.

Sentenza und DiMersi kehrten zu den anderen zurück. Anande hatte sich bereits über die reglos daliegenden Leute gebeugt und untersuchte sie in einer Blitzaktion. Bei zweien schüttelte er den Kopf, anderen injizierte er eine mit Sauerstoff angereicherte Flüssigkeit und bei den schweren Fällen pumpte er Atemluft direkt aus einem mitgeführten Behälter in ihre Lungen.

»Das reicht nicht für alle«, sagte er, während er von einem zum anderen sprang, hier und da Wiederbelebungstechniken anwandte und bei einem Mann erneut den Kopf schüttelte.

»Wir müssen das Schott öffnen!«

Sentenza sah sich gehetzt um. Nur Notleuchten, die mit Eigenenergie versorgt wurden, brannten. Da erblickte er den Monitor über dem Portal, und was er darauf sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Eine Szene wurde immer wieder und wieder abgespielt. Er sah sich selbst draußen vor dem Schott, wie er mit den Demonstranten diskutierte, dann ihre Flucht vor dem hysterischen Gekreische. Das Bild wechselte, zeigte wie die Guardians von Elektrostößen aus den Stunnern Sentenzas und DiMersis zu Boden gingen. Wie Richterin Dorothea niedergeschossen wurde.

»Verfluchte Propaganda«, keuchte Roderick. »Sie hetzen sie gegen uns auf.«

Er hob die Pistole und drückte ab. Ein heller Energiestoß bohrte sich in den Plasmaschirm und verdampfte ihn.

»Das hilft uns nicht weiter, Captain!«, rief Reno ihm zu. »Wir müssen die Leute rausschaffen. Drei sind bereits tot.«

 

Sentenza wandte sich um. Der Suchende hatte sich über einen Mann gebeugt, der mit weit geöffneten Augen und in einer getrockneten Lache seines eigenen Blutes vor dem Schrein lag.

»Kannten Sie diesen Mann?«, fragte Roderick.

Reno atmete schwer. »Akolyth Prospero. Es war ein Unfall – er muss letztendlich verblutet sein.« Er richtete sich auf und blickte sich suchend um. Dann erspähte er Nova, eilte zu ihr und bettete ihren Kopf in seinen Schoß.

»Ich habe eine Idee!«, rief Sonja und deutete auf die Kabelstränge, die aus dem zerschossenen Bildschirm ragten. »Hilf mir mal.«

Sentenza unterstützte sie dabei, den Altar zu demontieren. Mit gezielten Schüssen trennten sie den Schrein von seinem Sockel, lösten die Kabelverbindungen, die das Hologramm Asianos mit Energie versorgten, und trugen ihn zum Portal hinüber. Sonja rupfte weitere Kabel aus dem Sockel, stieg dann auf den Altarstein und ließ sich von Roderick weiter nach oben stemmen, bis sie die Kabel erreichte, die von der Decke hingen. Sie zog sie herunter und betete, dass sie nicht rissen. Als sie wieder Boden unter den Füßen hatte, verlängerte sie die Kabel mit jenen aus dem Schrein, zielte dann mit dem Laser auf den Öffnungsmechanismus des Schotts und legte die Zuleitungen frei.

Sie schloss die Apparatur kurz und jagte einen Energiestoß durch die Kabel. Das Portal öffnete sich plötzlich und schob sich seitwärts in die Wände zurück.

»Ja!«, rief Sonja aus.

»Eine reife Leistung«, lobte Reno.

Auf der anderen Seite prallten die Demonstranten erschrocken zurück. Einige schrien ihnen Verwünschungen zu. Andere wandten sich ab und flohen.

»Der Tempel ist entweiht!«, rief jemand.

»Die Ketzer müssen bestraft werden!«

Einige der Erleuchteten wollten sich auf die Rettungscrew stürzen, doch es genügte, die Laser auf sie zu richten, schon suchten sie ihr Heil in der Flucht. Andere wiederum ignorierten die Ikarus-Mannschaft und kümmerten sich um die Bewusstlosen.

