Rettungskreuzer Ikarus 11 - 20: Verschollen im Nexoversum (und 9 weitere Romane)

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»Im Unterdeck der Zuflucht leben die Mannschaften«, belehrte sie, als sage dies alles aus. Nach einigen Schritten fügte sie jedoch hinzu: »Dies ist vornehmlich der Bereich, in dem gearbeitet wird. Hier befinden sich Maschinenraum, Hangar und Frachträume.«

Thorpa beschleunigte seinen Gang und gesellte sich an Dorotheas Seite, um sie mit Fragen zu löchern. Zwar rollte Sonja mit den Augen und seufzte leise, doch Sentenza war die forsche Art des Pentakka diesmal sehr willkommen. Er mochte die Erleuchteten nicht und war froh, dass jemand anderes ihm die Arbeit abnahm, an Informationen zu gelangen.

»Wir haben insgesamt drei Ringe gezählt, die sich unter der Biosphärenkuppel befinden«, sagte Thorpa. »Stellt jeder Ring ein Deck dar?«

Dorothea antwortete nicht sofort. Offenbar überlegte sie, ob sie es wirklich nötig hatte, sich ausfragen zu lassen. Doch dann siegte ihr Wille, andere zu ihrem Glauben an den Erlöser zu bekehren. Wenn sie den Leuten vom Raumcorps den Aufenthalt auf der Zuflucht schmackhaft machte … wer wusste, vielleicht konnten sie schon bald eine Handvoll neuer Suchender in ihre Reihen aufnehmen.

»Ja. Pro Ring ein Deck. Im mittleren sind die Quartiere der Suchenden untergebracht, zusammen mit ihren Tempelräumen, einer Krankenstation, unserer großen Bibliothek, einer Großmesse und kleineren Speiseräumen.«

»Und zu einem Suchenden wird man, wenn man in ihren Orden eintritt?«, fragte Thorpa weiter.

Dorotheas Miene hellte sich auf. Allem Anschein nach handelte es sich bei dem wandelnden Baum um einen potenziellen Gläubigen, so wissbegierig, wie dieser war.

»Nun, als Orden würde ich uns nicht gerade bezeichnen … aber wenn Sie sich zum Beispiel zu unserem Glauben bekennen, Herr …?«

»Thorpa«, half der Pentakka aus.

»… Herr Thorpa, dann erhalten Sie die traditionelle graue Robe der Suchenden und lassen sich Ihr Haupt rasieren …«

Abrupt blieb Dorothea stehen und starrte Thorpa entgeistert an, als sie ihren Fehler bemerkte. Ihre Wangen röteten sich.

»Nun ja, die Sache mit der Rasur vergessen wir bei Ihnen vielleicht …«

Sentenza und DiMersi sahen sich kurz an und schmunzelten. Fast automatisch streckte der Captain die Hand nach Sonja aus und drückte ihre Linke kurz. Als ihm bewusst wurde, dass die Geste in ihrer jetzigen Situation unangemessen war, fuhr er wie elektrisiert zusammen und ließ Sonja los. Er ignorierte das spöttische Lachen hinter sich, das nur von Darius Weenderveen stammen konnte. Natürlich hatte der alte Kybernetik- und Robotikingenieur alles beobachtet.

Sie bogen in einen Nebenarm des Hauptkorridors und blieben schließlich vor einer Doppeltür stehen. Als sich diese öffnete, war dahinter eine Aufzugkabine zu erkennen. Mit dem Lift überbrückten sie den Weg zum nächsten Deck. Es wurde schlagartig heller, als sie den Aufzug verließen. Die Gänge des Mitteldecks waren sauber, die Wände bestanden aus weißen Kunststoffpaneelen und nirgendwo waren mehr Rohre und Schläuche zu sehen, die wirr von der Decke hingen.

In regelmäßigen Abständen zierten Hologramme die Wände. Alle zeigten sie das dreidimensionale Abbild eines einzigen Mannes. Sein Gesicht wirkte selbst auf Sentenza irgendwie charismatisch. Eingerahmt wurde es von einem gestutzten, schwarzen Vollbart. Die stahlblauen Augen schienen den Betrachter aus jedem Blickwinkel sanftmütig anzusehen.

»Ist das …?«, begann Thorpa und streckte einen seiner astähnlichen Arme in Richtung des Hologramms aus, an dem sie gerade vorbeigingen. Blitzschnell schob sich die Akolythin, die Dorothea begleitete, zwischen das Abbild und Thorpa und schien erleichtert zu sein, den Pentakka von einem Sakrileg abgehalten zu haben.

