Der letzte Admiral 3: Dreigestirn

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Z serii: Der letzte Admiral #3
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2

Es gab da diese Geschichte, sehr alt und Ryk kannte nur den Titel. Er hatte sich nicht einmal an diesen erinnert, bis zu diesem Moment, da Uruhard ihn darauf hinwies, der in allen sehr alten Dingen weitaus besser bewandert war als jeder von ihnen.

»Jonas und der Wal«, sagte er. Sia und Momo hatten nie davon gehört und Ryk kannte nicht mehr als das, ihm war der Inhalt der Sage unbekannt. Uruhard erklärte sich auch nicht, er hatte nur laut gedacht, aber angesichts der Tatsache, dass eine der Pyramiden gerade die Marcus Aurelius geschluckt hatte, konnte sich Ryk zumindest denken, wie es Jonas mit dem Wal ergangen war.

Es wurde dunkel und dann wieder hell und so groß die Pyramide auch sein mochte, die Halle, in der sich die Marcus Aurelius wiederfand, war kaum größer als die Korvette und bestand nur aus metallenen, schmucklosen Wänden. Die Triebwerke waren ausgeschaltet worden.

Nicht von ihnen.

Nicht von der Steuerautomatik.

Von der Pyramide, gleich bei der endgültigen Annäherung. Wie nebenbei.

Ryk war dieses Gefühl gewohnt: Andere entschieden über seine Wege und sein Schicksal. Er empfand nur noch Gelassenheit bei dieser Perspektive und verhielt sich damit fast wie Momo. Sie standen beide da und beobachteten ihre Inobhutnahme durch eine gigantische Metallkonstruktion, während Uruhard und Sia sich doch ein wenig aufregten und dabei jede Menge Energie verschwendeten.

Dann wurde es im Schiff dunkel. Hier gab es keine Energieverschwendung. Ein sanft blinkendes Notlicht zeigte ihnen den Weg zur Schleuse. Ein unmissverständlicher Hinweis. Jemand wollte, dass sie ausstiegen. Es gab keine weitere Kommunikation. Das Pyramidendings konnte nicht oder wollte nicht oder war anderweitig beschäftigt. Ryk fand, dass es für sie hier im Inneren des Schiffes jetzt keinen großen Diskussionsbedarf gab. Sie konnten hier im Dunkeln sitzen oder sich der Dunkelheit da draußen stellen. Letzteres versprach Fortschritt und Erkenntnis. Immerhin war der Feind ihres Feindes doch ihr Freund.

Sagte er sich.

Redete er sich wenigstens ein.

Wie sollte man auch sonst bei geistiger Gesundheit bleiben?

Es war sehr still geworden in ihrem so vertrauten Schiff, wirklich alles schien abgeschaltet, ohne Ankündigung und ohne Erklärung. Sie verließen die Korvette und trugen Schutzanzüge und Waffen, aber fühlten sich dennoch ungeschützt und wehrlos. Als sie den Boden der Halle betreten hatten, öffnete sich eine Tür in der Wand.

»Das ist Unionstechnik«, sagte Uruhard, und klang zuversichtlich. »Das ist alles Unionstechnik. Wenn ihr mich fragt, diese Pyramiden sind die Forschungsstation von Admiral Rothbard. Würde ich sagen.«

Fragen trugen sie alle viele mit sich herum und die Antwort des Wachtmeisters klang plausibel genug, um ernst genommen zu werden.

»Wir gehen jetzt durch die Tür«, sagte Sia bestimmt und wie meistens, wenn sie einmal zu einem Entschluss gekommen war, folgten die anderen ihr. Die Alternative bestand ohnehin nur darin, in der abgeschalteten Korvette auszuharren.

Hinter der Tür fand sich ein weiterer Raum, kalt, karg ausgestattet, mit einigen Bänken, einem fest verschraubten Tisch, einer fahlen, aber lückenlosen Beleuchtung und in der Mitte einem Monster mit Scherenbeinen.

Der Anblick erschreckte Ryk und für einen Moment musste er den sofort einsetzenden Fluchtreflex bekämpfen. Das war kein Großmaul, kein Drache, aber es hatte eine Aura von Gefahr, irrational vielleicht, möglicherweise albern, aber sie war da.

Es war fast drei Meter hoch, mit einem schlanken, ovalen Körper und vier seitlich abstehenden Beinen, die aussahen wie nach unten spitz zulaufende Klingen. Oben auf dem Torso saß eine Art Kopf, glatt, fugenlos, ohne sichtbare Augen. Maschinen benötigten sicher keine Augen. Großmäuler hatten welche, weil sie eine Mischung aus Lebewesen und Maschine waren und der Hivestock offenbar darauf Wert legte. Dies war Unionstech. Schlank, elegant, gestaltet, um Eindruck zu machen, effektiv, effizient, irgendwie übermächtig.