»Das … verstehe ich nicht«, gestand Sentenza.

Reno kam zu ihm. In seinen Armen hielt er eine ohnmächtige Frau.

»Ihre Religion ist durchaus komplex«, sagte er. »Sie achten das Leben und schützen es. Dass sie den anderen nicht geholfen haben, liegt einzig und allein an dem Umstand, dass sie gegen das Verbot verstoßen hätten, den Tempelraum gewaltsam zu öffnen. Aber die Geretteten trifft es vielleicht noch schlimmer. Sie haben sich in ihr Schicksal gefügt und mit dem Leben abgeschlossen. Sie erhofften sich bereits Erlösung im Tod …«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Sentenza sollte es just in diesem Moment am eigenen Leibe erfahren. Eines der Opfer sprang auf, als ihn die durch Anande verabreichte Dosis Sauerstoff wieder zu Bewusstsein kommen ließ. Es handelte sich um einen jungen Mann, ebenso kahl geschoren wie alle anderen. Sein erster Blick galt dem zerstörten Bildschirm. Dadurch wurde Sentenzas Annahme bestätigt, dass die Eingeschlossenen bis zum letzten Atemzug die Rettungsaktion mit verfolgt hatten.

Die Augen des Mannes richteten sich auf Sentenza. Wut mischte sich in seine Züge. »Sie!«, schnappte er. »Sie haben es getan. Sie haben mir den Zutritt zu einer höheren Ebene verwehrt.«

»Beruhigen Sie sich«, mahnte Sentenza und hob beschwichtigend die Hände. »Seien Sie froh, dass Sie noch leben, Mann!«

»Leben?«, kreischte der andere beinahe hysterisch auf. »Ich hatte bereits mit dem Leben abgeschlossen, habe Frieden mit dem Universum geschlossen und mich auf meine Erlösung vorbereitet. Wer glauben Sie, der Sie sind, dass Sie mir das streitig machen wollen?«

»Ein schlichtes Danke würde es auch tun«, gab Sentenza ungerührt zurück, fing aber den warnenden Blick Renos auf. Etwas passte hier ganz und gar nicht ins Bild und der Captain fragte sich, ob der herumkeifende Gläubige noch ganz bei Trost war.

»Nur der Erlöser hätte sich einmischen dürfen, wäre ich dazu ausersehen gewesen, noch länger zu leben«, sagte der Mann und trat dicht an Sentenza heran. Seine Stimme klang leise, aber bestimmt. Eine unausgesprochene Drohung schwang in seinen Worten mit und Sentenza glaubte zu spüren, dass die Temperatur im Tempelraum um einige Grad sank. Die Augen des anderen funkelten vor Wut und unterdrücktem Zorn. Dann wechselte der Blick in einen entschlossenen Ausdruck über, den Sentenza selten zuvor bei einem Menschen beobachtet hatte.

Ohne Vorwarnung langte er nach Sentenzas Holster. Der Captain reagierte, war jedoch zu langsam.

Der Mann hatte den Laser an sich gebracht, doch statt auf Sentenza zu zielen, richtete er die Mündung gegen sich selbst.

»Nein!«, fuhr Roderick auf und sprang vor.

»Für die Erlösung!«, rief der Suchende aus und drückte ab, ehe Roderick es verhindern konnte. Der Laserstrahl hatte den Brustkorb des anderen aufgeschnitten, sein Herz durchbohrt und ihn auf der Stelle getötet. Er kippte hintenüber und noch im Tod schienen seine Augen Sentenza anklagend anzustarren.

Geschockt verharrte der Ikarus-Captain über dem Leichnam und ging selbst in die Knie. Was hatte den Mann nur veranlasst, sich das Leben zu nehmen? War er so sehr auf die Lehren Asianos eingeschworen, dass er bereitwillig den Tod suchte?

»So sinnlos«, murmelte Roderick Sentenza und fühlte, wie langsam Wut in ihm aufkeimte. Wut auf sich selbst, dass er die Aktion nicht vorhergesehen hatte, und auf Asiano, der für den Selbstmord mit verantwortlich war.