Auch die Wächter hatten sich sichtlich gespannt. Fast fürchtete Sentenza, es würde zu einem Eklat kommen, doch Dorothea fasste sich rasch und ging einfach weiter. Um Thorpa von einer weiteren Dummheit abzuhalten, antwortete sie auf seine Frage: »Ja, das ist Asiano, unser seliger Erlöser und Begründer unserer Glaubensgemeinschaft.«

Ihre Stimme hatte einen seltsamen Ton angenommen, als sie von ihrem geistigen Führer sprach. Sie klang nicht wirklich leiser, aber bedächtig, als müsse sie sich erst jedes Wort zurechtlegen, ehe sie es aussprechen durfte. Und eine gehörige Portion Ehrfurcht schwang in ihrer Stimme mit.

Sie betraten einen weiteren Lift und fuhren mit ihm in das Oberdeck, dem letzten der drei Ringe, ehe das Schiff in die von einer Kuppel bedeckte Biosphäre überging.

»Dies ist unser oberer Ring«, erläuterte die Richterin. »Hier finden sich die Quartiere unserer Adepten, ihre Tempelanlagen, unsere Astronavigation, einige wissenschaftliche Labors, die Gästequartiere, unsere Großküche und weitere Speisesäle.«

Sentenza gefiel es überhaupt nicht, wie sie Gästequartiere betonte. Zudem fühlte er sich von Dorothea vorgeführt. Sie waren auf einer verdammten Rettungsmission und nicht auf einer Sightseeingtour.

»Ich will nicht unhöflich erscheinen«, fuhr der Captain dazwischen, doch der Ton, den er an den Tag legte, strafte seine Worte Lügen. »Aber gibt es keinen schnelleren Weg, um Superior Saladin aufzusuchen?«

»Seine Eminenz befindet sich zurzeit im Biotop. Um vom Unterdeck dorthin zu gelangen, müssen wir verschiedene Lifts nehmen.«

»Es gibt nur einen einzigen direkten Aufzug«, mischte sich die Begleiterin Dorotheas ein, die der Ikarus-Crew nicht vorgestellt worden war.

Die Richterin maß ihre Untergebene mit einem strafenden Blick, als hätte sie gerade ein Geheimnis ausgeplaudert.

»Warum nehmen wir nicht den?«, drängte nun auch Sonja, die genau wie der Captain spürte, dass ihnen die Zeit unter den Nägeln brannte.

»Das ist uns nicht erlaubt«, belehrte Dorothea. »Nur der Erlöser darf den direkten Aufzug benutzen.«

Zur Hölle mit dem Erlöser!, dachte Sentenza und war versucht dies auch laut auszusprechen, doch er hielt sich noch rechtzeitig im Zaum. Beleidigungen würden ihre Situation nur verschlimmern.

Endlich erreichten sie einen weiteren Lift und fuhren zum nächsten Deck.

Als die Kabine hielt und sich die Türen beiseiteschoben, glaubte die Mannschaft der Ikarus, von einem Augenblick zum anderen direkt auf einen Planeten teleportiert worden zu sein. Sonja sog scharf die Luft ein. Sentenza ächzte ungläubig und Weenderveen hielt sich am Rand der Kabine fest, als er vor Aufregung in den Knien einzuknicken drohte.

Nur Thorpa stakste unbefangen aus dem Lift und blickte sich neugierig um.

Jenseits des Lifts befand sich eine atemberaubende Landschaft, die auf den ersten Blick gar als paradiesisch zu bezeichnen war. Eine üppige Vegetation bedeckte einen Großteil des Umfelds. Büsche, Bäume und Farne, so weit das Auge reichte. Der Himmel strahlte in einem kräftigen Blau. Nur zwei oder drei weiße Wolken trieben gemächlich am Horizont daher. Es war taghell, und als sich Thorpa nach der Lichtquelle umschaute, entdeckte er den Leuchtring, der wohl eine Art künstliche Sonne darstellte.

Der Pentakka winkte die anderen heraus. Dorothea und ihre Akolythin gaben der Besatzung des Rettungskreuzers Zeit, den Anblick der erhabenen Landschaft zu verdauen. Sie folgten Thorpas Fingerzeig und erblickten ebenfalls den grünlich gelben Ring hoch oben am Himmel, der die gesamte Biosphäre in ein angenehmes, warmes Licht tauchte.