Wenn die Union solche Maschinen gehabt hatte, warum war sie dann untergegangen?

Wahrscheinlich lag es daran, dass es nicht darauf angekommen war, wie etwas aussah, sondern wie viel brutale Gewalt es entwickeln konnte. Und wer es zu welchem Zweck kontrollierte.

Die Maschine sprach. Das überraschte nun niemanden.

»Gäste. Gruß den Gästen. Vorsicht. Keine Angst notwendig. Nahrung. Aufnahme von Kohlenhydraten und Ballaststoffen angeboten. Sitzplätze. Gliedmaßen dürfen entspannt und repositioniert werden.«

Alle lauschten sie der sanften, etwas monotonen Stimme und sahen sich dann an.

»Er hat uns beruhigt, was zu essen angeboten und dass wir uns setzen dürfen«, fasste Sia zusammen, um ganz sicherzugehen. »Wir sollten uns entgegenkommend zeigen.«

Sie wartete das Votum der anderen gar nicht erst ab, setzte sich auf eine Bank, schlug in einer fließenden Bewegung ein Bein über das andere und sagte: »Kohlenhydrate wären jetzt eine feine Sache. Und Flüssigkeit.«

»Fructoseliquid mit Fruchtgeschmack wird angeboten.«

»Was will er?«, fragte Ryk, der sich ebenfalls, zögerlich, setzte.

»Fruchtsaftersatz«, sagte Uruhard. »Nicht sehr exklusiv, aber süß. Sia hat ja nach Kohlenhydraten gefragt.«

Ryk wusste nicht genau, was das war, und er wollte, einmal mehr, seinen Mangel an Bildung nicht allzu sehr herausstellen. Wenn Uruhard etwas aß oder trank, war dies Orientierung genug für ihn.

Die Maschine bewegte sich nicht, dafür kam eine zweite, flacher, wie ein fahrender Tisch. Er rollte geschmeidig auf die nunmehr sitzende Gruppe zu. Selbst Momo hatte sich mit Aufwand niedergelassen. Er war von allen derjenige, der derzeit den am wenigsten entspannten Eindruck machte, was gewiss auch auf seine ungemütliche Sitzhaltung zurückzuführen war.

Es gab Fruchtsaftersatz und quadratisch aussehende Küchlein, die sich als eher harte Kekse herausstellten. Beides war sehr süß, ungewohnt für Ryk, aber aus Höflichkeit – Höflichkeit? – aß er etwas und trank. Würde er mehr davon zu sich nehmen, dessen war er sich sicher, wären Bauchschmerzen die Folge. Allein Momo stopfte eine Handvoll in sich hinein und schien unbeeindruckt von möglichen Konsequenzen zu sein.

Der Scherenbeinroboter schien mit ihrem Verhalten zufrieden zu sein. »Nahrung wurde aufgenommen. Sitzpositionen wurden eingenommen. Sprachsequenz wird hochgeladen. Kommunikationsverhalten wird angepasst. Bitte um Verständnis. Es ist viel Zeit vergangen. Einen Moment.«

Die so furchterregend aussehende Maschine bat um Verständnis. Das war ein starker Kontrapunkt zu ihrem Schreck einflößenden Design. Ryk ermahnte sich, Ruhe zu bewahren. Kohlenhydrate waren natürlich hilfreich, aber die ganze Umgebung in ihrer Kälte und Schlichtheit sorgte nicht dafür, dass man sich leicht entspannte.

»So ist es besser!«, sagte der Roboter, plötzlich ganz anders artikulierend, als würde irgendwo eine andere Person vor dem Mikrofon sitzen.

Die Maschine bewegte sich und machte bewusst einen Schritt zurück. Vielleicht verstand sie jetzt, dass ihre bloße Anwesenheit etwas einschüchternd wirken konnte.

