Zwang zu töten

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Kapitel 3

Polizeipräsidium, Büro der MK, 10:30 Uhr

„Also, was wollt ihr denn so wissen?“, begrüßte Fisch seine Kollegen Auer und Harry, als sie den Kellerraum betraten, in dem die Mordkommission angesiedelt war.

Das Großraumbüro, in das die Truppe vor mehr als einem Jahr verbannt worden war, stellte inzwischen eine gut ausgestattete Zentrale für das fünfköpfige Team dar, in der es an nichts fehlte: Eine moderne Kaffeemaschine war ebenso unverzichtbar wie die Besprechungsecke, und die locker auf den etwa fünfzig Quadratmeter großen Raum verteilten Schreibtische boten ausreichend Platz. Des Weiteren verfügte der Raum über eine kleine Teeküche und eine eigene Toilette mit Waschgelegenheit. Als einziges Manko empfand Auer lediglich die auf einer Seite des Raums gelegenen mickrigen Oberlichter, die nur sehr wenig Tageslicht in den Raum gelangen ließen.

„Du hast also schon ein wenig das Internet gequält“, bemerkte er jetzt mit einem anzüglichen Grinsen. „Was hast du denn so über unser Opfer herausfinden können?“

„Eine ganze Menge. Der war schon ein recht erfolgreicher Geschäftsmann. Seine Werbe- und Marketingfirma ist wohl ziemlich renommiert, hat die Geschäftsräume im Zentrum von Koblenz, und seine Villa auf der Karthause ist, wenn man den Luftaufnahmen bei Google Earth glauben darf, auch nicht ohne.“

„Familienstand?“, warf Harry in die Unterhaltung ein.

„Geschieden, wobei ...“, Klaus Saibling machte eine bedeutungsschwere Pause, „... ich mit dem Scheidungsurteil nicht so ganz klarkomme.“ Er hielt inne, als er die hochgezogenen Augenbrauen von Auer sah.

„Mensch, Ulf, mach dir nicht ins Hemd. Die Datenbank des Familiengerichtes ist jetzt wirklich keine große Sache. Also keine Angst, da merkt schon keiner, dass ich da mal nachgesehen habe. Wir müssen die Unterlagen halt nachträglich noch offiziell anfordern, aber zumindest wissen wir schon mal, dass es sich vermutlich lohnt.“

Auer stöhnte vernehmlich auf, und Harry grinste still in sich hinein. „Eines Tages fällst du wirklich mal auf, und eigentlich würde ich dich ungern verlieren. Aber du musst es ja wissen, was du da so auf eigene Gefahr treibst. Also ...“, fragte Ulf schließlich, „... was ist da so ungewöhnlich oder schwer zu verstehen?“

Fisch ließ sich Zeit, und sein zufriedener Gesichtsausdruck zeigte, dass er es genoss, wieder einmal aufgrund seiner illegalen Aktivitäten mehr zu wissen als alle anderen. Schließlich ließ er sich dazu herab, zu berichten. Auer und Harry hatten sich Stühle herangezogen und lauschten ihm aufmerksam.

„Also ... es gibt da Andeutungen, nichts wirklich Genaues leider, dass er seine Frau – oder besser Ex-Frau – in den Wahnsinn getrieben haben muss aufgrund bestimmter psychischer Defizite, die sie nicht mehr aushalten konnte. Vermutlich“, er lachte laut auf, „hatte das Gericht wohl Angst vor genialen Hackern, die diese Unterlagen einsehen könnten, weshalb da keine genauen Erkenntnisse drinstehen.“

Als das wohl erwartete Lob seiner Genialität ausblieb, fuhr er etwas frustriert fort: „Na ja, wie dem auch sei, er musste auf jeden Fall einen nicht unerheblichen Betrag an Unterhalt zahlen, weshalb ich die Ex-Frau mal von der Liste der Verdächtigen streichen würde, denn die hat jetzt auf jeden Fall die A-Karte gezogen, wenn die Zahlungen ausbleiben.“

Harry Kruse hatte die Stirn gerunzelt, und seine Augenbrauen hatten sich zusammengezogen.