»Was ist das?«, stammelte Darius Weenderveen beinahe ehrfürchtig und entfernte sich gut zehn Schritt vom Fahrstuhlausgang. Er überschaute das Areal und schätzte die Abstände zum Horizont in allen Richtungen. Auch wenn die Landschaft sich scheinbar endlos erstreckte, kannte Weenderveen von den Aufzeichnungen der Ikarus die Begrenzungen, der sie unterlag. Der Durchmesser der Grundfläche betrug annähernd zweihundert Meter. Durch den dichten Pflanzenbewuchs war jedoch das Ende der Kuppel nicht zu erkennen. Nur wenn man ganz genau hinsah, erblickte man in der Ferne ein feinmaschiges Netz am Himmel, das sich über die gesamte Innenseite der Kuppel zog. Dabei musste es sich um eine Art Stahlgerüst handeln, das die transparente Sphärenkonstruktion stützte.

Genau in der Mitte des Areals befand sich eine Säule, die sich senkrecht in den Himmel schraubte. In ihr war der Aufzugschacht untergebracht. Am oberen Ende in knapp zweihundert Metern Höhe mündete die Säule in einer Plattform – vermutlich befand sich dort die Kommandozentrale des Schiffes. Knapp unterhalb der Plattform umgab der Leuchtring die Säule in einem Durchmesser von einhundert Metern. Seine Helligkeit reichte aus, auch die letzten Winkel der Biosphäre mit Licht zu versorgen. Weenderveen bestaunte das Wunderwerk der Technik mit großen Augen. Er hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Der Ring schwebte augenscheinlich in der Luft, ohne durch sichtbare Stützen gehalten zu werden. Nicht nur Licht, sondern auch eine wohltuende Wärme ging von der seltsamen Energieform aus.

»Was ist das?«, wiederholte Darius seine Frage.

»Der Sonnenring«, antwortete Dorothea einfach. »Er versorgt die Biosphäre mit Licht und Wärme. Im Biotop befinden sich die Quartiere seiner Heiligkeit, von Superior Saladin, Richter Oberon und mir sowie unseren Akolythen.«

Sonja bückte sich und grub ihre Hand in die weiche Erde. Sie zerrieb sie zwischen ihren Fingern, schnupperte kurz daran und nickte dann anerkennend. »Es wirkt echt.«

»Es ist echt«, meinte Dorothea. »Das Biotop ist ein vollwertiger Ersatz für eine planetare Lebenssphäre.«

»Home, sweet home«, sinnierte Sentenza. Die Hohen Herren der Glaubensgemeinschaft hatten es sich gemütlich eingerichtet, während das gemeine Volk in den unteren Decks mit schlichten Unterkünften vorliebnehmen musste. Noch während er die Umgebung betrachtete, rief sich Roderick Sentenza den eigentlichen Grund ihres Hierseins ins Gedächtnis zurück.

 

»Und wo ist nun Superior Saladin?«

Dorothea würdigte ihn nicht eines Blicks, wandte sich stattdessen einfach um und schritt mit weit ausgreifenden Schritten durch das satte Grün der Waldlandschaft. Sie schien wütend zu sein, doch das interessierte Sentenza nicht im Mindesten.


Die Lage im Tempelraum spitzte sich zu. Nova hatte sich geweigert, mit Reno den Fluchtversuch zu unternehmen, und war in den Kreis der Betenden zurückgekehrt. Als Reno sie am Arm gepackt und gewaltsam zum Schrein gezerrt hatte, waren einige der Suchenden empört aufgesprungen und forderten ihn auf, das Mädchen in Ruhe zu lassen.

Reno ging nicht darauf ein. »Ihr könnt hier gerne krepieren, aber ich werde jetzt mit Nova gehen!«

Er blickte in die entschlossenen Gesichter der Sektenmitglieder. Sie machten nicht den Eindruck, als wollten sie den Konflikt friedlich beilegen. Reno seufzte und ließ Nova los. Die junge Frau fiel erschöpft zu Boden. Sie hatte einen Zustand erreicht, der ihr von selbst keine Rückkehr mehr in die Wirklichkeit erlaubte. Nova hatte sich in sich zurückgezogen und ließ niemanden mehr an sich heran. Ihr Blick wirkte glasig, die Bewegungen fahrig.

»Du kannst gehen«, sagte einer der Suchenden, der sich in den letzten Minuten als Wortführer hervorgetan hatte. »Wenn sich dieses Portal öffnet.« Der Mann deutete auf das Schott, das zum Gang hinausführte.

