Menschenversuch

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ALPHAS GÖTTERTRAUM

Göttliche Träume unterscheiden sich von denen der Menschen. Menschen befreien sich durch Träume von der Realität, geben dem unterdrückten Unterbewussten Spielraum, sich auszutoben, damit es nicht verrückt spielt und zu stark in das Ich eingreift. Träume von Menschen spiegeln nicht die Realität wider, sondern sind die bizarre Schattenwelt des Erlebten, der Hades in dem die Triebe verbannt vegetieren.

Göttliche Träume sind die zweite Wirklichkeit, die Kopie des Seins, und sie verlaufen in alle Zeitrichtungen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind eins im Traum der Götter. Es bedarf nur eines göttlichen Gedankens und Träume sind Realität oder Wirklichkeit mutiert zum Traum. Göttliche Träume verbrauchen soviel Energie wie ein realer Schöpfungsakt. Nur im Traum oder in der Ekstase sind die Menschen den Göttern nahe, vereinigen sich göttliche und menschliche Gedanken.

Alpha war in einen abgrundtiefen Schlaf versunken. Ihr Geist verlangte nach Ruhe, ließ keine schöpferischen Träume zu. Auch der leblose Planet schlief, vom göttlichen Geist umhüllt. Noch waren die Elemente nicht vom Hauch des Lebens infiziert. Irgendwann regte sich dann Alphas Geist wieder. Zuerst träumte sie von ihrer Liebe und deren Verlust, von den Jahren der Mühe. Inspiriert von dem wärmenden Planeten tauchten neue Bilder auf, setzten sich Stück um Stück zusammen. Alphas Traumkraft nahm langsam von dem Planeten Besitz. Die tosenden Elemente auf der Oberfläche, die aus den Explosionswolken einer Supernova kondensiert waren, hatten sich beruhigt. Sie träumte die von ihr einst geschaffenen Gesetze der Biologie, Chemie und Physik. Und dann entwich ihr ein undurchdachter Gedanke. So zündete sie die Biogenese, die Flamme des Lebens, ohne die Folgen zu erkennen.

Sie erwachte kurz. Zum ersten Mal fielen ihr die Widersprüche in sich selbst auf. Sie hatte all dies ausgedacht, konserviert, und war gleichermaßen nie bereit gewesen, ihrer Schöpfung freien Lauf zu gönnen. Wozu hatte sie das Theoriegebäude geschaffen? Nur für sich selbst? Ihre Zweifel verflogen wieder. Ihr Traum holte sie ein. Sie sah noch einmal dieser ungeheuren Entwicklung zu. Aus dem unkontrollierten chemischen Rauschen des Urozeans, der Ursuppe, umgeben von stinkender Urathmosphäre aus Wasserstoff, Methan, Ammoniak, Schwefelwasserstoff, Kohlendioxid und ein wenig Sauerstoff, erwuchsen die Urzellen, danach die Vielzeller und Kleinstlebewesen. Physik vermählte sich mit Chemie und Biologie, entwickelte die Pflanzen und Tiergattungen und letztendlich den Menschen.

Diese zweibeinigen Wesen hatten sich, mit einem Urinstinkt und mit Bewusstsein ausgestattet, aufgebäumt und über die Natur gestellt. Sie gründeten Stämme und Staaten, entdeckten Naturgesetze für ihren Eigenbedarf und wandten sie an. Große Philosophen, Priester, Krieger, Wissenschaftler und Künstler kamen und gingen. Auf allen Kontinenten brodelte der menschliche Geist. Sumerer und Hebräer, Ägypter und Hunnen, Minoer und Mykener, Römer und Franken, Inkas und Azteken, Chinesen und andere Völker entwickelten Musik und Architektur, Malerei und Bildhauerei, Schauspiel und die Schrift. Aber sie erfanden auch Krieg aller Art und immer wirksamere Vernichtungsstrategien. Kulturen eroberten den Planeten und verfielen in Hinterhöfen menschlichen Unvermögens.

