Bapogana

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Nach dem Ausritt nahm David die Einladung zum Tee mit dem Hinweis auf eine Verabredung nicht an. „Denk daran“, sagte Thomas beim Abschied, „übermorgen musst du pünktlich zur Audienz erscheinen.“

David beeilte sich, in der Stadt noch einige Besorgungen für ein romantisches Abendessen zu tätigen. Der Fahrer der Droschke, die er zu diesem Zweck mietete, konnte recht gut Englisch sprechen und ihm obendrein wertvolle Tipps geben, wo die von ihm gewünschten Lebensmittel erhältlich waren. Auf diese Weise konnte er sogar Champagner und Trockeneis zur Kühlung besorgen. Zu Hause arrangierte er einen festlich gedeckten Tisch, den er immer wieder umrundete, als er schon längst fertig gedeckt war, um sich zu vergewissern, dass er nichts vergessen hatte. Aber auch, um die Zeit totzuschlagen, bis Daila endlich kam. Mit ihrem Erscheinen ließ seine Aufregung schlagartig nach. Sie legte beim Betreten des Hauses das hübscheste Lächeln auf, das er je bei ihr gesehen hatte. Sie trug wieder einen Hut mit Schleier, beides nahm sie jedoch schon im Flur ab, sodass keine Krempe bei der Begrüßung störte. Als sie den kleinen Essraum betraten, gab sie sofort ein langgedehntes „ooh“ von sich. Zunächst blieb sie wie angewurzelt stehen, schüttelte dann den Kopf und meinte: „Das sieht ja fantastisch aus, David! Hast du das für uns beide vorbereitet?“ „Nein, für den Kaiser von China“, erwiderte er schmunzelnd, um sofort hinzuzufügen: „Natürlich, mein Liebling, für wen denn sonst? Darf ich die Dame bitten, Platz zu nehmen?“ Er hielt ihr galant den Stuhl, auf den sie sich setzte.

Während des Essens erzählte er von dem nachmittäglichen Ausritt und erwähnte dementsprechend auch den Termin für die Audienz bei der Nagadshi. „Sag mal Daila, als was fühlst du dich – als Britin oder als Bapo?“ „Als Bapo natürlich.“ Die Antwort kam prompt. „Würdest du dich gekränkt fühlen, wenn sich jemand der Nagadshi gegenüber nicht höflich genug benehmen würde?“ Sie überlegte eine Weile, bis sie erwiderte: „Ja, ich denke schon. Vor allem, wenn es mit Absicht oder aus Taktlosigkeit heraus geschehen würde.“ „Okay“, er atmete aus, bevor er weiter redete, „das heißt also, ich muss mir übermorgen sehr viel Mühe geben, nicht ins Fettnäpfchen zu treten.“ „Das schaffst du schon, Liebster, davon bin ich fest überzeugt.“ Plötzlich schien David eine glänzende Idee gekommen zu sein. „Tust du mir einen Gefallen, Daila?“ „Kommt darauf an, um was es sich handelt.“ „Wir beide könnten heute Abend die Audienz spielen. Du bist die Nagadshi und empfängst mich.“ „Nein!“ Die Antwort kam schnell und barsch. „Ich hasse solche Rollenspiele!“ David erschrak regelrecht, dann wurde ihm bewusst, mit seinem Vorschlag möglicherweise ein Sakrileg begangen zu haben. Dailas Mimik schien das zu bestätigen. Er ergriff ihre Hand. „Entschuldige, Liebste, das war eben sehr taktlos von mir. Ich vergaß, dass Ihre Hoheit, die Nagadshi, in eurem Land fast wie eine Heilige verehrt wird.“ „Sie ist keine Heilige“, widersprach Daila, allerdings wieder in normalem, sanftem Tonfall. „Sie ist ein Mensch wie du und ich. Aber lassen wir das Thema jetzt, einverstanden?“ David nickte und war froh, sie wieder bei guter Laune zu sehen. Außerdem war es ihm durchaus recht, im Verlauf dieses abends nicht mehr an die bevorstehende Audienz erinnert zu werden.