»Wenn sich dieses Tor öffnet«, sagte Reno langsam und so laut, dass es jeder der Gläubigen vernehmen konnte, »dann werden wir alle tot sein.«

»Wenn es denn unser Schicksal ist«, erwiderte der Mann vor ihm. Er schritt auf Reno zu, packte Novas Hand und zog sie zu sich heran. Willenlos ließ es die Suchende geschehen.

Reno blieb keine Zeit zum Überlegen. Die Luft im Tempelraum war kaum noch atembar. Einige der Suchenden waren bereits bewusstlos. Andere hatten sich wie ein Häufchen Elend in die Ecken verkrochen. Er selbst merkte, wie ihm der Schweiß bei jeder Anstrengung von der Stirn perlte. Hin und wieder tanzten feine Schleier vor seinen Augen und er hatte die Befürchtung, jeden Moment zusammenzubrechen. Ehe der Mann mit Nova außerhalb seiner Reichweite war, schnellte Renos Hand vor, packte ihn am Kragen seiner Robe und zerrte ihn herum. Der andere war überrascht ob des Widerstands, doch er fing sich schnell wieder und schlug zu. Mit der Bewegung hatte Reno nicht gerechnet. Die Faust traf ihn mit der Wucht eines Schmiedehammers oberhalb des Kinns. Er taumelte rückwärts, prallte mit dem Rücken gegen die Wand des Schreins und stolperte durch den verborgenen Zugang zum Wartungstunnel. Er hatte die Luke zuvor schon geöffnet, damit er jederzeit mit Nova fliehen konnte. Jetzt lag er auf dem Boden und glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Ein Raunen ging durch die Gläubigen, die die Szene mitverfolgt hatten.

Reno raffte sich auf. Zuerst wollte er durch das zugeschnappte Luk wieder in den Tempelraum zurückkriechen, doch als er das aufgeregte Geplapper der anderen hörte, hielt er inne. Er tastete sich an dem kleinen Durchgang vorbei nach vorn, dort, wo die Holoemitter untergebracht waren, die Asianos Abbild in den Schrein projizierten. Nur ein schwaches Leuchten wies ihm den Weg. Wie er erwartet hatte, gab es direkt hinter den Emittern eine Scheibe, durch die man ins Innere des Tempelraums schauen konnte. Sie war nur von einer Seite aus durchsichtig.

Die Gläubigen diskutierten im Flüsterton. Immer wieder sahen sie ängstlich zum Schrein hinüber. Vereinzelte Gesprächsfetzen drangen an Reno Ohr.

»… der Erlöser … ihn verschluckt …«

»… seine gerechte Strafe …«

Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Reno vielleicht lauthals losgelacht. Die Suchenden wussten nichts von dem Wartungsschacht und glaubten, ihr Erlöser hätte ihn wegen seiner blasphemischen Gedanken zu sich geholt.

Für einen Augenblick überlegte Reno, einfach wieder hinauszuspazieren und den anderen zu zeigen, dass nichts Mystisches an ihrem Erlöser war. Dass sie jederzeit den Tempelraum verlassen konnten, um ihr Leben zu retten. Bei näherem Überlegen nahm er jedoch wieder Abstand von dieser Idee. Selbst wenn sie wussten, dass der Wartungsschacht existierte, kämen sie nie auf die Idee, ihn zu benutzen. Genauso wenig, wie jemand das verfluchte Portal aufsprengte, um die Leute zu retten – dafür waren sie zu fanatisch.

Er musste einen anderen Weg finden, sie zu befreien. Rasch wandte er sich ab und tauchte in die Dunkelheit des Tunnels ein. Er bewegte sich an rauen Wänden entlang, stieß mehrmals gegen ein Hindernis, als der Gang abrupt nach rechts oder links abbog. Endlich zeichnete sich weiter vorn ein wenig Helligkeit ab. Nur ein feiner Fleck im schwarzen Meer der Dunkelheit, aber ein Hoffnungsschimmer, der ihm den Weg wies. Gleichzeitig spürte er einen schwachen Zug, der seine Wangen umschmeichelte. Er atmete tief durch und genoss die frische Luft, die fast schon wie eine Droge auf sein mit Sauerstoff unterversorgtes Hirn wirkte. Die plötzlich eingeatmete saubere Luft ließ ihn schwindeln. Er spürte einen Sog, der ihn unweigerlich in die Tiefe riss. Den Aufschlag bekam er schon nicht mehr mit.