»Ich habe jetzt aktualisierte und angepasste Gesprächsmöglichkeiten zur Verfügung. Ich begrüße Sie alle an Bord des Dreigestirns, der Forschungseinrichtung der Terranischen Union im Deneb-Sektor. Die biologische Besatzung ist verstorben oder hat die Station vor langer Zeit verlassen. Sie sind die ersten biologischen Besucher seit sehr langer Zeit. Ich bin nicht in der Lage, Freude zu empfinden, aber mein Kommunikationsprotokoll erwartet, dass ich diese simuliere, um kulturell angepasstes Gesprächsverhalten zu projizieren.« Die Maschine hielt inne, als müsse sie überlegen. »Oh, das hätte ich nicht sagen sollen. Es ist wirklich viel Zeit vergangen. Bitte, seien Sie nicht beunruhigt. Weitere Fructose?«

»Nein, danke.«

Sagte man zu einer Maschine Danke? Es erschien Sia wohl angemessen. Wenn es jemand wusste, dann sie.

»Ihr Besuch ist unangekündigt und damit unerwartet. Die potenzielle Möglichkeit wurde mit einer geringen Wahrscheinlichkeit angesetzt. Dennoch ist diese Entwicklung zufriedenstellend.«

Ryk versuchte zu verstehen, was die Maschine damit meinte. Möglicherweise hatte sie ihnen gerade erneut auf ihre Weise gesagt, dass sie sich über den Besuch freute.

Hoffentlich.

»Wir sind unerwartet hier, aber nicht zufällig«, ergriff nun Uruhard das Wort. »Wir suchen Admiral Rothbard. Dies ist doch seine Forschungsstation, richtig?«

Die Maschine erwiderte nichts. Überrascht sein konnte sie doch eigentlich nicht. Und überlegen musste man doch mit einem so hochgezüchteten elektronischen Gehirn auch nicht lange. Versuchte sie gerade, menschliche Verhaltensweisen zu kopieren? Ryk hielt das nicht für unmöglich. Ihre Artikulationsfähigkeit jedenfalls hatte sich bereits verbessert. Sie war lernfähig.

»Admiral Rothbard. Er ist schon lange tot.«

Die Gruppe sah sich betreten und vielleicht eine Spur enttäuscht an. So richtig hatte möglicherweise keiner von ihnen mehr damit gerechnet, dass der Admiral als Person noch aktiv war oder wieder werden konnte. Aber hier ging es ja nicht zuletzt um sein Vermächtnis.

»Wir dachten, er sei in einer Art Stasis, vielleicht tiefgefroren«, versuchte Uruhard es trotzdem, dem Prinzip Hoffnung folgend.

»Sie reden von Kryostase?«

Keiner kannte das Wort, nicht einmal Sia, die doch sonst jeden technischen Begriff entschlüsseln konnte.

»Das kann sein«, erwiderte Uruhard. »Die Legende sagt, dass er in einem tiefen Schlummer darauf wartet, dass die Forschungseinrichtung ein Mittel gegen den Hive entwickelt, um dann zu erwachen und die Union zu retten – oder vielmehr das, was von ihr übrig geblieben ist.«

 

»Diese Station ist in der Tat damit befasst, eine Lösung für die Hiveproblematik zu finden. Ich benötige zusätzliche Informationen über den Status der Hiveinfektion auf anderen von Menschen besiedelten Welten. Verfügen Sie über solche Kenntnisse?«

»Wir wissen nur von zwei Systemen, darunter die Erde«, sagte Sia.

»Das sind wichtige und willkommene Ergänzungen meiner Datenbank. Ihr Besuch wurde soeben von unerwartet zu nutzbringend aufgewertet. Ich werde nun Quartiere für Ihren Aufenthalt zur Verfügung stellen. Sie werden angenehm temperiert sein, geeignetes Mobiliar enthalten sowie Installationen zur Aufnahme weiterer Nahrungselemente und zur Ausscheidung der unverarbeiteten Reste. Ich gehe recht in der Annahme, dass sich die Funktionsprinzipien menschlicher Körper seit dem Ende der Union nicht grundsätzlich geändert haben?«

»Das ist … zutreffend«, sagte Uruhard, mit einem vorsichtigen Unterton und einem Seitenblick auf Sia, die über Funktionsprinzipien verfügte, die zumindest außergewöhnlich waren.

»Bitte folgen Sie mir.«

Ohne darauf zu warten, ob sie dies tatsächlich taten, setzte sich die Maschine in Bewegung. Der Übergang von völliger Starre in spontane Aktion kam überraschend und erschreckte Ryk. Das tappende Geräusch der vier Scherenbeine, die sich in einem perfekten Rhythmus bewegten und den eleganten schwarzen Leib in eine Richtung trugen, hatte wieder etwas Unheimliches, ja Bedrohliches.

Sie alle folgten der Maschine, etwas ratlos, aber ohne eine Alternative zu wissen. Ryk empfand einmal mehr das Gefühl des Ausgeliefertseins und fragte sich, ob er jemals in seinem Leben ein Stadium erreichen würde, in dem er sich zumindest der Illusion hingeben konnte, Herr über seine Entscheidungen zu sein – und sei es nur darüber, wohin er wann ging und wem er dabei zu folgen bereit war.