„Das ist alles? Ich fass es nicht. Und über solche Kleinigkeiten machst du so einen Aufriss? Pah!“

Er hatte sich erhoben und war in Richtung der Kaffeemaschine aufgebrochen. Dabei grummelte er vor sich hin und brachte so sein Missfallen zum Ausdruck.

„Was hast du denn bisher in der Sache geleistet, hä?“, rief Fisch ihm hinterher, und Auer sah sich genötigt, einzugreifen.

„Jetzt mal langsam, Jungs. Das ist doch für den Anfang schon mal was. Ich halte das für einen guten ersten Ansatzpunkt, und vielleicht bekommen wir ja bei den Ermittlungen am Arbeitsplatz oder der Vernehmung der Ex-Frau genauere Hinweise darauf, wo ein mögliches Motiv liegen könnte und um was für ein Problem es sich handelt, an dem die Ehe gescheitert ist. Zumindest“, rief er etwas lauter in Richtung Kaffeemaschine, „wissen wir ja schon mal, auf was wir achten müssen!“

„Pah“, schallte es wenig überzeugt von der Kaffeemaschine herüber.

„Mach dir nichts draus“, beruhigte er Fisch, der schon zu einer weiteren Entgegnung ansetzte, „er ist bloß frustriert. Keine große Sache.“

Manchmal, dachte er leicht genervt, komme ich mir vor wie im Kindergarten, wo man ständig zwischen den sich streitenden Kleinen vermitteln muss. Hoffentlich haben Duben und Coco noch was Positives am Tatort herausbekommen können.

Als hätten sie seine Gedanken hören können, öffnete sich in diesem Moment die Tür und Gerd Duben ließ Coco an sich vorbei in den Raum treten, was Auer ihm nicht zugetraut hätte, da Gerd normalerweise nicht wirklich ein Gentleman der alten Schule war. Als allerdings hinter Coco eine weitere Frau durch die Tür hereinkam, wurde ihm klar, woher die besondere Höflichkeit kam.

Dicht hinter Coco Crott trat Sandra Hartung ein, die Oberstaatsanwältin, von der lediglich die Mitglieder der Mordkommission wussten, dass sie das feste Liebesverhältnis von Ulf Auer war. Wobei das mit dem „fest“ so eine Sache war, von deren fehlender Beständigkeit die Kollegen zum Glück selten etwas mitbekamen. Leider viel zu oft gerieten Ulf und Sandra aneinander, wobei es meistens um die mögliche Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft ging. Momentan befanden sie sich in einer der „Friedensphasen“, in der das Thema eben gerade mal kein Thema war.

Der Blick der Neununddreißigjährigen erhellte sich, als sie Ulf sah, und sie ging mit einem kurzen Nicken in Richtung der anderen geradewegs auf ihn zu.

„So, ihr habt also wieder einen neuen Mordfall, und wenn die Informationen, die mir bisher vorliegen, richtig sind, dann handelt es sich mal wieder um etwas Spektakuläres, richtig?“

„Ja, leider“, seufzte Ulf, während er um ihre Taille griff, sie zu sich heranzog und ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen gab. „Der Tatort lässt darauf schließen, dass es sich nicht um ein spontanes Verbrechen gehandelt hat, sondern von langer Hand geplant und vorbereitet war. Aber diesbezüglich stehen wir wirklich noch ganz am Anfang.“

Sandra Hartung schüttelt ihre lange schwarze Mähne, die ihr helles Gesicht mit den rot geschminkten Lippen so kontrastreich einrahmte.

„Ich will doch hoffen, dass es sich nicht wieder um den Auftakt einer Serie handelt. Sollten wir eine Sonderkommission bilden, damit ihr Unterstützung bei den Ermittlungen habt?“

„Gott bewahre“, beeilte sich Auer zu entgegnen. „Mal den Teufel nicht an die Wand. Bisher kommen wir sicherlich noch alleine zurecht, und an einen neuerlichen Serientäter will ich gar nicht denken. Aber da fällt mir ein, dass ich Coco und Gerd noch über den Ermittlungsstand informieren wollte, und dabei kannst du gleich zuhören.“

Er winkte Coco und Gerd zu sich heran, und sie setzten sich gemeinsam an den kleinen Besprechungstisch.