Die Hütte des Superiors lag inmitten eines Hains verschiedener Bäume. Tannen waren vorherrschend, doch Thorpa entdeckte auch eine Anzahl unterschiedlicher Laubbäume. Der Pentakka malte sich gerade in seinen kühnsten Träumen aus, wie schön es wäre, wenn alle Raumschiffe mit solchen Biotopen für die Mannschaft ausgestattet wären. Es würde die Raumfahrt sicherlich interessanter und angenehmer machen, wenn man ein Stück Natur seiner Heimatwelt mit auf Reisen nahm.

Roderick Sentenza indes hatte keinen Blick für die Schönheit der Biosphäre. Zwar hatte er innerlich den Hut vor der Konstruktion gezogen, aber seine primäre Aufgabe lag in der Rettung der eingeschlossenen Suchenden. Er hatte nicht das geringste Gefühl, wie viel Zeit ihnen noch blieb, bis den Leuten die Luft ausging. Und sie hatten hier nichts Besseres zu tun, als von einem Priester zum nächsten zu rennen.

»Wir sind noch keinen Schritt weitergekommen«, fluchte Sentenza zähneknirschend.

»Wir sollten uns über das nächste Terminal in den Hauptcomputer hacken, herausfinden, wo die Eingeschlossenen stecken, und sie einfach da rausholen«, pflichtete Sonja ihm bei und legte zur Unterstreichung ihrer Worte die Hand auf den Laser an ihrer Hüfte.

»Wir dürfen nichts überstürzen«, räumte Dr. Jovian Anande ein. »Wir müssen die Sitten und Gebräuche der Leute hier respektieren.«

Sentenza machte ihm mit seinem Blick nur allzu deutlich, was er von der Verhandlungsmethode hielt. Wenn die Erleuchteten nicht kooperierten, würde er die Opfer gewaltsam befreien, so oder so. Er ließ sich zurückfallen, bis ihn etwa zehn Schritt von Dorothea, ihrer Akolythin und den beiden Wächtern trennten. Dann aktivierte er sein Kom und sendete eine verschlüsselte Nachricht an Trooid. Der Droid antwortete nur eine Sekunde darauf auf einer sicheren Frequenz.

»Trooid, versuchen Sie, mit den Sensoren der Ikarus herauszufinden, welche Sektionen der Zuflucht ohne Energie sind. Wenn Sie dort Lebenszeichen orten, informieren Sie mich sofort.«

»Gibt es Probleme?«, erkundigte sich Arthur Trooid.

»Möglich. Falls Sie Johannsson aufwecken können, dann fragen Sie ihn nach der betreffenden Sektion. Je eher wir wissen, wohin wir müssen, desto besser.«

»Aye, aye, Sir.«

Sentenza beeilte sich, die Gruppe einzuholen. Sie hatte mittlerweile die allein stehende Hütte erreicht. Zwei weitere Wächter waren davor postiert.

Das macht dann vier Bewaffnete, sinnierte Roderick. Nicht schlecht für eine kirchliche Organisation, die Gewaltlosigkeit predigt.

Dabei musste er an die Galaktische Kirche zu St. Salusa denken und seinen gemeinsamen Kampfeinsatz mit Raumprior Siridan Dante. Wenn es notwendig war, wussten auch die Raummissionare sich ihrer Haut zu wehren und militärische Operationen zu leiten. Falls es hart auf hart kam, würde sich die Ikarus-Crew vor den Wächtern in Acht nehmen müssen, auch wenn diese bisher nur mit Elektrospeeren bewaffnet waren.

Richterin Dorothea hatte sich angemeldet. Kurz darauf wurde die Tür der Hütte geöffnet und ein älterer Herr mit ergrautem, schütterem Haar stand auf der Schwelle.

Anande beugte sich zu Sentenza vor. »Sein linkes Auge ist blind.«

»Das können Sie von hier aus sehen?«, wunderte sich der Captain.

Ehe Anande etwas entgegnen konnte, drehte sich Dorothea zur Rettungsmannschaft um.

»Seine Eminenz, Superior Saladin«, stellte sie vor.

Der wohlbeleibte Mann trat aus dem Eingang ins Freie hinaus und näherte sich Sentenza und seinen Gefährten. Er hatte einen schweren Gang und seine fleischigen Hände zitterten leicht.

»Willkommen in der Zuflucht«, begrüßte er die Crew.

»Eminenz«, sagte Sentenza mit dem gebührenden Respekt, obwohl er sich selbst nie viel aus irgendeiner Kirche gemacht hatte. »Wir haben wenig Zeit und würden gerne die Unfallstelle besichtigen, damit wir die Opfer bergen können.«

Der Superior zog verwundert die Brauen hoch. Wenn er schauspielerte, dann verdammt gut. Er schien wirklich nicht zu wissen, wovon Sentenza sprach.