So richtig glaubte er nicht daran.

Das war schon traurig.

Sie fanden sich in einem Quartier aus mehreren miteinander verbundenen Räumlichkeiten wieder, schmucklos, aber mit Mobiliar, das ihren Erwartungen entsprach, wenn man einmal von Momo absah, der vor allem die Sitzgelegenheiten mit einem abfälligen Grunzen beäugte. Die Maschine wies auf ein Bedienpanel an der Wand und Ryk stellte fest, dass sich die Elemente kaum von denen der Korvette unterschieden, mit der sie hierhergeflogen waren. Dies war ohne Zweifel eine Anlage der Union und beruhte auf den gleichen Prinzipien, damit waren sie irgendwie zu Hause.

Es fühlte sich aber nicht so an.

Der Roboter klackerte auf seinen Scherenbeinen davon. Zum Abschied erklärte er, seinen Gästen eine »angemessene Zeitspanne zur mentalen und körperlichen Akklimatisierung« zu lassen, mit der Ankündigung, in sechs Standardstunden wieder nach ihnen zu sehen und »Weiteres zu veranlassen«, ohne diese Worte mit einer spezifischen Absicht zu verbinden.

Ryk setzte sich. Mentale Akklimatisierung. So ganz genau verstand er das Wort nicht, aber er fühlte sich ein wenig erschöpft. Er musste diese Eindrücke verarbeiten und etwas gegen die unwillkürliche Scheu tun, die er beim Gedanken an den Scherenroboter empfand.

»Wir wurden abgefertigt«, sagte Uruhard, der sich seufzend auf ein Sofa niederließ. Sie hatten vier Schlafzimmer, klein, aber gut ausgestattet, und diesen Gemeinschaftsraum, in dem sie auch essen konnten. Es gab keine Fenster, keine Bilder, aber eine wohlgefällige indirekte Beleuchtung und die Möbel wirkten nicht nur zweckmäßig, sondern waren auch schön anzusehen. Es war alles sehr … erträglich. Ein besseres Wort fiel ihm nicht ein.

»Abgefertigt?«, fragte Ryk.

»Wie Ware auf dem Markt. Paketweise auf eine Motorrikscha geladen. Immerhin wurden wir nicht mit einem Stempel versehen. Ich fühle mich nicht … ich fühle mich …« Uruhard fiel das richtige Wort nicht ein.

»Wertgeschätzt.«

Alle sahen Momo an. Der erwiderte ihr Starren ungerührt und lächelte dann freundlich. »Ich kenne das. Ich werde erst seit Kurzem wertgeschätzt. Passierte vorher selten.«

Das war ein Lob aus seinem Mund, und ein anrührendes dazu. Es kompensierte emotional ein wenig die maschinelle Art des Empfangs, den sie gerade genossen hatten.

»Ich fühle mich unwohl«, sagte nun auch Sia. »Ich habe keinen festlichen Aufmarsch erwartet. Seit dem, was auf Pax geschehen ist, stehe ich dem ohnehin mit einem tiefen Misstrauen gegenüber. Aber für mich hatte das alles einen sehr seltsamen Beigeschmack. Es klang so, als seien wir zu etwas nützlich und würden zu diesem Zweck …«

»Aufbewahrt.«

Wieder schauten alle Momo an. Der Defo lief hier zu rhetorischer Hochform auf. Dass er nun auch auf einem Zweisitzer eine einigermaßen bequeme Sitzposition gefunden hatte, mochte dazu beitragen.

»Wir sollten uns ausruhen«, schlug Ryk vor.

»Dafür ist keine Zeit!«

Ryk wollte wieder erstaunt auf Momo schauen, dann aber merkte er, dass dieser die energischen Worte gar nicht ausgesprochen hatte. Stattdessen stand da ein Mann im Raum, als sei er aus dem Boden emporgewachsen. Er hatte ein markantes Gesicht, umrahmt von einem sorgfältig gepflegten Backenbart, und sein hochgewachsener und muskulöser Körper steckte in einer makellos geschneiderten Uniform mit den alten Insignien der Union. Seine Haut hatte einen angenehmen Braunton, der den Eindruck großer Dynamik und Lebenskraft vermittelte, wie seine ganze Körperhaltung, angespannt, bereit zum Sprung, aktiv.

