Rettungskreuzer Ikarus 11 - 20: Verschollen im Nexoversum (und 9 weitere Romane)

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»Augen zu!«, warnte er Shilla.

Ein Lichtblitz, der so grell war, dass er sogar durch die geschlossenen Lider schmerzte, gleißte durch das Treppenhaus. Gleichzeitig trat das Betäubungsgas aus.

Der Vormarsch der Truppe stockte. Jason und Shilla hörten das Husten und Stöhnen der Wesen, die von dieser Aktion überrascht wurden.

»Zwei scheinen resistent gegen das Mittel«, signalisierte Shilla.

Jason schaltete seine Waffe auf Betäubung und winkte der Vizianerin, sich hinter ihm zu halten, während er langsam die Stufen hinabschlich. Einige reglose Körper lagen verstreut auf der Treppe. Eine Gestalt kniete zwischen ihnen, die andere stand leicht gebeugt; beide waren offenbar geblendet von dem Blitz. Bevor sie etwas unternehmen konnten, wurden sie von dem Stunn-Strahl erfasst und brachen neben ihren Kameraden zusammen.

Vorsichtig stiegen Jason und Shilla über die Bewusstlosen hinweg. Die Nasenfilter benötigten sie nicht länger und warfen sie fort.

Gewiss wurden die Aufzüge bewacht. Den Gedanken, sich irgendwo im Hotel ein Versteck zu suchen, verwarf er sogleich. Verlor man ihre Spur, würde Verstärkung anrücken und alle Etagen systematisch durchkämmen, bis man die Gesuchten aufgestöbert hatte. Wenn sie nicht bald einen Weg nach draußen fanden, saßen sie fest wie in einer Mausefalle.

»Unten in der Empfangshalle befinden sich weitere fünfzehn Mann«, stellte Shilla fest. »Eine größere Gruppe hat das Hotel umstellt. Man weiß inzwischen, dass wir die Leute im Treppenhaus ausgeschaltet haben, und sendet uns eine neue Truppe entgegen.«

»Sollen sie ruhig kommen …«

Jason schob Shilla in den Flur, der wesentlich schlichter ausgestattet war als jener, der zu ihren Räumen führte. Überdies verfügte der Boden über eine sanft gerundete Mulde, die von einem durchsichtigen Gelee ausgekleidet war, dessen rutschige Konsistenz ihn beinahe hätte das Gleichgewicht verlieren lassen. Allem Anschein nach war dieses Stockwerk für Gäste vorgesehen, die sich gleitend voranbewegten. Wie würden diese wohl im Notfall die hohen Stufen bewältigen?

Vor einer Aufzugtür blieb Jason stehen.

»Das bringt nichts«, erinnerte ihn die Vizianerin. »Ich sagte doch …«

Sie schwieg, als er das Schott von oben bis unten maß, seine Finger an der Öffnung ansetzte und unter Einsatz seiner ganzen Kraft begann, die Tür aufzudrücken.

»Ich brauche etwas, um das Schott zu blockieren«, keuchte er. »Irgendetwas … eine Stange … oder …«

Shillas Augen wanderten durch den Korridor und blieben an einer Skulptur, die eine Nische zierte, haften. Das Ding war schwer, aber es gelang Shilla, das steinerne Kunstwerk zum Lift zu schleifen und es in der Öffnung zu verkeilen.

Mit dem Handrücken wischte sich Jason den Schweiß von der Stirn. Er spähte in den Schacht. Mehrere Stockwerke über ihm hing die Kabine. Zu seinen Füßen gähnte Dunkelheit. Er fischte eine handliche Stablampe hervor und löste die Schnur aus dem Endstück, sodass er sich die Leuchte um den Hals hängen konnte.

»Wir klettern am Zugseil hinab«, erklärte er. »Schaffst du das?«

Shilla nickte. »Aber was ist, wenn der Lift nach unten fährt, während wir uns im Schacht befinden?«

»Dann sind wir Mus …«

»Und wenn sie uns in den Schacht folgen?«

»Sie können nicht wissen, wo wir ihn verlassen, und werden den bequemeren Weg wählen, um die Etagen zu durchsuchen.«

Er schwang sich hinüber und begann, sich an der dicken Trosse hinunterzuhangeln. Shilla folgte ihm.

Ein gutes Stück hatten sie zurückgelegt, als ein knarrendes Geräusch ertönte. Das Seil, an dem sie hingen, bewegte sich. Sie starrten beide erschrocken nach oben. Weit über ihnen schaukelte die Kabine, die sich mit einem neuerlichen Geräusch tiefer senkte. Gleichzeitig sauste auch die Trosse, an die sie sich klammerten, hinab.