Wissenschaftler forschten nach Alphas Gesetzen, entzifferten Geheimnisse und verkauften sie an die Mächtigen. Stammesfürsten wurden durch Könige, Könige durch Kaiser, Kaiser durch Präsidenten, Präsidenten durch Diktatoren abgelöst, Freude und Leid für viele Menschen im Schlepptau ihrer Existenz. Ultrareiche Staaten herrschten über arme. Die Menschen beuteten die Schätze der Natur mehr und mehr aus, setzten sich über das Leben, die Natur hinweg, verseuchten Luft, Erde, Flüsse und Meere.

Und sie beteten zu allen Zeiten Götter an und gaben ihnen Namen. Alphas Geist musste über die Mühe menschlicher Erfindungsskünste lächeln. Sie erdachten Sonnengötter und Unterweltgötter, angsteinflößende, liebevolle, kämpferische oder meditierende Götter, Technikfetische und Naturgötter. Von allen Religionen, die sich die Menschen selbst verschrieben, war ihr die Verehrung der Naturgötter am sympathischsten. Sie mussten erkannt haben, dass Alpha zu allen Zeiten und Formen in der Natur zu finden war. Deshalb war sie auch zunehmend erbost, wie verantwortungslos diese Menschen mit ihrer Schöpfung umgingen, wie ungerecht die Schätze des Planeten verteilt waren und wie ehrfurchtslos sich die Menschen dem Göttlichen gegenüber verhielten. Haben dominierte die Erde, nicht Sein.

Beim erneuten Erwachen beeindruckten Alpha die bunten Bilder des Lebens auf der Erde, diese unendliche Mühe der Menschen, sich über Natur und Mitmenschen zu erheben, aber auch ihre geistige, wissenschaftliche und künstlerische Kreativität und Potenz. Wohltätige Menschen hatte sie geträumt, aber auch Ausgeburten der Destruktion. Alpha versuchte den Traum abzuschütteln, doch das gelang ihr nicht. Immer wieder tauchten Fetzen des Geträumten in ihr auf, Helden wie Odysseus oder Erleuchtete wie Buddha, Herrschsüchtige wie Hitler und Demütige wie Jesus kamen ihr in den Sinn, die Vielfalt der Pflanzen- und Tierwelt zog sie in Bann.

Gleichzeitig erwachte ihr alter Drang, das Universum zu bändigen, ihre große Liebe erneut in jenem Urpunkt zu vereinigen. Hin- und hergerissen pendelte ihr Geist zwischen Zukunft und Vergangenheit, unschlüssig, sich zu entscheiden. Ihre Liebessehnsucht brannte, aber sie konnte den Traum nicht einfach vergessen. Für die Zeit, die sie brauchte, das Universum wieder auf sich zurückzuführen, wollte sie eine neue Schöpfung hinterlassen. Das war ihr göttlicher Kompromiss zwischen schwer erlernten Gefühlen und realem Sein. Sie erinnerte sich, griff in die Zeit und wählte vier Traumfiguren, die sie für geeignet hielt, ihre Neugier nach Leben zu befriedigen und die ihr den Sinn des Lebens offenbaren sollten.

Zunächst entschied sie sich für einen schillernden Lachs, im Wasser der Bergwälder geboren und in der Weite des Meeres aufgewachsen; dann für einen tausendjährigen Baumriesen aus dem Regenwald, an dessen Rinde ein rot aufgesprühtes Kreuz sein nahes Ende markierte. Es folgte eine Rebellin, die ihr Leben lang gegen Unterdrückung und Armut kämpfte. Sie wählte einen Manager eines Atomkonzerns, dessen einzige Aufgabe das illegale Verschieben von Atommüll zu sein schien, aus. Schließlich entnahm sie eine Bäuerin und einen Arbeiter aus dem bewegten Leben eines Autors, der fast verzweifelt auf den Spuren von Skandalen dieser Erde recherchierte.

Ungeübt im Umgang mit dieser Menschen-, Tier- und Pflanzenwelt hatte Alpha das Gefühl, die richtige Auswahl getroffen zu haben. Sie löste diese Wesen aus ihrem Traum und versank in der Betrachtung der Lebensläufe, denen sie ihre besonderen Namen gab: Baumhaus für den uralten Baum, Anna als Rebellin, Atomfuchs für den Manager. Das Schicksal des Lachses nannte sie schließlich Lachsprobe, das des Arbeiters Tauschwert und das der Bäuerin Leibeigene.