Sie alle starrten ihn an, überrascht, irritiert, dann beinahe andächtig, als sie erkannten, um wen es sich handelte oder zumindest zu handeln schien.

Ryk kannte das Gesicht. Sie alle hatten diesen Mann bereits einmal gesehen. Nicht lebend. Nicht tot. Aber sein steinernes Abbild. In einer großen Halle. Von dort waren Menschen erschossen worden. Das trübte die Erinnerung ein wenig.

»Admiral Rothbard«, murmelte Uruhard und erhob sich mühsam, den Blick nicht von dem Uniformierten wendend, der gelassen dastand und die vier Besucher mit der Andeutung eines feinen Lächelns auf den Lippen musterte.

»Ja und auch nein«, sagte der Admiral mit seiner volltönenden, angenehmen Stimme. »Ich erkläre es später. Jetzt sollten Sie alle mit mir kommen, und zwar schnell.«

»Warum? Wohin?«, fragte Ryk, dessen Verwirrung einen neuen Höhepunkt erreicht hatte.

»Warum? Weil der Roboter Sie alle in Kürze töten wird, sobald er alles erfahren hat, was er wissen möchte. Sie sollten mit mir gehen, wenn Sie leben wollen. Wollen Sie leben?«

Die Frage klang auf absurde Weise ernst gemeint. Sie alle nickten, wie ertappte Kinder, die dachten, es hätte sie niemand dabei beobachtet, wie sie die Bonbons geklaut hatten.

»Folgen Sie mir«, insistierte Admiral Rothbard. Er drehte sich halb um und zeigte in eine Richtung. »Da entlang.«

Natürlich war da jetzt ein Zugang, wo eben noch eine fugenlose Wand gewesen war.

Diese Hochtechnologie fiel Ryk zunehmend auf die Nerven.

Er fügte sich, wie sie alle.

3

Es wurde dunkel dort, wo sie hingeführt wurden, etwas kühler und ein klein wenig schäbig. Nicht schäbig wie in einem Crawlerschiff, aber schäbig wie in: »Hier wische ich nur einmal im Monat durch und auch das nicht richtig.« Das schien den Mann in der schicken Uniform nicht zu beeindrucken und er hastete mit einer Geschwindigkeit vor ihnen her, die nur zwei Schlüsse zuließ: Er floh vor etwas oder er musste schnell etwas erreichen, im Zweifel auch beides.

Sein Verhältnis zu der Automatik, die diese Station steuerte, war aber offenbar ein zwiespältiges. Er lebte, aber er sah sich misstrauisch um. Ryk konnte damit noch nicht allzu viel anfangen.

Eine Treppe ging es hinab, dann durch zwei Türen, von denen sich eine mit einem leisen Quietschen öffnete, was Ryks Eindruck der Schäbigkeit nur bestätigte.

Dann standen sie in einem Raum, der eine ganz seltsame Mischung aus Krankenstation und leicht vernachlässigtem Wohnzimmer darstellte, eine andere Assoziation fiel Ryk beim besten Willen nicht ein. Ein großes, tankähnliches Gebilde stand an einer Wand, bedeckt mit allerlei Kontrollen und Zuleitungen. Über ihre Bedeutung gaben Form und Aussehen keine Auskunft, zumindest nicht für jemanden wie Ryk, dessen technisches Verständnis immer noch stark zu wünschen übrig ließ. Dann standen da aber auch zwei Sofas, ein Tisch, eine Art Kochecke, die durch einen Nahrungsautomaten dominiert wurde, und eine flache Kommode, in deren halb geöffneten Schubladen Kleidung zu erkennen war.

Der Admiral – falls er der war, der er zu sein schien, oder auch nur irgendein Mensch – wirkte erleichtert, als sie den Ort erreicht hatten. Er wies auf die Sofas. »Es ist nicht viel, aber es ist bequem. Bitte setzen Sie sich. Ich habe es sehr eilig, denn meine Zeit läuft ab. Es hat diesmal alles länger gedauert als gedacht. Der Tank wird alt und ich habe keine Ersatzteile.«

Er zeigte auf das Ungetüm an der anderen Wand. Der Tank, dachte Ryk. Das sagte ihm erst mal nichts, aber zum Glück gab es unter ihnen jene, die eher etwas mit dem Wort anfangen konnten.

»Was ist das? Wurden Sie dort tiefgefroren?«, fragte Uruhard.