„Auch einen Kaffee, Frau Oberstaatsanwältin?“, fragte Coco noch stehend. Sandra Hartung bejahte, und Coco beeilte sich, zwei Tassen Kaffee zu holen und an den Tisch zu bringen. „Okay“, fragte Coco, nachdem sie sich gesetzt hatte, „was gibt es, was wir noch nicht wissen? Ich kann jetzt schon sagen, dass es auf jeden Fall mehr ist, als wir am Tatort herausfinden konnten, aber dazu gleich mehr. Du zuerst“, sagte sie in Richtung Auer und nippte an ihrem Kaffee.

Auer erzählte von den Erkenntnissen bezüglich der Ex-Frau, wobei er es vermied, die Quelle der Informationen zu nennen.

Aus den zusammengekniffenen Augen und dem misstrauischen Seitenblick in Richtung Fisch durch Sandra Hartung konnte er allerdings schließen, dass sie sich denken konnte, dass diese Informationen auf bestenfalls halb legalen Wegen an die MK gelangt waren.

„Und was habt ihr vom Tatort zu berichten?“, lenkte Auer mit seiner Frage an Duben die Aufmerksamkeit der Oberstaatsanwältin von Fisch ab.

„Berichte du, Coco, es frustriert mich zu sehr“, antwortete Duben genervt.

Coco nahm sofort den Faden auf. „Nun ja, es ist wirklich nicht sehr erfreulich. Das ist der denkbar schlechteste Tatort, den man sich vorstellen kann, zumindest aus unserer Sicht. Für den oder die Täter war es ein Segen. Keine Alarmanlage, keine Videoüberwachung, Unmengen von Schlüsseln, über die es keine Nachweise gibt, zahlreiche Angestellte, überwiegend Teilzeitkräfte, und vor allem keine Kundendatei, aus der wir eruieren könnten, wer alles die Anlage ausgespäht haben könnte. Wir haben selbstverständlich eine Liste aller Beschäftigten, und Fisch kann ja mal in den einschlägigen Systemen checken, ob jemand Bekanntes dabei ist, aber ich verspreche mir nicht wirklich viel davon. Da jede Menge junger Leute einfach so vorbeikommen und sich stundenlang zum Spielen dort aufhalten können, kann es Hunderte von Leuten geben, die sich dort in aller Ruhe umgesehen haben und dabei feststellen konnten, wie einfach es ist, da reinzukommen und wie lange die Anlage zwischen den Öffnungszeiten in der Nacht verwaist und unbewacht ist. Tut mir leid.“

Auer winkte ab. „Das ist dann halt nicht zu ändern. Also ermitteln wir erst mal mit dem Wenigen, was wir bisher haben. Ich schlage deshalb vor“, fuhr er nach kurzer Überlegung fort, „dass ein Team sich schnellstmöglich in diese Werbeagentur begibt und dort die Ermittlungen aufnimmt. Ein weiteres Team sollte versuchen, die Ex-Frau ausfindig zu machen und zu befragen. Wer macht was?“

Er sah, wie Sandra Hartung die Augen verdrehte. Er wusste, dass sie es nicht verstand, wie viel Entscheidungsfreiheit er seinen Mitarbeitern ließ. Sie an seiner Stelle hätte eine Einteilung vorgenommen, egal, ob die ihren Mitarbeitern gefallen hätte oder nicht.

 

Kapitel 4

Werbeagentur Kellermann, 11:30 Uhr

„Das ist jetzt ein Scherz, oder? Ist das ‚Versteckte Kamera‘?“

Duben sah den Mitarbeiter der Werbefirma entgeistert an. Man erlebte ja eine Menge an unterschiedlichen Reaktionen, wenn man Todesnachrichten überbrachte, aber ein grinsender Mitarbeiter, der an einen Scherz zu glauben schien, war ihm bisher noch nicht untergekommen.