Daila verabschiedete sich wieder in den frühen Morgenstunden und David fragte nicht nach dem Grund. Sie teilte ihm dabei zu seinem großen Bedauern mit, dass sie ihn an diesem Abend nicht besuchen könne. Sie hatte sogar eine Begründung parat: „Meine Mutter empfängt Besuch und ist dabei auf meine Hilfe angewiesen. Aber ich rufe dich an.“

Den Vormittag verbrachte David mit Arbeit. Am Nachmittag suchte er noch einmal Thomas auf, um sich noch ein paar Tipps für die bevorstehende Audienz zu holen. Der Gouverneur verhielt sich in Davids Augen etwas merkwürdig bei seinem Besuch. Er war auffallend unkonzentriert und fahrig. Selbst auf die Gefahr hin, wieder etwas Unpassendes von sich zu geben, frage ihn David nach dem Grund. Doch der Gouverneur rückte nicht mit der Sprache heraus. Hing womöglich der Haussegen schief? David wagte es sogar, dies zur Sprache zu bringen, was Thomas aber vehement von sich schob. Dank Davids Hartnäckigkeit rückte der Lord aber schließlich doch noch mit dem Grund für seine Verstimmung heraus. „Hör zu, David, was ich dir jetzt erzähle wird dir wahrscheinlich nicht gefallen. Bitte denke deshalb daran, dass nicht der Überbringer einer schlechten Nachricht der Übeltäter ist.“ David wurde ganz mulmig zumute. Er vermutete, es hing mit der Audienz und seiner geplanten Expedition zusammen und war darauf gefasst, von Thomas jetzt eine Absage beider mitgeteilt zu bekommen. Aber das war weit gefehlt. „Ich habe mir erlaubt, meine Bekannten und Verwandten in Schottland zu bitten, mir Informationen über Lord Pherson zukommen zu lassen.“ „Wie bitte?“, fragte David fassungslos. „Was soll der Unfug?“ Thomas ließ sich nicht beirren. „Heute habe ich Nachricht bekommen. Im ganzen Empire gab und gibt es keinen Lord Pherson. Überhaupt niemanden mit diesem Namen, der je einen Fuß in das Land Bapogana gesetzt hat. Die angeblich verwitwete Lady Pherson heißt in Wirklichkeit mit Nachnamen Kotang und gehört einem verarmten Landadelsgeschlecht an. Obendrein ist sie offenbar von dieser Familie wegen ihrer unehelichen Tochter Daila Kotang verstoßen worden. Deine Angebetete könnte also eine Hochstaplerin sein, die sich durch entsprechende Kontakte Zugang zur besseren Gesellschaft verschaffen will.“

Beinahe wäre der Stuhl umgefallen, als David hektisch aufsprang und Thomas fast anbrüllte: „Hör auf, das ist der blanke Unsinn! Wer gibt dir eigentlich das Recht, in Dailas Leben herumzuwühlen?“ Der Gouverneur nahm sich Zeit, bis er antwortete. „Du bist ein Freund dieses Hauses geworden und daher kann es uns nicht gleichgültig sein, wenn du ins Verderben rennen könntest. Liebe macht bekanntlich blind. Außerdem ist es deinem Vorhaben bezüglich der Nemang-Schlucht nicht dienlich, sollte es bis zur Nagadshi vordringen, dass du einer Hochstaplerin aufgesessen bist.“ „Ach, du hast dein Urteil schon gefällt...“ „Nein, nein, David“, unterbrach ihn Thomas, „das stimmt nicht. Vielleicht hat Daila sich in dich verliebt und meint es ernst mit dir. Aber es fehlt an Ehrlichkeit. Du musst mit ihr reden, dir reinen Wein einschenken lassen.“ David setzte sich wieder hin. Für ihn war Daila keine Lügnerin oder Hochstaplerin. Wenn Thomas bezüglich ihrer Identität Recht hatte, musste sie im Moment Höllenqualen leiden. Am liebsten wäre er sofort zu ihr geeilt. Aber wie? Er wusste nicht einmal, wo sie wohnte und Thomas danach zu fragen war ihm im Moment nicht recht. Außerdem war er sich noch gar nicht im Klaren darüber, ob er sie überhaupt darauf ansprechen, oder lieber abwarten sollte, bis sie von selbst darauf zu sprechen kam. „David, ich verstehe, dass du im Moment total verwirrt bist. Denk´ in aller Ruhe darüber nach. Sprich mit Miss Daila, wenn du dich wieder einigermaßen gefangen hast. Wir, Mary und ich, bieten dir an, zu helfen, wo wir nur können.“ David wusste nicht, wie er seine Gefühle gegenüber Thomas einstufen sollte. Groll? Eventuell sogar Dankbarkeit? Stimmten die Informationen überhaupt oder war alles nur ein fataler Irrtum? War Thomas womöglich gar nicht der gute Freund, für den er sich ausgab? Er musste an die Worte denken, die der Gouverneur zu Beginn seiner Offenbarung aufgeführt hatte: „Bitte denke deshalb daran, dass nicht der Überbringer einer schlechten Nachricht der Übeltäter ist.“

Die Laune, mit der er die Villa verließ, hätte nicht noch weiter sinken können.