Der Admiral schüttelte den Kopf. Er hatte jetzt selbst Platz genommen, wirkte aber immer noch angespannt, als würde er auf eine böse Überraschung warten. Diese Haltung übertrug sich auf Ryk, der sich immer noch unruhig fühlte. »Nein. Eine naheliegende Vermutung, das gebe ich zu. Die Geschichte, die Sie hierhergeführt hat, ist bestimmt spannend, wenngleich nicht vollständig. Aber wir können das später diskutieren.«

»Was …?«, fing Sia an.

Rothbard hob eine Hand. »Nein, wirklich später. Meine Zeit ist abgelaufen. Es war knapp und ich habe keine Gelegenheit, jetzt sofort alles zu erklären. Erst muss etwas passieren. Nicht schockiert sein, bleiben Sie alle ganz ruhig und hören Sie mir gut zu: Ich werde mich jetzt töten.«

»Was …?«, fing Ryk an.

Rothbard seufzte und er war definitiv ungeduldig, denn er sprach nun sehr schnell und etwas gehetzt. »Keine Fragen. Es ist nicht so, wie Sie denken. Ich muss sterben. Ein Roboter wird meine biologischen Reste entsorgen. Machen Sie sich keine Gedanken. Sieht bestimmt etwas erschreckend aus, ich weiß es nicht, ich habe mir nie dabei zugeschaut. Keine Sorge. Etwa drei Stunden später werde ich aus diesem Tank steigen und Ihnen alles erklären. Das heißt – ich werde es nicht sein. Jemand, der wie ich aussieht. Es macht aber keinen Unterschied, ich habe die Erinnerungen dieser Begegnung im Feed.« Er tippte sich an die Stirn. Ein Tattoo mit einem Edelstein hatte er nicht, was Ryk als beruhigend empfand.

»Aber was …?«, fing Uruhard an.

Aus ihren Fragen wurde nichts mehr.

»Nein, nein. Hören Sie! Bleiben Sie hier. Verlassen Sie diesen Raum auf keinen Fall! Er liegt unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Stationsautomatik, das ist so eingestellt. Wenn Sie ihn verlassen und rumlaufen, finden die Roboter Sie, und das wäre keine gute Idee. Lassen Sie sich nicht täuschen. Warten Sie bitte, bitte, bitte, bis ich wieder aus dem Tank klettere. Oder eben nicht ich. Mein Nachfolger. Bitte. Ich bitte Sie eindringlich. Drei Stunden. Der Nahrungsautomat funktioniert. Die Tür da? Die Toiletten. Bitte.«

Er schaute an die Wand. Dort hing eine Uhr.

»Ich muss jetzt gehen. Spaß macht mir das nicht.«

Dann hob er eine Hand, in der er plötzlich einen Injektor hielt. Er setzte ihn übergangslos an seinen Hals, es war ein feines Zischen zu hören, dann sackte die Gestalt plötzlich in sich zusammen und fiel krachend zu Boden. Der Körper zuckte ein- oder zweimal, die Augen starr an die Decke gerichtet, der Injektor kullerte davon. Dann war der Körper ruhig.

Alle waren ganz sprachlos. Der Mann hatte beileibe nicht gescherzt.

Sia kniete sich zögernd neben den Regungslosen und berührte die Halsschlagader.

»Tot«, sagte sie mit belegter Stimme. »Mausetot.«

Ein schabendes Geräusch ertönte. Aus der Unterseite des Tanks kam eine flache Maschine gekrochen, die dafür breit wie ein Bett war, und bewegte sich zielstrebig auf die Leiche zu.

Sia machte einen Schritt zurück. Sie wollte definitiv nicht aus Versehen mit entsorgt werden.

Der Roboter positionierte sich neben der Leiche und hob sie dann hoch. Der schlaffe Leib wurde abgelegt und dann bewegte sich die Maschine wieder zu ihrem Ursprungsort und eine Klappe schloss sich hinter ihr.

 

Ryk hatte definitiv kein schmatzendes Geräusch gehört, so etwas war nur seiner überreizten Fantasie entsprungen.

Dann aber erwachte der Tank. Kontrollen leuchteten auf. Sia runzelte die Stirn, ging hinüber zu der Anlage und betrachtete die Anzeigen mit mehr als nur reiner Neugierde. Sie schien ein Verständnis für das zu haben, was sich hier abspielte, und die Faszination ging über ihre natürliche Affinität zu technischen Errungenschaften der Vergangenheit hinaus. Dann, nach einigen Minuten, in denen der Tank vernehmlich vor sich hin gesummt hatte, nickte sie, mehr zu sich selbst. »Ah ja«, murmelte die Sängerin. »So, so.«

»Können wir in den Genuss deiner Erkenntnis kommen?«, fragte Ryk. Er respektierte Sias überragendes Verständnis, noch mehr aber schätzte er, wenn man die Unwissenden sogleich über Ergebnisse in Kenntnis setzte.