II GÖTTERBILDER – ALPHAS WAHL

BAUMHAUS

Von der Stunde an, in der ich als Samen auf die Erde fiel, hatte ich nur ein Ziel: diesen Platz nie mehr zu verlassen. Deshalb strecke ich mich nicht nur der Sonne entgegen, sondern bohre mich gleichzeitig in die Finsternis. Ich bin ein Lebewesen dessen Bewusstsein zwischen hell und dunkel pendelt aber aus beidem Kraft schöpft. Meine Blätter sind süchtig nach Licht, meine Wurzeln aber lechzen nach nasser Dunkelheit, fürchten die Sonne. Ich klammere mich an das Stück Erde, zugleich wächst in mir die Angst, meinen Boden zu verlieren. Ich liebe zwar den Wind, wenn er mir voll fremder Botschaften durch die Krone streicht, aber ich hasse den Sturm, der mich entwurzeln könnte. Ich ruhe fest und verschlossen in mir und öffne doch täglich meine Krone dem Licht. Mein Horizont wächst von Jahr zu Jahr, bleibt aber endlich. Wenn der Himmel das Dach dieser Welt ist, so bin ich ein schützendes Haus auf der Erde.

An mir sind Jahrhunderte vorbeigezogen wie Zugvögel über Niemandsland. Die einzelnen Tage sind nur winzige Zeitpünktchen in meiner Geschichte; ich fühle in Jahren und Jahrzehnten. Unzählige Generationen von Lebewesen haben sich von mir ernährt, unter mir Schutz gesucht oder sich in meinem Schatten geliebt. Niemals überkamen mich Zweifel über den Sinn meiner Existenz.

Mein bester Freund ist der warme Regen, der seit Anbeginn auf mich niederfällt. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass er eines Tages ausbliebe. Das wäre das Ende.

Seit wenigen Wochen trage ich ein rotes Kreuz auf meiner Rinde. Es beunruhigt mich, brennt auf meiner Baumhaut. Rauhe Zweibeiner tauchten eines Morgens vor mir auf, hieben sich hemmungslos einen Pfad durch den Dschungel. Sie schrien laut miteinander und lachten verächtlich, bevor sie die Farbe auftrugen. Mich stört nicht das Symbol, denn ich bin aufgewachsen unter dem Kreuz des Südens, das mir manchmal leuchtet wenn die Wolkendecke für wenige Stunden aufreißt und den Nachthimmel freigibt. Nein: es war die brutale Art, mit der sie in unser Reich eindrangen, die mich stört. Ich fürchtete, sie sind nur Vorboten von Schlimmerem.

Aber lass dir erzählen von meinen ersten Tagen an: Ich stamme aus der Frucht eines Limba, der vergangen ist. Ich bin einer der wenigen Bäume des Regenwaldes, die ihren Ursprung auf eine bestimmte Samenmutter zurückführen können. In den meisten Fällen entwickeln sich die Bäume aus Samen, die Vögel oder Fledermäuse mit ihrem Kot frei geben. Mein Samenkorn aber fiel aus der Krone einer Baumriesin hinab zwischen Rinde und Stamm eines absterbenden Baumes. So entging ich dem Tod vieler Samenkörner, die von kleinen Nagetieren zerbissen werden, bevor sie Wurzeln schlagen können. In der immerfeuchten Welt unseres Waldes spaltete sich mein Korn schon nach wenigen Stunden. Ich keimte, streckte die noch weichen Triebe nach dem Licht, das in den Spalt eindrang, und suchte gleichzeitig mit dem ersten Wurzeltrieb im Moos Halt, das sich wie ein dichter Teppich über das morsche Holz ausgebreitet hatte. Ein Regenguss schwemmte mich noch tiefer in den Ritz bis ich Humus spürte. Ich aktivierte alle Kraft, die noch in meinem Keim steckte, nur um zu wurzeln und suchte zwischen Granit und Gneisen meinen Weg in die Tiefe. Erst dann, mit der Energie, die ich aus dem Boden ziehen konnte, begann ich, nach oben zu streben. Das alles ereignete sich vor fast tausend Jahren aber mir ist es so gegenwärtig geblieben wie der gestrige Tag.