Als Daila am Abend anrief, war er bemüht, sich seine Betroffenheit nicht anmerken zu lassen. Aber so ganz schien es ihm nicht zu gelingen, denn sie fragte mehrmals besorgt nach, ob es ihm auch wirklich gut ging. Zum Schluss wünschte sie ihm alles Gute für die Audienz bei der Nagadshi am nächsten Morgen.

Seine Stimmung hatte sich keineswegs gebessert, als er sich auf den Weg zum Nagadsha-Palast machte. Diesen immens beeindruckenden Bau hatte er schon mehrmals von außen bewundert. Ohne Einladung war der Zugang für jedermann verwehrt. Palastwachen in mittelalterlich anmutenden Rüstungen flößten Respekt ein. David sprach eine derer an, die am riesigen Hauptportal postiert waren. Der Mann hörte Davids Anliegen zu und ging dann, ohne zu antworten, in den Palast. David wollte ihm folgen, wurde von den anderen Wachen aber umgehend daran gehindert, indem sie den Eingang mit ihren Lanzen versperrten. Es dauerte eine Weile, bis eine junge Frau erschien und ihn ansprach: „Sind Sie Mr. Shuttler?“ Als er das bejahte, bat sie ihn, ihr zu folgen. Beim Betreten der riesigen Eingangshalle wurde er fast von deren Prunk erschlagen. Sie hatte die Dimension eines Domes. Ornamente, Bögen, Skulpturen und farbenfrohe Mosaiken verzierten sie derart reichhaltig, dass David nicht wusste, was er zuerst bestaunen sollte. Während er der Frau folgte, hallten seine Schritte in dem ehrwürdigen Gemäuer. Alles wirkte hier, trotz der Schönheit, Respekt einflößend. Vor einer riesigen, von zwei Soldaten bewachten Tür blieben sie stehen. Erst jetzt stellte sich die junge Frau als Miss Leema und persönliche Sekretärin Ihrer Hoheit, der Nagadshi, vor. Sie war ausgesprochen hübsch, hatte aber bisher keinen einzigen Anflug eines Lächelns gezeigt. „Sie wissen, wie Sie sich zu verhalten haben, Mr. Shuttler?“ „Ja, ich hoffe.“ Ihr Blick zeigte leichte Missbilligung. Sie wies die Wachen an, die Tür zu öffnen und bat David erneut, ihr zu folgen. Der Raum, den sie jetzt betraten, stand in Ausstattung und Schönheit der Halle um nichts nach. Im Gegenteil, durch eine geschmackvolle Möblierung wirkte er noch prunkvoller. Den Mittelpunkt bildete ein riesiger, aufwendig verzierter Schreibtisch, dahinter eine Art Thronsessel. Vor dem majestätischen Möbelstück stand ein relativ bescheidener Stuhl, offenbar für den Besucher gedacht. Die Raumhöhe war zwar nicht mit der der Halle zu vergleichen, aber immer noch sehr eindrucksvoll.

 

„Bitte warten Sie“, forderte ihn Miss Leema auf und verschwand dann hinter einer der zahlreichen Türen am anderen Ende des Raumes. Eine Palastwache postierte sich an der Innenseite des Eingangs. Es herrschte absolute Stille. Als David sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte, kam ihm das dabei auftretende, leichte Knarren des Parkettbodens wie ein Pistolenschuss vor. Er wartete circa fünf Minuten, die ihm endlos lang vor kamen, bis Miss Leema wieder erschien und laut und deutlich verkündete: „Ihre Hoheit, die Nagadshi.“ Sie folgte Miss Leema mit wahrhaft majestätischem Schritt, würdevoll und Respekt einflößend. Sie war in eine mit reichlich goldenen Ornamenten verzierte Toga gehüllt, auf dem Kopf trug sie eine Art Turban, der auch ihr Gesicht bis auf einen Sehschlitz bedeckte. David verbeugte sich tief und verharrte in dieser Stellung. Er hörte das Rauschen ihres Gewandes, als sie sich auf den Thronsessel setzte. Dann vernahm er ein Flüstern in einer ihm nicht verständlichen Sprache, offenbar Ganasi, der Landessprache. Miss Leema übersetze laut ins Englische: „Ihre Hoheit bittet Sie, Platz zu nehmen.“ Während er sich auf den Stuhl setzte, schaute er der Nagadshi in die Augen, senkte aber sofort den Blick, wie Thomas ihm geraten hatte. Während der gesamten Audienz wiederholte sich derselbe Ritus, die Nagadshi flüsterte Leema auf Ganasi ihre Worte zu, die diese dann ins Englische übersetzte. „Ihre Hoheit bittet Sie, Ihr Anliegen vorzutragen.“ David folgte der Aufforderung mit kurzen, knappen Sätzen. Er hatte seinen Ordner mitgebracht und bat, ihn Ihrer Hoheit auf den Schreibtisch legen zu dürfen. Dem wurde stattgegeben. Die Nagadshi durchblätterte ein paar Seiten gelangweilt und wies dann Leema an, das Schriftstück Mr. Shuttler wieder auszuhändigen. „Ihre Hoheit möchte wissen, was die Motivation für diese Expedition ist.“ „Jetzt kommt der entscheidende Moment“, dachte David. Er hatte sich diese Sätze mehrfach Zuhause aufgesagt. „Ich weiß, dass die Nemang-Schlucht ein heiliger Ort ist, wo viele Geister und Götter Bapoganas residieren. Ich werde alles unternehmen, um dieser Tatsache Rechnung zu tragen und ihre Ruhe nicht zu stören. Meiner Meinung nach wäre es aber für die Menschen in diesem Land, natürlich auch für den Rest der Welt, von allergrößtem Interesse, mehr über diesen heiligen Ort zu erfahren, seine Flüsse, Berge, Wasserfälle und seine Fauna und Flora.“ Die Nagadshi antwortete zunächst nicht. Es dauerte Sekunden, bis sie Leema etwas zuflüsterte. „Ihre Hoheit wird den Antrag prüfen.“ Wieder herrschte ein paar Sekunden absolute Stille, diesmal war es David, der sie brach.