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Das sind wir uns ja nie«, erwiderte Uruhard. »Was vermutest du?«

»Der Tank und die Anzeigen erinnern mich an Teile meiner Ausbildung, vor allem aber an eine mittlerweile funktionslose Apparatur im Labor von Onkel Dassio. Ich durfte sie mir vor meiner ersten Operation ansehen und erinnere mich, dafür nicht das geringste Verständnis aufgebracht zu haben.«

»Worum handelte es sich?«

»Ach, ganz banal«, sagte Sia mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ein Gerät, mit dem man, basierend auf der DNA eines Patienten, abgetrennte Gliedmaßen neu heranwachsen ließ, um sie nachher operativ mit dem Körper zu verbinden. Hand ab, neue Hand, Hand wieder da. Wir haben eine etwas kleinere Fassung in der Krankenstation der Aurelius, glaube ich. Sehr praktisch. Funktioniert mit allen Gliedmaßen und Organen, nur am Kopf scheiterte die Technik.« Sie hielt inne. »Nein, der Kopf geht auch. Das Gehirn und das zentrale Nervensystem waren das Problem, wenn ich mich recht entsinne. Das hier aber«, sie zeigte auf den Tank, »ist ohne Zweifel eine Nummer größer.«

»Nun, groß ist er«, kommentierte Ryk. »Darin werden also Organe gezüchtet, für Unfallopfer?«

»Ich glaube, es wird weitaus mehr gezüchtet als nur Organe. Ich tippe mal auf vollständige Körper.«

Ryk schaute sie etwas ungläubig an, aber Sia war bar jeder Ironie und schaute den Tank beinahe mit der gleichen Zärtlichkeit an, mit der sie ihn manchmal betrachtete. Die Hybride hatte sich selbst einmal scherzhaft als technosexuell bezeichnet und so langsam bekam Ryk einen Eindruck davon, was genau sie damit eigentlich meinte.

»Da werden Körper herangezüchtet?«, fragte Uruhard. »Um sie nachher auszuschlachten, wie in einem Schlachthof?«

»Das wäre ineffizient. Wenn ein Organ fehlt, ist es sinnvoller, es einzeln herzustellen. Nein, dieser Körper wird erstellt, damit er autonom funktioniert.«

»Aber die Seele.«

Alle schauten Momo an, der sich in diesem Moment auch noch als spirituell interessierter Mann entpuppte. Es war eine Zeit großer Wunder.

Sia warf noch einen letzten Blick auf den Tank, aus dem nun ganz leise, rumpelnde Geräusche zu hören waren, als würde jemand darin eine Suppe anrühren. Möglicherweise ein Vergleich, der gar nicht so unsinnig war, wie er sich anhörte.

»Ich verstehe deinen Einwand, Momo«, sagte sie dann sanft. »Von wissenschaftlicher Seite aus kann ich dir sagen, dass er unsinnig ist. Die Neurobiologen halten die Seele für eine Einbildung. Sie betrachten unser Gehirn als eine unendlich komplizierte Maschine. Demnach ist all unser Fühlen, Erleben und Denken das Ergebnis physikalischer Vorgänge im Kopf. Könnten wir diese Neurobiologie vollständig begreifen, dann wäre die Seele endgültig als Illusion entlarvt, als religiöse Spinnerei. Das Ich-Bewusstsein ist ein Konstrukt des Gehirns, um auf der Basis von Intelligenz – also einer biologisch determinierten Informationsverarbeitungskapazität – die Umwelt wahrzunehmen und optimal in ihr zu funktionieren, was im Falle von uns Säugetieren vor allem bedeutet: optimal zu überleben und sich optimal fortzupflanzen.«

Momo war anzusehen, dass er mit dieser Sichtweise nicht einverstanden war oder einfach nicht jedes der komplizierten Worte verstand. Bei Ryk war Letzteres der Fall, er hatte über so etwas noch nie nachgedacht und dementsprechend auch keine Meinung dazu.

Doch ehe Momo seinem Missfallen Ausdruck verleihen konnte, hob Sia eine Hand und lächelte. Sie war noch nicht fertig. »Es gibt auf der anderen Seite Wissenschaftler, die diese Problematik etwas differenzierter betrachten. Dabei helfen Erkenntnisse aus der Quantenphysik.«

»Sia, das versteht hier niemand«, wandte Ryk schwach ein. Wenn sie einmal richtig in Fahrt war und auf Lehrmodus schaltete, war sie wirklich kaum aufzuhalten, und auch diesmal ließ sie sich durch die Bemerkung des Springers keinesfalls beirren.