 

Mein Stamm war noch nicht fest als ich über den Rand des Spalts hinausragte. In dieser Zeit sterben viele junge Bäume, weil sie von Tieren zertreten oder von herabstürzenden Ästen erschlagen werden. Ich jedoch gedieh in diesen Tagen prächtig, wuchs in einer Woche mehrere Zentimeter, legte die Keimblätter ab und trieb glänzende Baumblätter aus. Der tote Nährbaum, die Quelle meiner Kindheit, war zwischen zwei größere überwucherte Felssteine gefallen, die zusätzlich Schutz gaben. Nach ein paar Wochen verfestigte sich mein Stamm zu Holz und das Wasser drang nicht mehr unkontrolliert durch die ganze Breite meines Standbeines, sondern trieb zwischen Innenholz und Außenhaut in die kleine Blätterkrone hinauf.

Ich wuchs im Halbschatten meiner Samenmutter auf. Jahr um Jahr legte ich eine neue Schicht nach außen zu, bis ich an ihre unteren Äste stieß. Ich empfing den Regen nicht direkt sondern abgefedert von ihren Blättern. So sehr ich ihren Schutz auch genoss: es mangelte mir zusehends an Licht, um schneller wachsen zu können.

Ich war also gezwungen, mich ein wenig zu verbiegen, damit ich von dem Lichtspalt zwischen den zwei Baumkronen meiner Mutter und ihrer Nachbarin etwas abbekam. Ab und zu streiften Tiere meine Rinde und jeden Tag kletterten die Ameisen an mir hinauf. Vögel mieden mich dagegen. Sie zogen die hellen Baumkronen oder die insektenreichen Rinden der großen Bäume vor.

Im Grunde verdanke ich mein ausgefülltes Baumleben dem Tod meiner Samenmutter. An einem besonders heißen Tag verfärbte sich der Himmel gelbgrau. Kein Hauch bewegte die Blätter. Auch die Tiere, die sonst immer zu hören waren, verstummten. Über den Kronen der Riesen in der Ferne hatte sich ein gebogener Kegel am Himmel gebildet, der größer und größer wurde und näher kam. Aus dem Nichts brach ein Sturm los, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Zunächst prasselten Äste auf die Erde. Ich hatte Glück von keinem erschlagen zu werden. Selbst in meiner Höhe war der Sturm so stark, dass ich alle Kraft aufbieten musste, mich einigermaßen aufrecht zu halten. Auch kleine Affen stürzten schreiend aus den Kronen. Einige überlebten nicht. Meine Samenmutter bebte und versuchte, dem Druck des wütenden Sturmes auf ihre Krone standzuhalten. Mit ihren Wurzeln klammerte sie sich in den Boden, suchte jeden erdenkbaren Halt. Es nützte ihr nichts. Die Wurzeln hielten zwar, aber ihr tausendjähriger Stamm barst in einer Bö. Ihre Krone schwankte, taumelte und krachte schließlich mit allen Lebewesen, die darin Schutz und Nahrung gesucht hatten, in die Tiefe. Dicht an mir vorbei hieben die Äste, als suchten sie noch einen rettenden Halt vor dem Ende. Sie verletzten mich aber nicht. Steil und zerfetzt ragte der blanke Stumpf gegen den Sturmhimmel. Dies alles dauerte nur wenige Minuten. So rasch wie er gekommen war, legte sich der Orkan und hinterließ seine Opfer.

Die Luft war glasklar und das erste Mal in meinem Baumleben breitete sich der Himmel über mir aus. Regenwolken verdeckten noch sein Blau, aber einzelne Sonnenstrahlen blitzen schon wieder auf. Mir schien, als hörte ich ein Flüstern aus dem Firmament: »Wachse zu mir herauf, damit wir uns berühren können!« Jetzt, mit soviel Licht über meiner jungen Krone, wuchs ich besser, überragte schon bald alle Pflanzen um mich herum, konnte sogar den krummen Stamm ausrichten.