»Ich fürchte, ich bin nicht ganz im Bilde …«

Da platzte Sentenza der Kragen. »Jetzt hören Sie mal zu. Wir haben den Notruf eines Ihrer Schäfchen empfangen und es aus einer Rettungskapsel geborgen, die kurz darauf in einer infernalen Explosion verging und ein halbes Asteroidenfeld in die Luft jagte. Als wir die Zuflucht fanden, reagierte niemand auf unsere Anrufe. Im Gegenteil, man schickte uns eine Rettungskapsel, die ohne Zweifel mit demselben verheerenden Sprengsatz geladen war wie die von Gundolf Johannsson, und wollte uns rammen. Erst nachdem …«

»Gundolf?«, rief Saladin aus. »Wo ist er?«

Sentenza schnappte nach Luft. Er hasste es, unterbrochen zu werden. Mühsam unterdrückte er seinen Zorn und fuhr in etwas gemäßigterem Ton fort.

»Johannsson befindet sich an Bord unseres Schiffs in Ihrem Hangar. Er hat uns von dem Unfall an Bord der Zuflucht berichtet und davon, dass eine Handvoll Ihrer Jünger in einem Tempelraum eingeschlossen sind und nicht hinauskönnen, weil Ihre Statuten es verbieten, den Raum gewaltsam zu öffnen.«

»Das hat er Ihnen erzählt?«, fragte Saladin mit der gleichen Verwunderung zurück, die er schon zuvor an den Tag gelegt hatte.

Sentenza legte den Kopf schief. Verblüfft sah er zu Sonja, Anande, Weenderveen und Thorpa, doch seine Kameraden blickten nur ratlos drein.

»Nein, er hat uns gesagt, alles wäre in bester Ordnung und wir sollten mal auf einen Umtrunk mit Ihrem Erlöser vorbeischauen«, fauchte Sonja. »Natürlich hat er uns das gesagt. Also, wo ist dieser Tempelraum?«

Saladin lachte schallend los und klopfte sich auf die feisten Schenkel. Er schien echt amüsiert zu sein. Sentenza sah, dass weder Richterin Dorothea noch die Akolythin die Reaktion ihres Superiors zu deuten wussten. Ihre Blicke sprachen Bände.

»Mein lieber Captain Sentenza«, begann Saladin in belehrendem Ton, nachdem er sich wieder einigermaßen von seinem Lachanfall erholt hatte. »Gundolf Johannsson hat einen sehr labilen Kern. Sein Geist ist krank. Er war bereits des Öfteren in psychiatrischer Behandlung und wird auch hier an Bord von einem unserer Ärzte medizinisch und psychologisch betreut.«

»Soll das heißen, er hat sich das alles nur eingebildet?«, platzte Darius Weenderveen hervor.

Saladin lächelte wissend. »Nicht alles. Zugegeben, wir haben Probleme mit unserem Hyperantrieb. Er wird erst in zwei Tagen wieder einsatzbereit sein. So lange hängen wir in diesem System fest. Aber was auch immer Sie über einen Unfall im Zusammenhang mit eingeschlossenen Personen gehört haben mögen, ist pure Halluzination eines schwachen Geistes. Gundolf hat es mit der Panik zu tun bekommen und ist von hier geflohen. Aber glauben Sie mir, werter Captain, es gibt keine Menschen in Not an Bord unserer Zuflucht, nur einen defekten Antrieb, den wir mit eigenen Mitteln reparieren können.«

Roderick Sentenza starrte Saladin unverwandt an. Der Superior war aalglatt. Nicht eine Regung, die ihn der Lüge überführt hätte, war in seinen Augen oder seiner Mimik zu erkennen. Dennoch war Sentenza überzeugt, dass der andere versuchte, ihn gehörig auf den Arm zu nehmen.

 

Was glaubt er eigentlich, wen er hier vor sich hat?, dachte der Captain grimmig.

»Also benötigen Sie keine Hilfe?«, schloss Sentenza.