Ein plötzlicher Ruck ließ Jasons und Shillas Gelenke knacken.

Eine Etage nur. Der Lift hatte angehalten. Glück gehabt.

»Hat das Gebäude ein Untergeschoss?«, fragte Jason.

Shilla schwieg, während sie die Gedanken in ihrer Umgebung sondierte. Schließlich antwortete sie: »Es gibt ein Vorratslager, eine Küche und eine Wäscherei. Die Einrichtungen sind auf zwei Kelleretagen verteilt. Warum?«

»Die Sicherheitstruppen arbeiten zu unerfahren und unkoordiniert. Ich bin überzeugt, sie haben nicht alle Eventualitäten berücksichtigt. Man wird kaum erwarten, dass wir uns ohne Kenntnis der Lokalität ausgerechnet in den Keller zurückziehen. Das könnte unsere Chance sein. Bestimmt gibt es dort einen Eingang für Lieferanten. Und ein Eingang ist zugleich ein Ausgang …«

»Hast du die Posten vergessen, die draußen Wache halten? Sobald wir uns auf dem Gelände blicken lassen, wird man Alarm schlagen.«

»Mir wird schon etwas einfallen …«

Jason hatte keine Ahnung, wie viele Etagen sie hinter sich ließen. Seine Arme und Beine bewegten sich bereits mechanisch und fühlten sich wie Gummi an, als Shilla endlich verkündete, dass sie die Ebene des Empfangs erreicht hatten. Der Lift hatte sich noch zweimal bewegt.

»Wie schaut es unten aus?«, erkundigte sich Jason.

»Ausschließlich Personal, soweit ich feststellen kann. Um diese Uhrzeit ist bloß eine kleine Mannschaft da. Ich schätze, von ihnen haben wir nichts zu befürchten.«

»Gut.« Jason nickte zufrieden. Er zog den Kommunikator aus der Hemdtasche und streifte die Kette über den Kopf. Der Würfel klickte leise, als er gegen die Lampe schlug. »Die Edle Bevollmächtigte wird die Küche inspizieren und ihr Herrlicher Lakai die Fragen stellen. Du kontrollierst die Gedanken des Personals.« Etwas besorgt fügte er hinzu: »Geht es noch?«

»Ja.« Es klang erschöpft, doch ließ sich die Vizianerin nicht anmerken, wie sehr es sie auslaugte, die unbekannten Gedankenmuster zu analysieren.

Er sandte ihr gedanklich ein aufmunterndes Lächeln.


Taisho wimmerte leise, als ihn ein Soldat in der oliv-braunen Uniform der Sicherheit mit dem Abzeichen des untersten Ranges grob an den Schultern packte und auf die Beine zerrte.

»Was ist passiert? Na los, sag schon! Wo sind die beiden Subjekte? Wo sind sie hin?«, herrschte der dreibeinige Ptorianer den Kammerdiener an und schüttelte ihn.

»Der Herrliche Lakai hat mich geschlagen …«, jammerte dieser nur in wehleidigem Tonfall und presste eine Träne zwischen erstaunlich langwimprigen Lidern hervor.

Verächtlich blickte der Soldat auf den Bediensteten herab, den er um mehr als zwei Köpfe überragte. Der Kommunikator gab ein leises Knurren wieder. Dann ließ der kräftige Mann Taisho los und schaute mit boshaft funkelnden Augen zu, wie dieser erneut zu Boden sank. Diese Humanoiden waren bis auf wenige Ausnahmen verweichlichtes Gesocks und ein Schandfleck des Nexoversums. Sollte sich der Nexus eines schönen Tages zu einer Säuberungsaktion entschließen, würden die glorreichen Ptorianer hoffentlich mit dieser Aufgabe betraut werden und alle minderwertigen Rassen in die Roten Hallen führen dürfen.

Nur für Taishos Ohren hörbar murmelte er: »Abartige Kreaturen wie du sollten gleich nach der Geburt enthirnt werden.«

Mit hüpfenden Schritten drehte sich der Soldat um und wischte sich seine haarigen Hände an der Uniform ab, als müsse er sich von der Berührung säubern.