„Nein“, antwortete er barscher, als es vielleicht angebracht war, aber der Typ kam ihm übermäßig gut gelaunt vor, und an seinem amüsierten Gesichtsausdruck änderte sich auch dadurch nichts, dass Duben ihm den Dienstausweis vor die Nase hielt.

„Echt jetzt? Ohne Quatsch? Wow, das ist ja mal eine gute Nachricht.“

Sowohl Harry als auch Duben sahen den etwas zu flippig angezogenen Mittvierziger verständnislos an und wussten beide nicht, wie sie reagieren sollten. Gerd Duben öffnete mehrmals den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber sofort wieder, weil ihm nicht die richtige Entgegnung einfallen wollte. Zum Glück erlöste der Mann sie aus ihrer Unsicherheit, indem er die Tür weit aufriss und sie gut gelaunt einlud: „Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Sie müssen uns alles genau erzählen. Nur einen kleinen Moment, ich ruf mal die Kolleginnen und Kollegen zusammen.“

Duben sah Harry mit offenem Mund an und schüttelte nur den Kopf. Harry zuckte schweigend mit den Schultern und folgte dem Mann in die Räume der Werbeagentur. Der Kollege, der sie an der Tür empfangen hatte, gab ihnen nicht die Chance, die Nachricht selbst zu überbringen, denn gerade als sie in das Großraumbüro eintraten, in dem drei weitere Männer und drei Frauen an ihren Computern saßen, verkündete er: „Leute, aufgepasst, hier sind zwei von der Kripo, die uns die frohe Botschaft überbringen, dass unser geliebter Chef tot ist. Angeblich ist es kein Scherz, aber das werden sie uns sicherlich noch genauer erklären.“

Obwohl Duben von dieser Ankündigung schockiert war, beobachtete er dennoch sehr genau die Reaktionen der Anwesenden.

Zwei der Frauen schienen geschockt, eine machte einen sichtlich erleichterten Eindruck, und die drei Männer grinsten.

Was ist das denn für ein Laden? Haben die keine Angst davor, dass die Firma jetzt den Bach runtergeht und sie ihre Jobs verlieren?

Duben hatte wirklich schon viel erlebt, aber so etwas noch nie. Er musste sich zusammenreißen, um sich auf die übliche Vorgehensweise zu konzentrieren.

„Harry, du die Männer, ich die Frauen.“

Harry verdrehte die Augen, fügte sich aber in sein Schicksal. Er schien genau zu wissen, dass Duben ihn andernfalls auf seine zahlreichen Verfehlungen im Zusammenhang mit Zeuginnen hingewiesen hätte.

Gerd deutete mit dem Finger auf den flippigen Mitarbeiter. „Sie gehen mit dem Kollegen, die anderen Herren warten hier, bis sie an der Reihe sind. Ich möchte zuerst mit Ihnen reden ...“, er deutete auf die Dame, die einen so auffällig erleichterten Eindruck gemacht hatte, „... und mit den anderen Damen unterhalte ich mich im Anschluss.“

Er wandte sich der etwa fünfundzwanzigjährigen und ausgesprochen hübschen Brünetten zu.

„Wo können wir uns denn mal in Ruhe unterhalten?“

Kapitel 5

Mülheim-Kärlich, 11:40 Uhr

Auer und sie waren schon auf der Fahrt übereingekommen, dass Coco die Gesprächsführung übernehmen sollte, quasi „von Frau zu Frau“. Damit hatte Coco kein Problem. Sie wusste nur zu gut, dass es bei einer solchen Nachricht von Vorteil sein konnte, wenn sie von einer Frau überbracht wurde. Eventuell brach die Empfängerin der Nachricht zusammen und musste in den Arm genommen werden. Da war es besser, wenn das eine Beamtin machte, um alle möglichen Missverständnisse zu vermeiden.

Es war kein Problem gewesen, Verena Kellermann, die Ex-Frau des getöteten Raimund Kellermann, als inzwischen in der kleinen Stadt Mülheim-Kärlich, nur zehn Kilometer westlich von Koblenz, wohnhaft auszumachen. Sie hatte sich ordentlich umgemeldet, und bereits in den Scheidungsunterlagen war ihre noch immer gültige Adresse angegeben gewesen. Sie bewohnte laut Meldeunterlagen das kleine Einfamilienhäuschen alleine, ging keiner Beschäftigung nach, und sie hatten auch insofern Glück, dass ihnen bereits wenige Sekunden nach ihrem Läuten geöffnet wurde.