»Das ist richtig. Es tut mir leid, dass Sie den Wahnvorstellungen eines psychisch kranken Mannes aufgesessen sind, Captain.«

»Und die Fusionsbombe an Bord Ihrer Rettungskapseln?«, hakte Sonja nach. »Johannssons Fluchtkapsel detonierte, kurz nachdem wir ihn geborgen hatten. Wir hatten mehr Glück als Verstand, nicht von der Explosionswelle vernichtet zu werden.«

»Sie haben mir nicht zugehört, werte Frau«, sagte Saladin. Leichter Tadel schwang in seiner Stimme mit. »Der Suchende Gundolf hat in seinem verwirrten Zustand eine Rettungskapsel gekapert und die Bombe dort platziert, weil er verhindern wollte, dass wir ihn wieder zurückbringen. Wie gesagt, er ist von Sinnen und muss unverzüglich wieder in psychiatrische Behandlung. Sie sagten, Sie haben ihn geborgen … Wo befindet er sich jetzt?«

Sonja und Dr. Anande holten gleichzeitig zu Antworten aus, doch Sentenza gebot ihnen mit einem schnellen Wink zu schweigen.

»Eine Sache noch, Exzellenz«, sagte er und würgte Saladin das Wort ab, als dieser sich noch einmal nach Johannsson erkundigen wollte. »Warum haben Sie uns nicht geantwortet, als wir ins Albira-System eindrangen? Und warum haben Sie uns eine Fluchtkapsel entgegengeschickt, die offensichtlich über das gleiche Zerstörungspotenzial verfügt wie ebenjene, mit der Johannsson entkam?«

Saladin wurde bleich und zeigte mit dieser Regung das erste Mal, dass die Absichten der Erleuchteten nicht ganz so rein waren, wie sie vorgaben. Sie hätten sich mit allem herausreden können und Sentenza wäre sogar geneigt gewesen, ihnen Glauben zu schenken, wenn nicht der Angriff auf die Ikarus stattgefunden hätte.

Der Superior antwortete nicht. Hinter seiner Stirn arbeitete es fieberhaft.

Sentenza beobachtete den anderen genau. Wie würde er den Konflikt lösen? Fiel ihm eine Ausrede ein? Oder würde er gar hier und jetzt versuchen, sich der unliebsamen Zeugen zu entledigen, und ihnen die Wächter auf den Hals hetzen? Mit einem unruhigen Gefühl in der Magengegend tastete Roderick nach dem Laser an seiner Hüfte.

Schritte klangen hinter ihnen auf. Saladin war der Erste, der hochsah. Seine Gesichtszüge entspannten sich merklich und hellten sich auf. Das nahm Sentenza zum Anlass, sich ebenfalls umzudrehen und den Blaster stecken zu lassen.

Der Mann der sich ihnen in Begleitung vier weiterer Wächter (nun waren es schon acht!) näherte, war kein Unbekannter. Die Ikarus-Crew hatte sein Abbild bereits auf mehreren Hologrammen in den unteren Decks gesehen.

Asiano!

Der unumschränkte Herrscher über die Gemeinschaft der galaktischen Erlösung. Mit leichtem, fast schwebendem Gang schritt er über den Rasen. Hätte man nicht die leichten Bewegungen seiner Beine unter der weißen Robe gesehen, hätte man denken können, er gleite über das Gras.

Richterin Dorothea und ihre Akolythin gingen in die Knie und verneigten sich so tief, dass sie dabei fast den Boden küssten. Die Wachen der Richterin und Saladins nahmen eine starre Haltung an und präsentierten ihre Elektrospeere. Nur die Crew des Rettungskreuzers ließ sich von dem Auftritt des selbst ernannten Erlösers nicht beirren.

»Eure Heiligkeit«, brachte Saladin heiser hervor, schwieg jedoch sofort, als Asiano eine unscheinbare Handbewegung machte.

Der Führer der Sekte blieb vor Sentenza stehen und musterte die Mannschaft eingehend. Sein Blick weckte irgendetwas Vertrautes in Roderick und den anderen. Sie erkannten, dass Asiano keine Bedrohung für sie war, sondern einfach ein Mann, der …

Sentenza sog scharf die Luft ein. Das Charisma des Erlösers wirkte bereits auf ihn und die Crew. Zwar glaubte er nicht, dass Asiano einen hypnotischen Einfluss auf sie hatte, doch seine bloße Gegenwart nahm die anderen voll und ganz in seine Präsenz auf. Wenn man es zuließ, dachte der Captain.

»Mein lieber Captain Sentenza«, sagte Asiano, immer noch das freundliche Lächeln zur Schau tragend. Ob es vielleicht sogar aufrichtig gemeint war, wusste Roderick nicht zu beurteilen.

»Ihr Priester dort …«, begann Sentenza dann.