»Die Räume sind leer, Sir«, erstattete er seinem Anführer Bericht. »Die Subjekte haben nichts zurückgelassen. Das Einzige, was wir finden konnten, ist dieser Chikuso. Man hat ihn niedergeschlagen. Er verfügt über keine nützlichen Informationen.«

Der höhere Dienstgrad nickte knapp, ebenfalls mit angewiderter Miene. »Es ist unwahrscheinlich, dass die Subjekte zurückkehren. Wir schließen zu den anderen auf.«

»Was soll mit dem Chikuso passieren?«

»Lassen Sie ihn liegen, Soldat. Wichtig sind allein die Subjekte. Wenn wir sie fassen, wird man uns zweifellos mit mindestens einem weiteren Jahr belohnen. Heil dem Nexus!«

Der Ptorianer gab einen zustimmenden Laut von sich und wiederholte die Formel.

Ihm lag sehr viel daran, die Aufgabe erfolgreich abzuschließen, denn er war bereits einundvierzig Jahre alt und hatte nur noch zwei zusätzliche Jahre gut bis zum Tag seiner Enthirnung. Wenn er dem Nexus weiterhin treue Dienste leistete, dann konnte er vielleicht sehr alt werden oder gar – welch erbauliche Hoffnung – eines natürlichen Todes statt in den Roten Hallen sterben.

Er und seine Kameraden folgten dem Anführer.

Taisho gab ein leises Schluchzen von sich und wischte mit dem Handrücken einen dünnen Blutfaden fort, der von seinem Mundwinkel aus über das Kinn rann.

Der Flur war leer. Das Geräusch der sich entfernenden Stiefel erstarb. Niemand kam zurück.

Geschmeidig erhob sich der Kammerdiener und ließ das bunte Gewand achtlos von seinen Schultern gleiten. Unter dem zeremoniellen Kostüm trug er einen locker sitzenden, grauen Anzug. Seine dunklen Augen waren plötzlich hart, die weichen Züge aus seinem schmalen Gesicht verschwunden.

Er schlich zurück in das Gemach des Herrlichen Lakaien und weiter in dessen Hygienezelle. Kopfschüttelnd klappte er den Deckel der Toilette zu. So ein Chikuso! Wieso hatte er die Warnung ignoriert? Es fehlte gerade noch, dass ihm ein Bashiri Ärger bereitete …

Mit dem Fuß angelte er einen Schemel herbei und stieg hinauf. Dann schraubte er flink das Lüftungsgitter ab, das sich unter der Decke befand. Der Schacht dahinter war kaum breiter als Taishos Schultern. Mit den Füßen voran schwang er sich hinein, drehte sich auf den Bauch und fixierte das Metallteil hinter sich.

 

Es war weniger schwierig gewesen, als Jason befürchtet hatte. Einige aufgeschreckte Köche und Reinigungshilfen hatten gezetert, als zwei Unbefugte in ihr Allerheiligstes eindrangen, das für Gäste tabu war, doch hatte sich das Geschrei sogleich in untertänigste Höflichkeit verwandelt, nachdem die Edle Bevollmächtigte erkannt worden war. Offenbar galten die Angeli und ihre Lakaien als recht exzentrisch, sodass man auch ihre sonderbarsten Befehle und Wünsche nie infrage zu stellen wagte.

Was die Leute über ihn und Shilla denken mochten, war Jason herzlich egal, doch entging ihm nicht, dass sie mit fast glasigen Augen die ehrwürdige Bevollmächtigte anstarrten und voller Entzücken den Anweisungen gehorchten. Es war fast, als wären sie umso empfänglicher für Shillas Pheromone, je geringer ihr Status in der Hierarchie war. Die Crew der Sentok und das Empfangskomitee hatten zwar auch gesabbert, aber nicht in diesem Ausmaß.

Einer der Köche führte die beiden zu einer Rampe. Von einem größeren Fahrzeug wurden gerade verschiedene Güter abgeladen.

Jason scheuchte ihren Begleiter zurück an seine Arbeit. Dann kauerten er und Shilla hinter einer Palette Kisten nieder und beobachteten, wie die Fracht mit primitiven Gabelstaplern ins Lager transportiert wurde. Nachdem die Ladefläche leer war, wurden andere Güter auf dieser verstaut. Schließlich verriegelte der Fahrer den Wagen, rief den Lagerarbeitern einen Gruß zu und stieg ein. Die anderen wandten sich ihren Aufgaben zu und verschwanden zwischen den meterhohen Regalen.

Jason nickte Shilla zu.