„Ich habe aber noch ein weiteres Anliegen.“ „Ihre Hoheit bittet, auch dieses vorzutragen.“ „Ich wäre Eurer Hoheit sehr ergeben, der Teilnahme einer Frau an dieser Expedition zuzustimmen.“ „Ihre Hoheit weist darauf hin, dass das nicht üblich ist und möchte gleichzeitig den Grund für dieses Anliegen wissen.“ „Die Dame ist sehr an diesem Unternehmen interessiert.“ „Das ist in den Augen Ihrer Hoheit keine ausreichende Begründung. Wer ist diese Person?“ Miss Leema sprach die letzten Worte deutlich verächtlich aus, was Verärgerung in ihm aufkeimen ließ. Er hegte den Verdacht, die Nagadshi habe in ihrer Sprache eine drastischere Formulierung gewählt. „Diese Person, Eure Hoheit, ist eine Dame.“ „Mr. Shuttler, Sie haben die Frage Ihrer Hoheit nicht ausreichend beantwortet.“ „Um ehrlich zu sein, Eure Hoheit, es handelt sich um die Dame meines Herzens, ich liebe sie.“ David hatte den Eindruck, die neben dem Thronsessel stehende Miss Leema geriete ins Schwanken, ihrer Mimik war die Entrüstung deutlich anzusehen. Der Nagadshi hingegen war keinerlei Regung anzumerken. „Ihre Hoheit möchte wissen, ob diese Frau eine Bapo oder eine Ausländerin ist.“ „Eine Bapo, Eure Hoheit.“ „Ihre Hoheit will den Namen der Frau wissen.“ „Wozu? Hat sie etwa mit Konsequenzen zu rechnen?“ Diesmal wartete Miss Leema gar nicht erst die Worte ihrer Herrin ab, sondern antwortete direkt in scharfem Tonfall: „Ihre Hoheit, die Nagadshi, ist es nicht gewohnt, Fragen gestellt zu bekommen, Ihre Hoheit stellt die Fragen.“ „Und Ihre Hoheit ist es sicherlich auch nicht gewohnt, dass jemand anderes ihr Wort vorweg nimmt; Ihre Hoheit will sicherlich ihre Meinung selbst formulieren“, erwiderte David verärgert. Er sah seine Felle sowieso schon davon schwimmen, wozu sollte er sich dann noch zurückhalten. Es herrschte eisige Stille, dann flüsterte die Nagadshi Miss Leema wieder etwas zu. „Ihre Hoheit fragt, ob Mr. Shuttler dabei bleibt, den Namen nicht zu nennen.“ „So ist es, ich bitte Ihre Hoheit um Entschuldigung, aber ich sehe keine andere Möglichkeit.“ „Ihre Hoheit wird das Anliegen bezüglich der Expedition prüfen. Sie gibt Ihnen daher zur Mitteilung der Entscheidung morgen zu derselben Zeit eine weitere Audienz.“

Kaum hatte Leema das letzte Wort gesprochen, erhob sich die Nagadshi, um den Raum zu verlassen. David verbeugte sich sofort tief, obwohl er überlegte, dass er sich das nach diesem Eklat auch hätte sparen können. Miss Leema führte ihn aus dem Raum und dem Palast, ohne ein Sterbenswörtchen mit ihm zu reden. Selbst zum Abschied nickte sie nur andeutungsweise.