»Hör mir zu, Ryk. Es ist eine wichtige Frage.«

»Ich weiß nicht einmal, was Quantenphysik ist. Und ich bin mir sicher, alle Quantenphysiker wurden vom Hive gefressen.«

Momo kicherte.

Sia fand das nicht ganz so witzig. »Umso wichtiger, dass du etwas lernst. Also: Der Dualismus zwischen Körper und Seele ist für viele Quantenphysiker ebenso real wie die Tatsache, dass Licht beide scheinbar gegensätzlichen Formen annehmen kann: elektromagnetische Welle und handfestes Teilchen. So existiert auch ein universeller Quantencode, in den die gesamte lebende und tote Materie eingebunden ist. Dieser Quantencode hat sich seit dem Urknall über den gesamten Kosmos erstreckt. Konsequenterweise glauben solche Theoretiker also an eine Existenz nach dem Tode. Was wir unser Leben in dieser von unseren Sinnen erfassbaren Welt nennen, ist im Grunde nur die Schlacke, die Materie, also das, was greifbar ist. Das Jenseits ist alles Übrige, die umfassende Wirklichkeit, das viel Größere. Insofern ist unser gegenwärtiges Leben bereits vom Jenseits umfangen. Unser Bewusstsein, oder vielmehr die Seele, ist mehr als das, was sich in der Materie ausdrückt.«

»Sia«, sagte Momo. »Ich verstehe dich nicht.«

Ryk nickte ihm zu. Uruhard saß mit gerunzelter Stirn da und wollte nicht zugeben, dass er möglicherweise den Faden verloren hatte. Vielleicht hatte er das auch gar nicht.

Sia jedenfalls, erleichtert darüber, eine weitere Lektion an ihr Publikum gebracht zu haben, schenkte ihnen allen ein Lächeln und zeigte auf den Tank. »Wenn die Quantenphysiker recht haben, wird das Wesen, das aus diesem Tank steigt, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Seele haben, wenn die biologisch-chemischen Prozesse und Zustände für den Ausdruck einer solchen in der materiellen Welt vorhanden sind. Was sie sein werden, denn Unionstechnologie hat wirklich gut funktioniert, wie wir alle sehen. Man nennt es einen Klon. Und er wird funktionieren. Wie gut, weiß ich nicht. Aber die Ankündigung des Admirals, wir würden unser Gespräch fortsetzen können, weist darauf hin, dass er ganz genau wusste, was er da tat.«

»Aber warum bringt er sich dann um?«, fragte Ryk.

»Keine Ahnung.«

»Das weißt du nicht?«

Sia sah ihn missbilligend an. »Ich weiß viel, aber bei Weitem nicht alles. Stell mich nicht immer auf ein Podest, das meiner nicht gerecht wird.«

Dass die Sängerin durch ihre Vorträge manchmal selbst dazu neigte, sich auf dieses Podest zu stellen, ob sie es nun als solches wahrnahm oder nicht, erwähnte Ryk besser nicht. Er liebte diese Frau, daran bestand kein Zweifel, und er fürchtete ihre Missbilligung. Letzteres hing damit zusammen, dass sie verdammt noch mal auf diesem Podest stand und, egal was sie sagte, unausweichlich nur auf ihn herabblicken konnte.

Es war so. Sie wollte es vielleicht nicht. Aber es war so.

Sie mussten beide wohl noch lernen, mit dieser Tatsache richtig umzugehen.

Drei Stunden, hatte der Selbstmörder gesagt.

Anstatt über Quantenphysik und Hirnforschung nachzudenken, widmete sich Ryk dem Nahrungsautomaten, der mit zuverlässiger Emsigkeit Kohlenhydrate ausspuckte, und zwar zu viel davon. Das war Ryk allerdings in diesem Moment egal, vor allem weil er entdeckte, dass der Schokoladenkuchen tatsächlich so schmeckte, wie er Schokolade in Erinnerung hatte. Er aß zu viel davon, fühlte sich dann aufgebläht und träge, warf sich auf das Sofa und merkte irgendwann, dass sein Kopf an Momos Schulter ruhte, was dieser mit der tiefen Gelassenheit aufrichtig empfundener Freundschaft akzeptierte. Ryk döste einige Zeit vor sich hin, ohne richtig einzuschlafen, aber es half, das Zeitgefühl so weit zu betrügen, dass er die drei Stunden überstand, ohne in Grübelei oder Langeweile zu verfallen.