»Superior!«, schnappte Dorothea mit hochrotem Kopf, als ob sie die Ungeheuerlichkeit, die der Captain von sich gegeben hatte, gar nicht fassen konnte.

»… hat versucht, uns zu erklären, dass Gundolf Johannsson in seinem Wahn von hier floh und uns ein Lügenmärchen über eine Krise an Bord der Zuflucht auftischte. Ich bin geneigt, Superior Saladin zu glauben, aber es gibt noch eine Ungereimtheit, die mit dem Angriff der Rettungskapsel auf unser Schiff zusammenhängt. Haben Sie eine Erklärung, warum man ein Fluchtboot mit einer Bombe an Bord auf Kollisionskurs mit einem Rettungskreuzer des Freien Raumcorps schickte?«

Das Lächeln Asianos wurde breiter. Seiner Mimik war nicht anzusehen, ob er etwas verbergen wollte oder die nachfolgende Antwort tatsächlich der Wahrheit entsprach.

»Gundolf Johannsson hatte zwei Fluchtkapseln mit Sprengsätzen präpariert. Wir entdeckten den zweiten leider genau in dem Moment, als Ihr Schiff hier eintraf, und haben ihn abgeworfen, Captain.«

Sentenza und Sonja tauschten einen flüchtigen Blick. Beide waren nicht von den Worten des selbst ernannten Erlösers überzeugt, aber sie hatten keine Gegenargumente oder Beweise, dass Johannsson nicht gelogen hatte. Und wie Thorpa schon so treffend formuliert hatte: Diese Leute wollten ihre Hilfe nicht!

»Na schön«, brummte Sentenza schließlich. »So, wie die Dinge liegen, haben wir hier nichts mehr verloren.«

»Was?«, fuhr Sonja auf. Weenderveen und Anande starrten den Captain entgeistert an, nur Thorpa schien sich mehr für die künstliche Umwelt der Biosphäre zu interessieren.

»Ich würde Ihnen gerne meine Gastfreundschaft gewähren«, sagte Asiano, »doch ich habe mich noch um einige Dinge zu kümmern, die jetzt angefallen sind, da unser Terminplan durch das Versagen unseres Antriebs ein wenig durcheinandergeraten ist.«

»Ja … sicher«, gab Sentenza zurück. »Tut uns leid wegen der Umstände, die wir Ihnen bereitet haben.«

»Keine Ursache, Captain. Beehren Sie uns bald wieder. Vielleicht ergibt sich ja noch ein fruchtbares Gespräch über die Glaubensgrundsätze unserer Gemeinschaft.«

Mit Sicherheit nicht, dachte Sentenza und machte auf dem Absatz kehrt. Sonja und die anderen drei folgten ihm auf den Fuß und Richterin Dorothea beeilte sich, zusammen mit den Wächtern die Crew einzuholen.

Sentenza dachte nicht daran, auf sie zu warten. Thorpa, der sich den Weg eingeprägt hatte, führte sie zurück zum großen Himmelsturm, in dem der Lift untergebracht war. Ihre Rechnung, die anderen abzuhängen, ging jedoch nicht auf. Gerade als sich die Türen des Aufzugs öffneten, erreichten auch Dorothea und die Wachen die Kabine und traten ein. Nur die Akolythin hing schwer atmend hinterher. Sonja drückte eine Taste, worauf sich die Türen unter Protest der Richterin schlossen.

»Was soll das?«, fuhr sie auf, zuckte dann zusammen, als habe sie sich selbst bei etwas Verbotenem erwischt, und schaute bedrückt zu Boden.

»Wir haben nicht den ganzen Tag«, murrte DiMersi und strafte die Klerikerin mit einem Blick, der sie wohl bis in ihre Albträume verfolgen sollte.

Auf dem Rückweg mussten sie die gleiche Prozedur durchlaufen wie anfangs. Es gab offenbar tatsächlich keinen öffentlichen Lift, der alle Decks miteinander verband. Sentenza und seine Crew beeilten sich, zum Hangar zu kommen. Die Richterin und die beiden Guardians hatten alle Mühe, Schritt zu halten.

Als sie sich im mittleren Ring befanden, schaltete sich Roderick Sentenzas Kommunikator ein. Es war Trooid.

»Was gibt’s?«, fragte der Captain mit gedämpfter Stimme und beschleunigte seinen Gang, damit Dorothea nicht unnötig Gesprächsfetzen mitbekam.

»Sir, ich habe eine Peilung von Lebenszeichen in einem energielosen Bereich der Zuflucht geortet.«