Den Bauch voller Wut, aber auch Niedergeschlagenheit, suchte er sich eine Droschke und fuhr nach Hause. Den Ordner mit seinen mühsam gesammelten Informationen über die Nemang-Schlucht warf er achtlos auf seinen Schreibtisch; brauchen würde er ihn wohl kaum mehr. Zu allem Überfluss rief Daila am Abend an, um ihm mitzuteilen, dass sie verhindert sei und daher nicht kommen könne. Viel schlimmer war aber ihre äußerst geheimnisvolle und wenig ermutigende Zusatzbemerkung: „Ich muss dir in den nächsten Tagen etwas mitteilen, Liebster; etwas, das meine Person betrifft. Danach kannst du entscheiden, ob du an weiteren Treffen mit mir interessiert bist.“ Ihre Stimme klang, soweit man das bei der schlechten Verbindung überhaupt beurteilen konnte, melancholisch. Bevor David antworten und sie anflehen konnte, doch noch heute zu kommen, brach die Verbindung ab. Seit dem Vormittag verabschiedete sich seine heile Welt Stück für Stück. Er überlegte, ob er zu den Mc Brides fahren sollte, entschied sich aber dann fürs alleine bleiben an diesem scheußlichen Tag.

Als er am nächsten Tag aufwachte, brummte sein Schädel, als ob er am Abend zuvor jede Menge Champagner genossen hätte. Offenbar erzielten Misserfolge und schlechte Nachrichten denselben Effekt. David überlegte, ob er sich die Mühe machen sollte, die Audienz bei der Nagadshi wahrzunehmen. Ihm erschien das völlig sinnlos. Aber dann kam ihm der Gedanke, Thomas könne durch sein Fernbleiben Schwierigkeiten bekommen, womöglich würden dadurch sogar diplomatische Unstimmigkeiten ausgelöst. Diese Betrachtungsweise führte zu seiner Entscheidung, den Palast aufzusuchen. Dort spielte sich alles so ab wie am Vortag. Als Miss Leema ihn am Hauptportal abholte, machte sie in Mimik und Gestik keinen Hehl aus ihrer Verachtung gegenüber David; auf eine sprachliche Kommunikation mit ihm verzichtete sie sowieso. Er wurde wieder in den ihm inzwischen bekannten Empfangsraum geführt, wo er geduldig wartete, diesmal jedoch erheblich länger. David stand sich fast die Beine in den Bauch. Deshalb überlegte er, ob er im Raum auf und ab gehen dürfte. Mit Blick auf den Wachtposten, der regungslos an der Tür stand, wagte er ein paar Schritte. Da der Mann nicht reagierte, fuhr er damit fort, bis Miss Leema wieder erschien. „Ihre Hoheit, die Nagadshi.“ David beeilte sich, an seinen alten Platz zurückzukehren, als die Nagadshi schon den Raum betrat. Noch im Gehen verbeugte sich David, hätte dabei fast das Gleichgewicht verloren und gab ein belustigendes Bild von sich. Er glaubte, hinter der Turban-Vermummung der Nagadshi ein leises Kichern zu hören. „Ihre Hoheit bittet Sie, Platz zu nehmen.“ Als dies geschehen war, flüsterte Ihre Hoheit Miss Leema etwas zu, doch diese übersetzte es nicht sofort, sondern blickte die Monarchin erstaunt an. Doch die Nagadshi reagierte nicht, worauf Leema das Wort ergriff: „Ihre Hoheit genehmigt die Expedition.“ David glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, mit dieser Wende hatte er nicht gerechnet, zumal die Nagadshi so gut wie keine Informationen über das Unternehmen vorliegen hatte. Der Ordner war bei ihr am Vortag auf völliges Desinteresse gestoßen.