Der Verfall meiner Samenmutter reicherte den Boden in den nächsten Jahrzehnten an, was mir zusätzlich Kraft gab; es war als reichte sie mir Brüste, wie dies die Säugetiere im Regenwald tun. Mit jedem Zentimeter, den ich wuchs, brannten sich neue Erfahrungen bei mir ein. Mit den Jahren wurde mir jeder Stein, jede Unebenheit im Boden so vertraut, dass ich auch geringste Veränderungen wahrnahm. Baum und Boden sind untrennbar aufeinander angewiesen. Stirbt der Boden, stirbt auch der Baum und wo kein Baum mehr wächst, stirbt auch der Boden.

Nach einem Jahrhundert war ich so gewachsen, dass ich den Raum zwischen meinen unmittelbaren Nachbarbäumen, einem Abachi und zwei Mahagoni, ausfüllte. Von meiner Samenmutter hatte die Zersetzung nur noch Teile des Hauptstammes verschont, in denen Ameisen, Kröten, viele Käferarten, Würmer und Mäuse hausten. Auf den Stammresten hatten sich Moos, Farne und Orchideen ausgebreitet und verdeckten mit ihrer Schönheit den Zerfallsprozess. Doch auch meine glatte Außenhaut am Stamm hielt dem schnellen Wachstum nicht mehr stand. Kleine Risse machten mich rau. Gleichwohl waren die Verletzungen nicht umsonst: in diesen Ritzen kribbelte und krabbelte das Leben, tanzte um meinen harten Kern und in meiner schon stattlichen Krone tummelte sich die Vielfalt des Dschungels im ewigen Zyklus von Geburt und Verfall. Ich habe nicht nur die Einzellebewesen wahrgenommen, sondern auch ihre Arten und Eigenarten im Ablauf der Jahrhunderte.

So sammelte sich in den Astgabeln Humus aus vielen Blattgenerationen. Darin gediehen seltene Epiphyten, Blütenschönheiten, die mit ihren Trichterblättern das unter meiner Krone spärlich tropfende Wasser sammeln und zu ihren Wurzeln leiten. Solche, die rote Lockfarbe zeigten, verzauberten die Kolibris zur Bestäubung und die, die verschwenderisch ihren berauschenden Duft versprühten, wurden von Schmetterlingen berührt. Das Liebesverhältnis zwischen Blüten und Blütenbesucher erneuerte sich jeden Tag. Von meinen Ästen herab hingen Lianen und dicht gewebte Moosteppiche, übersät mit glitzernden Wassertröpfchen in denen Fledermäuse und Flughunde ausruhten. In einer meiner Wurzelhöhlen hausten Generationen lichtscheuer Beutelratten mit ihrer Brut und in den Minitaurtümpeln der Astlöcher quaken bis heute winzige Frösche. Ich könnte mit diesen Aufzählungen endlos fortfahren, denn in und auf mir vollzogen sich Geburt und Tod mit göttlicher Gelassenheit. Als eine Art hölzerner Fels stand ich in der Brandung zwischen Vergangenheit und Zukunft. So saugte auch ich aus dem ewigen Kreislauf der Natur Energie.

Nach acht Jahrhunderten überragte ich zum ersten Mal die anderen Baumkronen und erkannte den Horizont, die endliche Weite meines Lebensraumes. Ich werde diese Erkenntnis nie vergessen. Die satten immergrünen Kronendächer rieben sich am graublauen Himmel, der sie ständig mit Wasser, dem Elixier des Urwaldlebens, beschenkte. In der Ferne grenzten dunkelbraune Wände, manchmal mit weißen Bändern bedeckt, meinen Horizont ein. In diesem Kessel der Fruchtbarkeit fühlte ich mich sicher und geborgen.