Wie Schatten huschten sie zum Fahrzeug hinüber, das mit einem lauten Rattern startete. Jason öffnete den Verschlag der Pritsche, half Shilla hinein und sprang hinterher. Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung und verließ die Haltezone. Er passierte einen hereinkommenden Lieferanten, dann war er auf der Straße.

»Hat der Fahrer etwas bemerkt?«, fragte Jason atemlos.

»Er hat vergessen, dass die Kontrollleuchte ein Öffnen der Hecktür anzeigte«, beruhigte ihn Shilla. »Aber überall stehen Soldaten. Das Gelände um das Hotel wimmelt von ihnen. Sie glauben, dass wir uns immer noch im Gebäude versteckt halten und womöglich Geiseln nehmen wollen.«

»Wohin fährt der Wagen?«

»Zu einem Depot. Dort liefert der Fahrer die Kisten mit Recyclingprodukten und schmutziger Wäsche sowie den Wagen ab. Er freut sich auf das Ende seiner Schicht. Die aufmarschierten Soldaten interessieren ihn nicht. Er meint, dass sie immer irgendwen suchen und er nichts zu befürchten hat, da er sich nichts zuschulden kommen ließ.«

Das Fahrzeug stoppte plötzlich.

»Was ist los?« Jason zog seine Waffe und zielte auf die Klappe. Würde jemand sie öffnen …

»Einer von der Sicherheit hat den Wagen angehalten«, murmelte Shilla und furchte die Stirn. »Der Soldat will wissen, ob der Fahrer etwas Verdächtiges gesehen hat. Dieser verneint und …«, bange Sekunden verstrichen, »darf weiterfahren.«

Erleichtert ließ sich Jason gegen eine Kiste sinken, den Griff um den Strahler lockernd. Er zwirbelte seinen Kinnbart. »Ich fürchtete schon, das wäre es gewesen … Kannst du herauskriegen, wo das Depot ist? Es befindet sich nicht zufällig in der Nähe des Landeplatzes?«

»Wahrscheinlich nicht. Das Bild, das ich den Gedanken des Fahrers entnehmen kann, zeigt keinen Raumhafen oder einige der in der Nähe befindlichen Gebäude. Wir müssen damit rechnen, dass wir uns von der Celestine entfernen und es schwierig wird, unbemerkt zu ihr zurückzufinden, ganz zu schweigen davon, an Bord zu gelangen. Bestimmt ist das Schiff umstellt und die Reparaturarbeiten sind abgebrochen worden. Es würde mich nicht wundern, wenn sie bereits dabei sind, alles auseinanderzunehmen, um unsere Identität zu erfahren.«

Jason seufzte. »In dem Fall werden sie eine unangenehme Überraschung erleben.«

»Du hast doch nicht etwa die Selbstvernichtung aktiviert?«, fragte Shilla mit aufgerissenen Augen.

»Nur den Verteidigungsmodus. Wenn die Sensoren Waffen registrieren oder jemand versucht, die Kontrollen zu manipulieren, werden die Luken geschlossen und der Schutzschirm aktiviert. Alle an Bord befindlichen Personen werden durch Gas betäubt. Sie können natürlich die Celestine durch massiven Beschuss vernichten, doch ich glaube nicht, dass sie so weit gehen werden, da sie viel zu neugierig auf uns sind und aus einigen Klumpen Schlacke keine Antworten herausholen können.«

Shilla seufzte. »Was unternehmen wir als Nächstes?«

»Wir ruhen uns aus«, erklärte Jason. »Je weiter wir vom Hotel wegkommen, umso besser. Bevor wir das Depot erreichen, steigen wir aus und versuchen, uns irgendwie zum Raumhafen durchzuschlagen. Alles Weitere hängt davon ab, wie es um unser Schiff bestellt ist. Warum schläfst du nicht ein wenig? Du musst erschöpft sein nach unserer Flucht und dem fortwährenden Gebrauch deiner Gabe.«

Shilla schenkte ihm ein sanftes Lächeln und bettete ganz selbstverständlich ihren Kopf auf seine Schulter.

Wie von allein fand Jasons Arm den Weg um ihre Taille. Die Erinnerung an ihren Kuss blitzte auf, doch sicherheitshalber dachte er an … nichts. Das war wieder die alte Shilla, ungezwungen, aber distanziert, als hätte es die leidenschaftliche Umarmung gar nicht gegeben. Seltsam …

Er gestand sich ein, dass er nicht wusste, welche Shilla ihm lieber war: die vertraute, kühle, aber zuverlässige Kameradin oder ihr geheimnisvolles, leidenschaftliches Alter Ego …

Verdammt, was war nur los mit ihr?