Sonja, die Anande dabei geholfen hatte, die Bewusstlosen nach draußen auf den Gang zu tragen, ging neben ihm in die Hocke und schloss ihn in die Arme.

»Warum?«, flüsterte Roderick. Er fühlte einen Stich im Herzen, als hätte der Laserblitz ihn selbst getroffen.

Sonja wusste nichts darauf zu sagen. Ihre Augen waren unverwandt auf den Toten gerichtet. Der Schock saß ihr ebenso in den Gliedern wie ihm. Neben sich gewahrte sie Reno.

»Wie ich schon sagte«, meinte dieser leise, »sie hatten bereits die Erlösung erwartet. Das Schicksal hatte sie dem Tode geweiht und Sie haben Gott gespielt und dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen, Captain. Und für die Erleuchteten ist nur der Erlöser ihr Gott.«

Als auch Anande einsah, dass die Gläubigen sich um ihre Leute kümmerten und bereits Sanitätspersonal mit Tragen herbeieilte, gesellte er sich zu den anderen.

»Wir sollten jetzt verschwinden«, sagte Jovian. »Die werden uns das sicher noch übel nehmen.«

»Er hat recht«, bekräftigte Reno. »Und ich wäre nicht abgeneigt, Ihr Angebot anzunehmen, mit Ihnen zu kommen.«

»Von welchem Angebot reden Sie?«, wunderte sich Roderick, noch halb abwesend und den Toten anstarrend.

»Die werden mich lynchen, wenn ich hierbleibe«, sagte der Mann. »Oder mir das Gleiche antun wie Nova.«

»Was ist denn mit ihr?«, fragte Sonja besorgt.

»Später.«

Endlich raffte sich Roderick Sentenza auf, nahm den Laser an sich und ließ sich von Sonja stützen.

Meine Schuld, dachte er verzweifelt. Es hätte nicht so weit kommen dürfen. Vielleicht wäre es nicht geschehen, wenn ich Priester Lemore mitgenommen hätte.

Als sie den Gang draußen betraten, räumte er seine Selbstzweifel beiseite. Sein Verstand begann wieder, zu arbeiten und das Ereignis nüchtern zu betrachten. Sentenza wusste, dass er Asiano und sein Glaubensgebilde falsch eingeschätzt hatte. Wenn es einen Schuldigen gab, dann den selbst ernannten Erlöser.

Sie nahmen den Weg zurück zum Hangar. Die Gläubigen, die sie unterwegs trafen, machten einen großen Bogen um sie oder verschwanden gleich in abzweigenden Gängen und Räumen. Asianos Propagandamaschinerie wirkte voll und ganz. Auf jedem öffentlichen Bildschirm, den sie passierten, wurde der gewaltsame Einbruch der Ikarus-Crew ins Sanktuarium gezeigt. Im Tempelraum waren versteckte Kameras installiert gewesen. Auch der Freitod des Suchenden wurde immer wieder und wieder in Zeitlupe wiederholt.

Sentenza kochte vor Wut. Am liebsten hätte er den Weg in die Biosphäre eingeschlagen und Asiano zur Rechenschaft gezogen. Nur das bisschen Vernunft, das den Schock überwunden hatte, hielt ihn davor zurück.

Sie trafen sich im unteren Ring mit Darius Weenderveen und Thorpa, die über die Monitore ebenfalls von dem Geschehen unterrichtet waren.

Als sie gemeinsam das Unterdeck erreichten, setzte Asiano seiner Tirade die Krone auf. Sie passierten gerade einen der Schirme, als das Bild des Selbstmörders ausgeblendet wurde und dem Antlitz des Erlösers Platz machte.

»Das haben Sie nun davon, Captain Sentenza«, sprach Asiano mit deutlich schärferem Ton als noch vor einer guten Stunde in der Biosphäre. »Sie hätten sich nicht einmischen dürfen, haben unsere heilige Stätte entweiht und sind zum Mörder geworden.«