Was ich bin, verdanke ich der Natur. Ich verbinde die Gaben des Himmels und der Erde in der Photosynthese und baue mich auf. Umgekehrt gebe ich der Natur Sauerstoff als Grundlagen allen bewegten Lebens zurück und verneige mich vor dem unbekannten Sinn unseres Seins. So akzeptiere ich die Endlichkeit. Zu keinem Zeitpunkt wuchs das Bedürfnis in mir, meine Grenzen zu überschreiten. Meine Wurzeln sind die Arbeiter meiner dem Licht zugewandten Seele und halten mich aufrecht und fest auf der Stelle. Alle Freuden und Leiden, alle Gefahren und die Lust mussten zu mir kommen. Wind, Vögel und die Schmetterlinge befruchten mich im Vorbeistreifen, und ich genieße es. Vor vielen Jahren trafen sich zwei nackte Menschen unter mir und liebten sich. Ihre bräunlichen Körper glänzten im Regen. Die Fingerkuppen der erregten jungen Frau krallten sich in das Moos meiner Rinde während sie sich vereinigten und ich gab ihr Halt. Ich selbst bebte ein wenig unter ihren lustvollen Schreien und spürte zum ersten Mal einen Hauch von Einsamkeit.

Irgendwann kam auch der Tod zu Besuch. Im Humus einer meiner Astgabeln entwickelte sich aus dem Kot eines Flughundes ein Baumwürger. Sein Keim wuchs in der feuchten Wärme rasch und begann, sich mit seinen ersten langen Trieben um einen meiner höheren dicken Äste zu schlingen. Schon mit diesem noch ziemlich schwachen Griff zerschnitt die Schlingpflanze den Wasserkreislauf meines Astes. Es begann ein Kampf auf Leben oder Tod. Um mich gänzlich zu erdrosseln, musste der Baumwürger mit seinen dünnen Wurzelsträngen die Erde erreichen, denn mein Humus reichte nur für wenige Wochen Lebenskraft. Gierig und besessen streckte er seine Lebensadern dem Urwaldboden entgegen, aber es reichte ihm nicht. Wenige Zentimeter vor der ihn rettenden Erdoberfläche versagten ihm die Kräfte und er starb. Erschrocken vom Angesicht des Todes warf ich den dürren Ast ab. Obwohl der kleine Tod jeden Tag und jede Nacht in mir wohnt – Frucht-, Blatt-, Insekten und Fleischfresser bevölkern mich, ständig auf der Jagd nach dem Leben – war das eine neue Erfahrung.

Wenn ich nach Jahrhunderten in mich hineinschaue, sehe ich Einzigartiges und Lebensvielfalt Seite an Seite. Ich bin ein unverwechselbares Wesen und gleichzeitig Lebensraum für viele Pflanzen und Tiere des Regenwaldes. Diese Spanne meines Ichs macht mich selbstsicher und ein wenig stolz. Auch meine Zugehörigkeit zur Gattung der Pflanzen genieße und bekenne ich. Wir breiten uns als schützendes Kleid über die nackte tote Erde als lebendiger Samt. Ohne unser aus Sonne gespeistes Grün wäre die Erde ohne Leben. Wir sind also der Ursprung des Lebens und leben selbst vom Licht. Wir Bäume entwickelten uns im Laufe der Geschichte zu Philosophen, weil wir nicht nur die größten Lebewesen sind, sondern auch die mit der längsten Erfahrung. Wir freuen uns über jeden neuen Tag, den Regen, den Wind und in unseren Ästen, Zweigen und Blättern verfängt sich die Zeit und die Muse, die notwendig sind zum Philosophieren. Vieles von dem was ich empfinde verdanke ich dieser Geduld der Schöpfung.

Seit etwa einem Jahrhundert begann sich unsere Umwelt kaum spürbar zu verändern. Nach starken Regengüssen brannten meine Blätter. Zunächst verdrängte ich den schwachen Schmerz, schrieb die neue Empfindung meinem schon stattlichen Alter zu. Die Zeit hatte in mir ja nicht nur philosophische Gedanken, sondern auch Zeichen des Verfalls hinterlassen. Durch meine Rinde liefen tiefe Furchen und an der Peripherie meiner Krone trockneten vereinzelt Äste aus, weil ich nicht mehr die Kraft hatte, den Saft des Lebens in alle Glieder zu pumpen.