Ermutigt durch den positiven Bescheid wagte David noch einmal einen Vorstoß: „Ich hatte noch ein anderes Anliegen, Eure Hoheit, wie steht es damit?“ Miss Leema wollte offenbar zu einer Rüge ansetzen, aber die Nagadshi ließ sie mit einer Armbewegung innehalten und flüsterte ihr wieder etwas zu. „Ihre Hoheit fordert Sie auf, den Namen dieser Person zu nennen.“ „Inzwischen weiß ich ihn selbst nicht mehr.“ Erneutes Flüstern. Miss Leema schien ziemlich verwirrt zu sein: „Die Palast... äh, Ihre Hoheit wünscht, dass die Palastwache den Raum verlässt.“ Der Befehl wurde umgehend ausgeführt. „Ihre Hoheit bittet Mr. Shuttler um einen Moment Geduld.“ Die Nagadshi erhob sich, worauf auch David sofort aufstand und sich verbeugte, bis sie mit Leema den Raum verlassen hatte. „Dieses Palast-Zeremoniell wird mir für immer ein Rätsel bleiben“, murmelte er vor sich hin, „ich hoffe, heute das letzte Mal hier gewesen zu sein.“ In genau diesem Moment betrat die Nagadshi, so meinte er jedenfalls, den Raum; sie hätte das zuletzt gesagte noch hören können. David verbeugte sich umgehend. „Ich bitte, die Verbeugung zu beenden.“ Er richtete sich ruckartig auf und starrte sein Gegenüber fassungslos an. „Was machst denn du hier, bist du völlig übergeschnappt?“ Daila lächelte ihn melancholisch an. „Ja, du hast Recht; ich bin völlig übergeschnappt.“ Er konnte sich überhaupt keinen Reim darauf machen, zu seiner Verwirrung trug Daila dieselbe Tunika wie die Nagadshi, nur der Turban fehlte, sodass die schwarzen Haare über ihre Schultern fielen. „Ihre Hoheit, die Nagadshi, kann dein zweites Anliegen nicht genehmigen. Eine Miss Pherson gibt es nicht, sie existiert nur auf gesellschaftlichen Empfängen. Lord Pherson hat nie gelebt.“

David wurde schwindelig und wankte zum Besucherstuhl, auf den er sich fast fallen ließ. „Ich dachte“, fuhr Daila fort, „ich würde die beiden Audienzen unbeschadet durchstehen und dir danach die Wahrheit auftischen. Aber da habe ich mich gründlich geirrt. Mein ganzes Leben ist zu einem Irrtum geworden, seit ich dich kenne. Miss Daila Pherson ist der Name für einen gelegentlichen Ausbruch aus dem goldenen Käfig. Sie darf unbehelligt in die Stadt gehen, Schaufenster betrachten, Einkaufen; kurz, sie darf all das machen, was der Nagadshi versagt ist. Nur eines hätte Miss Pherson nicht tun dürfen: sich verlieben. Die Einladung der Mc Brides kam überraschend, ebenso wie deine Anwesenheit. Warum bist du kein arroganter, ekelhafter Typ, sondern der netteste und liebste Mensch, dem ich je begegnet bin? Noch nie hat mich jemand so liebevoll behandelt wie du. Du hast mich nicht hofiert, schleimige Bemerkungen fallen lassen. Bei dir war ich ich und nicht die als heilig eingestufte Nagadshi. Als Dank habe ich dich belogen und getäuscht...“ Weiter kam sie nicht, weil ihre Stimme erstickte. David stand auf, ging zu ihr und nahm sie in die Arme. „Ich liebe dich auch, Daila“, flüsterte er, „aber wie soll es mit uns weiter gehen?“ „Ich weiß es auch nicht, Liebster; doch es muss einen Weg geben. Ich musste in meinem bisherigen, kurzen Leben auf so viel verzichten, bei dir bin ich nicht bereit dazu.“

Sie standen eine Weile eng umschlungen da. „Weiß irgendjemand von unserer Beziehung?“, wollte David schließlich wissen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein David, das ist ein Geheimnis nur zwischen uns beiden.“ „Wie lange können wir es noch hüten?“ „Wie soll ich dir diese Frage beantworten? Ich habe keine Ahnung.“ „Wir sollten es nicht preis geben, bevor wir einen Weg gefunden haben, unsere gemeinsame Zukunft zu planen.“ Sie schob sich ein wenig zurück und schaute ihn lächelnd an, wobei ihre Augen mit Tränen gefüllt waren. „Du willst also bei mir bleiben?“ „Natürlich, Eure Hoheit. Hattest du je daran gezweifelt?“ „Nein, spätestens, als du dich standhaft geweigert hast, der Nagadshi den Namen von Miss Pherson zu nennen, um sie zu schützen, wusste ich, wie sehr du mich tatsächlich liebst. Bist du dir aber dessen bewusst, dass wir das formelle Ritual zwischen der Nagadshi und Mr. Shuttler beibehalten müssen, wenn eine dritte Person anwesend ist?“ David seufzte bei diesem Hinweis. „Meinst du, das durchstehen zu können, David?“ „Ja, ich würde sogar die Nemang-Schlucht barfuß durchqueren, um dich zu behalten.“ Daila schmunzelte bei ihrer Antwort. „Gut, dann werde ich für die öffentliche Bekanntmachung der Genehmigung der Nemang-Expedition schreiben, dass daran die Bedingung geknüpft ist, ein gewisser Mr. Shuttler müsse dabei auf jegliches Schuhwerk verzichten.“ „Meinetwegen. Dann komme ich mir vor wie im Märchen. Der Held hat eine schwierige, fast unlösbare Aufgabe zu bewältigen, um die schöne Prinzessin zu erobern.“