»Eine neue Nachricht von Crii-Logan ist soeben eingetroffen, Sir«, meldete Sessha. »Wir haben sie bereits entschlüsselt.«

Charkh entfaltete seine Beine und bedachte das Hashura-Weibchen mit einem Blick aus vier seiner aufmerksamen, schwarzen Augen. »Ich höre.«

»Ein Teil der Fracht befindet sich bereits an Bord seines Bootes. Er wartet nun auf die noch ausstehenden Gehirne. Crii-Logan schätzt, dass er spätestens in zwölf Stunden starten wird. So weit der offizielle Teil. Ferner lässt er uns wissen, dass das Schiff der Fremden repariert wurde. Kurz nachdem sich die Techniker zurückgezogen hatten, tauchten Soldaten auf und umstellten den Raumer, der daraufhin selbstständig alle Schotten schloss und einen Schutzschirm aufbaute. Bislang haben die Sicherheitskräfte noch nicht auf diese Maßnahme reagiert.«

Für einen Moment schwieg Charkh und rieb seine pelzigen Beine aneinander, das einzige Zeichen für seine wachsende Unruhe. Dann murmelte er: »Unsere Vermutung war also zutreffend. Die Fremden sind keine Gesandten des Nexus, sondern …«

»Sondern?«

»Unser Mann wird es herausfinden.«

»Bestimmt.« Sesshas Lippen umspielte kurz ein versonnenes Lächeln, und ihre Stimme wurde eine Nuance weicher. »Er ist gut.«

»Ja.«

Sie zog beide Augenbrauen hoch. Wie meinte Charkh das? In seiner Antwort schien ein ironischer Unterton zu schwingen. Wusste er etwa …? Eine zarte Röte überflog ihre Wangen.

»Ob die beiden zu einer anderen Gruppe gehören?«, fuhr sie hastig fort, um ihre Verlegenheit zu verbergen. »Erstaunlich, es hat nie eine abtrünnige Angeli gegeben, in all den Jahrhunderten nicht, nicht wahr?«

Charkh ließ sich diesmal Zeit mit einer Antwort. »Ich habe das Gefühl, die Lösung ist nicht so einfach, Nummer zwei. Gibt es auch Nachrichten von unserem Agenten?«

»Negativ, Sir.«

Plötzlich reagierten die Ortungsgeräte.

»Ein Schiff nähert sich mit großer Geschwindigkeit, Sir«, meldete ein Ptorianer. »Sein Ziel ist Reputus. Es wird gleich auf dem Panoramaschirm erscheinen.«

Charkh und Sessha wandten sich beide dem großen Monitor zu, der das Halbrund der Zentrale ausfüllte. Eigentlich war das nichts Ungewöhnliches, aber dass es gerade jetzt eintraf und schnell flog …

Zunächst war nur ein silbriger Strich zu sehen, der rasch größer wurde. Schon bald bestand kein Zweifel mehr an dem Typus. Die schlanke, elegante Form, die rachenartige Kluft am Bug, die an ein aufgerissenes Maul erinnerte, war eindeutig.

Alle Augen Charkhs richteten sich auf das Schiff. Das war eine Überraschung! Obwohl er mit etwas Derartigem tief in seinem Innern gerechnet hatte …

»Ein Schiff des Nexus«, flüsterte Sessha. »Hier sind sie doch noch nie gewesen …«

»Einen deutlicheren Beweis«, erwiderte der Arachnoid, »dass die Fremden nicht für sie arbeiten, kann es nicht geben. Sie müssen eine Gefahr darstellen, sonst würde der Nexus keines seiner Schiffe senden. Wer mögen sie sein?«


Eine knappe Stunde Pause war Jason und Shilla vergönnt. Der Wagen schaukelte durch das Labyrinth der Straßen und Jason konnte nach all den Abbiegungen beim besten Willen nicht sagen, in welcher Richtung sich das Hotel oder der Raumhafen befanden.

Er weckte Shilla aus ihrem tiefen Schlaf. Das Rütteln und Schütteln des unbequemen Fahrzeugs hatte sie nicht im Geringsten gestört, so müde war sie gewesen nach den Anstrengungen der letzten Stunden.

Jason hingegen hatte keine Ruhe gefunden. Nach einer Weile war er von der Langeweile übermannt worden, sodass er nachgeschaut hatte, was die Kisten enthielten. Gemäß der Angaben der Vizianerin befanden sich in diesen Abfälle des Hotels und ausrangierte Wäscheteile, die dem Recycling zugeführt wurden.