Mit den Jahren wurde das Brennen intensiver. Es bereitete mir zusehends Unruhe. Wenn die Sonne durch Wolkenmassen brach, verstärkten sich die Schmerzen und ich war froh, wenn sich fette Regenwolken vor das goldene Schild des Himmels schoben. Bald brannten auch die Spitzen meiner Wurzeln. Das Wasser, das ich aufnahm schmeckte bitter und säuerlich. Mein nasser Freund hinterließ auf meinen sonst so sattgrünen Blättern Narben und Verfärbungen. Irgendwann war ich gezwungen, Blätter vorzeitig abzuwerfen und neu zu treiben. In den letzten Jahren musste ich die Zyklen der oberirdischen Erneuerung so extrem verkürzen, dass ich immer öfter an meine Kraftreserven stoße. Auch fast alle Haarwurzeln habe ich eingebüßt, so dass nicht mehr genügend Wasser in meinen Kreislauf eindringen kann. Irgendwie spüre ich, dass es nicht mit meinem Alter zu tun hat, denn ich fühlte mich stark als die Beschwerden einsetzten. Der ätzende Regen muss schuld an meinem Leiden sein. Ich wünsche mir die Zeit, um alle Ursachen ergründen zu können. Denn was immer der Regen mit sich bringt, ich muss es akzeptieren, weil ich nicht auf Reisen gehen kann.

Vor einigen Tagen drangen nun durch das Rauschen der Blätter, das Gezwitscher der Vögel und das Prasseln des Regens ganz unbekannte Geräusche zu mir. Ich mag sie nicht deuten aber sie gehören nicht zu uns. Von Tag zu Tag erreichen mich lautere Schallwellen, knatternd und quietschend. Vorgestern stöhnten Artgenossen in der Ferne, als sie zu Boden krachten. Doch die Luft stand still und kein Sturmwind bedrohte meinen Standpunkt. Ich erinnere mich an den Tod meiner Samenmutter. Ohne zu begreifen was auf mich zukommt, warte ich ängstlich auf Erkenntnisse. Der Wind streicht mir durch die Krone und versucht mich zu trösten. Als um mich herum Bäume fallen, sehe ich die brutalen Männer mit ihren Maschinen wieder – in einer Schneise aus Tod und Vernichtung. Doch während sie sich mir nähern und schon Maß nehmen wollen, geschieht etwas Seltsames.

 

Ein junges Mädchen mit weißer Haut, das von mehreren Leuten begleitet wird, beginnt geschickt, an meinen Ästen hochzuklettern. In meiner Krone angekommen, zieht sie ein Stück Leinwand wie eine Fahne durchs Geäst auf dem steht »Earth first« und verknotet es. Und sie lässt ein Seil nach unten, an dem ihre Freunde einen Eimer voll Nahrungsmitteln und eine Zeltplane befestigen. Mühsam gelingt es ihr, das alles heraufzuziehen. Sie beeilt sich dabei, denn die Holzfäller drohen einzugreifen und rufen nach ihrem Vorarbeiter. Als der aber anrückt, ist das Mädchen schon dabei, sich in einer meiner Astgabeln einzurichten. Später baut sie sich aus Ästen eine kleine Plattform, auf der sie bequem sitzen und sich sogar hinlegen kann. So begann unsere Symbiose.

Inzwischen ist fast ein Jahr vergangen. Ich habe versucht, meiner Beschützerin zu helfen und mich gegen Stürme gestemmt, die mich kräftiger als sonst anfielen, weil die Nachbarbäume gefällt sind. Ich habe an der Astgabel neue Zweige ausgetrieben, die sie zum Anbringen ihrer Plane verwenden kann, um darin Regenwasser aufzufangen. Jeden dritten Tag kommen ihre Helfer und bringen Essen, machen Mut. Die Holzfäller sind längst abgezogen. Fast jede Nacht verwandelt sich das Kreuz des Südens in ihren Träumen in ein rauschendes Ungetüm, das sie und mich bedroht. Sie kommt von diesem Traum nicht los, aber sie weiß auch: »Wenn ich an meiner Liebe für alles Leben festhalte, hilft mir das durch jede Schwierigkeit«. Das ist ein schöner Satz, den auch ich hätte denken können; sie versteht mich eben immer besser. So kommt es, dass ich trotz allem Hoffnung habe. Selbst wenn die Leute von ’Totenholz’ reden.

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