 

Durch die alberne Scherzerei fiel ein wenig von der Spannung ab. Daila löste sich aus der Umarmung und setzte sich auf den Thronsessel. „Es tut mir leid, eine schlechte Gastgeberin zu sein. Bei einer Audienz ist es nicht üblich, etwas zum Verzehr anzubieten, nicht einmal Tee und Schmalzbrote.“ „Das macht nichts“, erwiderte David lächelnd, „ich verlasse jetzt den Palast und begebe mich zu der Herberge, wo ich neulich mit Miss Pherson zu Mittag gegessen habe. Vielleicht habe ich Glück und treffe die junge Dame dort an.“ Daila überlegte, wie sie sich entscheiden sollte. „Eigentlich wollte ich Miss Pherson sterben lassen. Aber heute darf sie noch einmal ein Rendezvous mit Mr. Shuttler haben.“ „Bitte lass Miss Pherson nicht sterben, Daila. Die Nagadshi kann Mr. Shuttler schlecht offiziell zuhause besuchen. Aber ich möchte, dass diese Treffen beibehalten werden.“ Sie erwiderte schmunzelnd: „Das ist verständlich; also gut, lassen wir Miss Pherson vorerst am Leben.“ David ging zu ihr, beugte sich hinunter und küsste sie. „Bis nachher“, sagte er dann und wandte sich zum gehen. „Halt, David, so funktioniert das nicht. Du darfst dich nicht alleine im Palast bewegen. Ich werde Leema rufen. Bitte setz dich hin.“ David verzog den Mund. „Kannst du mich nicht nach draußen begleiten?“ „Bist du so naiv oder tust du nur so?“ Er folgte ihrer Forderung und nahm auf dem Besucherstuhl Platz, während Daila an einer der neben dem Thronsessel herabhängenden Seilzüge zog, worauf ziemlich rasch Miss Leema erschien und sich vor Daila verbeugte: „Eure Hoheit wünschen mich zu sprechen?“ „Die Audienz ist beendet.“ Mit diesen Worten stand die Nagadshi auf. David blieb jedoch gedankenverloren sitzen. Sie schaute ihn mit strengem Blick an. Da bemerkte er seinen Fehler schlagartig, sprang mit einem Satz auf und verbeugte sich. Es hätte ihn gereizt, die Frage zu stellen: „Ist es so richtig, mein Liebling?“ Daila verließ den Raum und Leema führte Mr. Shuttler aus dem Palast. Ihrem wortlosem Verhalten nach zu urteilen, war ihre Verachtung ihm gegenüber noch weiter gestiegen. Im Gegensatz zum letzten Mal ärgerte er sich nicht darüber; im Gegenteil, es amüsierte ihn jetzt sogar ein wenig.

Draußen hielt er eine Droschke an und fuhr in die Stadt. Dort vertrieb er sich die Zeit in einem Kaffeehaus mit einer der ausliegenden Tageszeitung. Gegen Mittag schlenderte er in Richtung Herberge, als ihm jemand plötzlich von hinten auf die Schulter klopfte. „Hallo, Mr. Shuttler.“ Er drehte sich lächelnd um. „Hallo, Miss Pherson. Wie reizend Sie heute wieder aussehen.“ Daila trug dasselbe Kleid und denselben Hut mit Schleier, wie bei ihrer ersten Begegnung, als sie ihn so kühl abblitzen ließ. „Darf ich mich bei Ihnen unterhaken, Mr. Shuttler?“ „Ich bitte darum, Miss Pherson.“ Er hielt ihr seinen Arm hin, den sie sogleich ergriff. Dann setzten sie langsam ihren Weg fort. „Ich bin immer noch ziemlich verwirrt, Daila. Du musst mir noch vieles erklären. Zum Beispiel, wie du unbemerkt aus dem Palast verschwinden und ebenso wieder zurückkehren kannst.“ Er war bemüht, so leise wie möglich zu reden, obwohl das in dem Straßengewirr gar nicht nötig war; bei dem Lärm hätte niemand etwas von ihrer Unterhaltung verstehen können. „Das ist überhaupt kein Problem. Im Palast gibt es genügend geheime Wege, die nicht einmal die Palastwachen kennen. Diese verschlungenen Pfade waren meine Kinderspielplätze.“ „Du hattest sicherlich eine einsame Kindheit.“ „Das kann ich nicht behaupten. Manchmal empfand ich es sogar als zu viel Begleitung; Palastwachen, Kindermädchen, Diener und so weiter. Da waren mir die geheimen Wege Willkommen, wo ich mich verstecken konnte.“ „Gab es denn keinen riesen Aufruhr, wenn die Prinzessin plötzlich verschwunden war?“