»Der Fahrer dürfte bald sein Ziel erreicht haben«, vermutete Jason. »Die Geräusche des Verkehrs sind leiser geworden, als würden wir uns auf einem weniger befahrenen Seitenweg befinden. Wir sollten die nächste günstige Gelegenheit nutzen, um abzuspringen. Bis du fit genug, um …?«

»… um die Umgebung zu sondieren?« Shilla schloss die Augen, wieder an Jason lehnend.

Er fand, dass sie sich wunderbar warm und weich anfühlte.

Sein Problem, das mehr psychischer als physischer Natur gewesen war, gehörte endlich der Vergangenheit an. Einfach klasse, diese Pheromone …! Wieder zu Hause würde er die Parfumserie, die er hatte patentieren lassen, um eine Spezialcreme für Senioren und Männer mit Potenzstörungen erweitern und stinkreich werden. Mit Shilla würde er sich auf einen netten Planeten zurückziehen und richtig Urlaub machen. Und dann … Eine Welle der Begeisterung durchflutete ihn … und ein bekannter Hunger. Zu dumm, dass die Soldaten ausgerechnet auftauchen mussten, als ….

»Wir haben das Depot gleich erreicht. Noch zwei Straßen … Der Morgen bricht an … Es sind wenige Passanten unterwegs … Sag mal, hast du immer nur Unsinn im Kopf?«

Der Wagen fuhr um eine Ecke.

Shillas Augen öffneten sich wieder. Mit hochrotem Gesicht erlaubte ihr Jason, sich seinen Armen zu entwinden. Sie robbten beide zur Klappe.

»Jetzt!«, forderte sie ihn auf.

Jason klemmte sich ein Bündel unter den Arm, dessen Anblick Shilla veranlasste, eine Braue hochzuziehen. Geschickt entriegelte er die Tür und blickte durch den Spalt hinaus. Es waren weder andere Fahrzeuge, noch Fußgänger in Sicht.

Er glitt aus dem langsamer werdenden Wagen und landete sicher auf Händen und Füßen. Shilla folgte ihm mit einem eleganten Satz. Später würde sich der Fahrer wundern, weshalb er die Kontrolllampe nicht bemerkt hatte, die ihm die offene Tür signalisierte, doch Hauptsache, er hatte nichts von seiner Ladung verloren.

Zusammen mit Shilla tauchte Jason in den Schatten der Häuserzeile.

»Was hast du mitgenommen?«, fragte die Vizianerin und deutete auf das Päckchen, das er in der Hand hielt.

»Ein Laken.«

»Wozu?«

»Du bist nun mal viel zu auffällig. Ein jeder, der dich sieht, erkennt dich doch sogleich als Bevollmächtigte. Die Aufmerksamkeit, die du erregst, würde die Soldaten sofort zu uns führen. Und das Laken gibt eigentlich einen ganz passablen Umhang ab.«

Shillas Nase kräuselte sich, als er ihr das große Tuch über den Kopf und um die Schultern legte. »Konntest du denn nicht wenigstens einen Fetzen wählen, der ein wenig besser riecht? Hätte ich den Nasenfilter nur nicht weggeschmissen!«

»Das war noch der Harmloseste«, entgegnete er, ohne sich ein Grinsen ganz verkneifen zu können. »Aber sieh es positiv: Somit sind deine duftenden Pheromone auch getarnt …«

 

Aus einer seiner vielen Taschen zog er eine Steckgranate, von der er die Klemme abtrennte und als Fibel benutzte, um den provisorischen Umhang unter Shillas Kinn zu verschließen. Die Kapuze hing ihr tief ins Gesicht.

»Das sollte genügen, wenn niemand zu dicht an dich herantritt«, erklärte Jason, während er zufrieden sein Werk begutachtete.

Sie mischten sich unter die Passanten, die zu ihren Arbeitsplätzen eilten oder von ihrer Schicht nach Hause schlenderten. Niemand nahm Notiz von ihnen. Es gab keine Arbeitskleidung und keine ersichtlichen Modetrends in dem Völkergemisch, das mit fortschreitender Stunde immer dichter durch die Straßen hastete. In der Folge verschmolzen sie mit der Menge und ließen sich von dieser treiben.

Jasons Hand ruhte auf Shillas Schulter, während die Vizianerin ihre telepathischen Fühler ausstreckte.

»Glück gehabt«, flüsterte sie. »Crii-Logan weilt noch auf Reputus. Ich kann zwar nicht seine Gedanken lesen, aber sein bekanntes Muster ausmachen. Solange er hier ist, brauche ich mich nur auf ihn zu konzentrieren, um die Richtung zu bestimmen.«


Jason hatte keine Ahnung, wie weit sie noch vom Raumhafen entfernt waren. In seiner Fantasie verglich er Shilla mit einem Stück Eisen – aber einem hübschen, anschmiegsamen Eisenstück –, das zielstrebig den unsichtbaren Feldlinien zu ihrem Magneten folgte. Auf ihre Umgebung achtete sie weniger als auf den Erhalt des dünnen Kontakts zu Crii-Logan.

Mit einem Mal bemerkte Jason ein Stocken im gleichmäßigen Strom der Leute ein kleines Stück vor ihnen. Für einen Augenblick glaubte er, oliv-braune Uniformen zu erkennen. Er griff nach Shillas Arm und zog sie in eine Seitengasse, riss sie dadurch aus ihrer Konzentration. Fragend blickte sie ihn an.

»Dort drüben scheint etwas los zu sein. Ich habe Soldaten gesehen. Suchen sie uns?«

Nach einer kleinen Pause erklärte Shilla: »Ja. Man weiß von den Köchen, dass wir das Hotel verlassen haben, und durchkämmt jetzt die Stadt. Jeder Soldat hat eine genaue Beschreibung von uns erhalten. Verdächtige Personen werden genau kontrolliert. Zweifellos werden sie deinen Bart erkennen und unter meine Kapuze schauen wollen. Wir sollten eine Begegnung mit der Truppe vermeiden.«

»Dann gehen wir hier weiter«, schlug Jason vor.

Sie konnten drei weitere Gruppen vermeiden, doch von der vierten wurden sie entdeckt.

»Stehen bleiben!«, hörten sie den gebellten Befehl und begannen zu laufen.

Die Personen auf der Straße wichen ihnen aus und beobachteten teils neugierig, teils gleichgültig, wie die beiden rannten, sechs Soldaten auf ihren Fersen.

»Sie haben über Funk ihre Kameraden gerufen und hoffen, dass diese uns den Weg abschneiden«, informierte Shilla.

»Hier hinein.« Jason stieß eine Tür auf, hinter der sich ein Lebensmittelladen befand.

Wild blickte er nach rechts und nach links. »Wo sind die Torten?«

»Was?«

»Hm … vergiss es. Das sollte ein Witz sein. Wenn wir wieder in der Celestine sind, erinnere mich daran, dass wir uns einen gemütlichen Abend mit alten Filmen machen …«

Shillas Schweigen machte deutlich, dass sie kein Wort verstanden hatte und allmählich an seinem Verstand zu zweifeln begann.

Einige Kunden blickten auf, als die Flüchtlinge an ihnen vorbeijagten. Die Soldaten trennten sich, waren aber zu wenige, um alle Gänge zwischen den Regalen kontrollieren zu können. Unterstützung seitens der Bevölkerung erhielten die Verfolger nicht. Die Leute zogen es vor, schweigend zuzuschauen und für niemanden Partei zu ergreifen. Offenbar genoss die Sicherheit keinerlei Sympathien, begriff Jason, aber genauso wenig wollte sich jemand mit ihren Repräsentanten anlegen, indem er Flüchtlingen half.

Etwas schob sich in Jasons Weg und er konnte nicht mehr ausweichen. Sein eigener Schwung ließ ihn zurückprallen und stürzen, wobei er Shilla mit sich riss. Dabei krachten sie in eine Dosenpyramide, die unter Getöse zusammenstürzte.

Ein massiges Wesen, dessen Körperpanzer die Struktur einer Backsteinwand aufwies, ragte drohend über ihnen auf. Es öffnete eine Tüte mit grünen Perlen, schüttete sich den Inhalt in den Rachen, wobei einige Kugeln klickend über den Boden sprangen. Unter Grollen griff es mit stahlharter Faust nach Jason.

Anscheinend gab es doch Ausnahmen, die mit den Soldaten kollaborierten …

Jason kickte die Klaue zur Seite, rollte aus der Reichweite des langen Arms und kam auf die Knie, die Waffe wie durch Zauberei in seiner Rechten. Der Stunn-Strahl erfasste den Angreifer, der nur brüllte, sich mit den Fäusten auf die Brust trommelte und sich Jason ein zweites Mal näherte.