„Natürlich“, Daila lachte so, als ob sie sich heute noch darüber freute, wie sie ihre Begleiter und Bewacher genarrt hatte. „Doch allzu lange blieb ich nicht unentdeckt. Mein Vater ist ja schließlich auch in diesem Palast aufgewachsen und kennt die Verstecke.“ „Der Nagadsha hat höchst persönlich nach dir gesucht?“ Sie blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihm um: „Jeder glaubt, die Nagadshi sei elternlos aufgewachsen. Warum? Meine Mutter liebte und mein Vater liebt mich genau so, wie die meisten anderen Eltern auf der Erde; sie machten sich dieselben Gedanken, wenn ich Unfug beging oder krank war. Wenn ich fiebernd im Bett lag, wischte mir meine Mutter die Stirn kalt ab, wie es Millionen von Müttern in der ganzen Welt machen.“ Ihre Stimme klang ärgerlich, trotzig. „Entschuldige, Daila“, erwiderte David kleinlaut, „aber woher soll ich das wissen? Mir hat noch nie jemand etwas über die Kindheit der Nagadshi aus erster Quelle erzählt.“ Das Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück. „Du hast ja recht, Liebster. Ich war wohl eben etwas zu streng mit dir.“ Schmunzelnd fragte er nach: „Mit wie viel Strenge muss ich denn von der Nagadshi rechnen?“ Auch sie musste jetzt schmunzeln: „Du Fiesling, leg nicht ab jetzt jedes Wort auf die Goldwaage. Die Nagadshi wird dir deine Grenzen schon klar machen. Miss Pherson wird es nicht tun, solange sie lebt.“ Sie setzten ihren Weg fort.

In der Herberge herrschte wie immer reger Betrieb und sie erhaschten einen der letzten Tische, an denen man ungestört reden konnte. „Wenn es keine andere Möglichkeit für eine gemeinsame Zukunft gibt“, meinte David, nachdem sie Platz genommen hatten, „würde ich Miss Pherson auch weiterhin am Leben lassen.“ „Es muss aber eine andere Lösung geben. Meiner Meinung nach sollte Miss Pherson sterben.“ Die Bedienung war unbemerkt am Tisch erschienen und schaute Daila entgeistert an. Der Mann hatte offenbar ihre Worte mitbekommen. Erst jetzt bemerkten die beiden seine Anwesenheit. „Wa... wa... was wün... wünschen die Herr... Herrschaften?“ Er musste Daila wohl jetzt für eine eiskalte potenzielle Mörderin halten. Sie hatte große Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken. Die beiden gaben ihre Bestellung auf und die Bedienung verschwand wieder. „Wer übt in diesem Land die Jurisdiktion aus?“, fragte David schmunzelnd. „Wir haben unabhängige Gerichte. Bei jeder hohen Zuchthausstrafe muss allerdings die Nagadshi ihr Plazit zur Vollstreckung erteilen.“ „Gott sei Dank, ich habe nämlich keine Lust, den Rest des Lebens wegen Mordkomplotts in einem Gefängnis zu schmoren.“ Daila beugte sich lächelnd vor und stütze ihr Kinn mit beiden Fäusten ab. „Du setzt also voraus, die Nagadshi würde in deinem Fall das Urteil annullieren?“ David runzelte die Stirn: „Würde sie nicht?“ „Nein, würde sie nicht. Das ist vielleicht die rettende Idee. Die Nagadshi könnte anordnen, deine Haft in ihren Privatgemächern zu vollstrecken.“ „Gut, damit wäre ich einverstanden.“ Das darauf folgende Lachen blieb ihnen aber ganz schnell im Hals stecken, denn plötzlich standen zwei bapoganische Polizisten an ihrem Tisch. „Dürften wir bitte Ihre Ausweise kontrollieren?“ Jetzt wurde es David doch recht mulmig zumute. Er hatte vom Gouverneur einen britischen Diplomatenpass erhalten, den er nun den Polizisten zeigte. „Kann sich die Lady auch ausweisen?“ „Nein, kann sie nicht“, erwiderte Daila in äußerst scharfem Tonfall. David spürte, dass sie der Situation nicht gewachsen war.