Ein Zischen ließ Jason wissen, dass Shilla ebenfalls einen Gegner gefunden hatte, der sie attackierte. Er hatte jedoch keine Zeit, sich um sie zu kümmern, da die Kreatur ihn erreicht hatte. Scheiße, wieso wirkte der Stunner nicht?

Jason hechtete nach vorn, zwischen den Beinen des Riesen hindurch, der von diesem Manöver überrascht wurde und verwirrt nach seinem Opfer suchte, das er bereits sicher gehabt zu haben glaubte. Groß, schwer, stark, aber unbeweglich und vermutlich auch dumm – die klassische Kombination: Für Jason war es ein Leichtes, den Kerl auszutricksen. Mit der Linken zog er eine Rauchbombe, drückte den Auslöser, wartete …

»Komm zu Papa!«

Das Wesen wandte sich um, entdeckte ihn und stapfte auf ihn zu. Die Granate explodierte unmittelbar vor seinem Gesicht. Röhrend taumelte die Kreatur zurück, die Pranken auf die Augen gepresst. Blind torkelte sie durch den Qualm, stolperte gegen ein Regal, das zu wanken begann und sie unter sich und seinem Inhalt begrub.

Sofort sprang Jason auf und tastete sich mit zusammengepressten Lidern an einem Bord entlang. Seine Augen würden gleich wieder zu tränen aufhören, wenn er an der frischen Luft war.

»Shilla, wo steckst du?«

»Hier.« Eine Hand schloss sich um seinen Arm. »Tut mir leid, ich habe den Kerl nicht bemerkt. Seine Gedanken waren nicht lesbar … wie die von Crii-Logan. Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ich habe nur etwas Rauch abbekommen. Und du?«

»Ich bin okay. Unsere Verfolger schlafen jetzt.«

Sie entwischten durch den Hinterausgang in eine andere Straße.

»Dort sind sie!«, gellte ein Schrei.

»Scheiße! Schon wieder.« Jason zerrte Shilla in die entgegengesetzte Richtung, als weitere kakibraune Uniformen sichtbar wurden.

»Es kommen noch mehr«, hörte er Shilla. »Über Funk haben sie Verstärkung angefordert. Wir sind umzingelt.«

»Über die Mauer«, rief Jason und wies auf die hohe Grenze zwischen zwei Grundstücken.

Er formte mit beiden Händen einen Steigbügel und verlieh Shilla den notwendigen Schwung, die Mauerkrone zu erreichen. Sie löste den nutzlos gewordenen Umgang von ihren Schultern und ließ ihn wie ein Tau herab, sodass Jason mit schnellen Handgriffen nach oben klettern konnte. Auf der anderen Seite sprangen sie hinunter. Ihre Verfolger würden etwas länger brauchen, falls sie nicht fliegen konnten.

Auf diese Weise würden sie jedoch nicht mehr lange durchhalten, das war Jason klar. Zu viele Soldaten waren ihnen auf der Spur. Bislang hatte es keinen offenen Schusswechsel gegeben. Noch versuchte man, sie unversehrt zu fangen und Unbeteiligte zu schonen. Wie lange mochten die Gegner geduldig bleiben?

Sie bogen in eine verlassene Verbindungsstraße und plötzlich hatte Jason die Lösung unmittelbar vor Augen.


»Was mögen sie vorhaben?«, Sessha stand noch immer neben Charkhs Sessel und beobachtete die Annäherung des Hairaumers.

Musste das Weibchen so dicht an seiner Seite verharren, fragte sich der Arachnoid und zwang sich, nicht die Vorderbeine zu reiben. Sein schöner Pelz war an den besagten Stellen schon ganz dünn geworden …

Inzwischen hatten sich auch andere neugierige Besatzungsmitglieder in der Zentrale eingefunden, soweit es ihre Dienstpläne zuließen. Zwar hatten die meisten schon einmal ein Schiff des Nexus gesehen, aber es war immer noch ein seltenes und besonderes Ereignis, dem etwas Beklemmendes anhaftete.

Schließlich stoppte der Raumer seinen Flug und schlug eine Kreisbahn um Reputus ein. Danach geschah nichts weiter. Weder wurde ein Beiboot auf den Planeten hinabgesandt noch schickten sie einen Funkspruch. Es war höchst sonderbar. Offensichtlich war es der Crew des Schiffes egal, ob man von ihrer Anwesenheit über Reputus wusste oder nicht und ob man sich wunderte, welche Pläne sie haben mochten. Ihre Denkweise und ihr Handeln waren für niemanden nachvollziehbar.