Bereits aus dem Scheidungsurteil war ersichtlich gewesen, dass Verena Kellermann ganze zehn Jahre jünger war als ihr nun verstorbener Ex-Mann. Die gepflegte Blondine, die ihnen die Tür öffnete und sie fragend ansah, machte auf Coco sofort einen Eindruck, zu dem ihr lediglich der Ausdruck „Luxus-Weibchen“ einfiel.

„Ja, bitte?“, fragte sie, sah ihnen direkt ins Gesicht und strich sich mit überlangen und grellrot lackierten Fingernägeln die langen blonden Haare zurück. Wäre sie nicht dabei gewesen, hätte Coco ihr gesamtes Auftreten als sofortigen Flirtversuch mit Auer ausgelegt.

Sie beeilte sich, ihr Anliegen so schnell wie möglich vorzutragen, damit kein falsches Bild entstand.

„Guten Tag, Frau Kellermann, mein Name ist Crott, und das ist mein Kollege Auer. Wir kommen vom Polizeipräsidium Koblenz und haben leider schlechte Nachrichten für Sie. Dürfen wir hineinkommen?“

Sowohl sie als auch Auer hatten ihre Ausweise gezückt und hochgehalten. Ihre Reaktion zeigte Coco, dass sie vermutlich weder Kinder noch Geschwister hatte, um die sie sich hätte Sorgen machen können. Ansonsten wäre die wahrscheinlichste Reaktion auf eine solche Ankündigung ein erschrockenes: „Oh Gott, ist was mit ...?“, gewesen.

Sie hatte die Stirn gerunzelt und sah sie misstrauisch an. „Da ich vor fünf Minuten mit meiner Mutter in Frankfurt telefoniert habe, kann da eigentlich nichts vorgefallen sein, also bin ich mal gespannt, was Sie mir Schlimmes erzählen wollen.“

Na, das kann ja heiter werden, dachte Coco überrascht.

Laut Scheidungsurteil waren Frau Kellermann und ihr Ex-Mann erst seit vierzehn Monaten getrennt und seit drei Wochen geschieden, aber sie schien keine Sekunde an ihren Ex-Mann zu denken.

Sie folgten der schnellen Schrittes vorausgehenden Frau ins Haus, bis sie in ein edel eingerichtetes Wohnzimmer gelangten, wo sie auf eine große Ledercouch wies.

„Nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten oder ein Wasser?“

„Ein Kaffee wäre sehr nett“, kam es wie aus der Pistole geschossen von Auer, und Coco musste sich ein Grinsen verkneifen, offensichtlich hatte er Angst, sie würde ablehnen.

Verena Kellermann ließ sich Zeit, man hörte sie in der Küche rumoren, und kurz darauf kam sie mit einem Tablett zurück, auf dem sie drei dampfende Tassen, Milch, Zucker, Süßstoff und einige Plätzchen ins Wohnzimmer trug. Sie platzierte die Tassen vor Coco und Auer auf dem Couchtisch, nahm sich selbst eine Tasse und ließ sich schließlich in einem Sessel nieder.

Ihr war keine Neugier anzumerken, und Coco fragte sich, wie sie das werten sollte. Normalerweise blieb niemand so cool, wenn die Polizei mit einer nicht näher bezeichneten „schlechten Nachricht“ erschien.

„Nun“, eröffnete Verena Kellermann schließlich das Gespräch, „was ist denn so Schreckliches passiert?“ Dabei sah sie abwechselnd Coco und Auer an, als wartete sie darauf, wer denn nun so kühn sein würde, ihr die Botschaft zu überbringen.

Coco hatte genug Zeit gehabt, sich eine an diese kalte Gelassenheit angepasste Vorgehensweise zu überlegen.

„Ihr Mann wurde ermordet.“

Kein Drumherumgerede, kein vorsichtiges Herantasten, sondern einfach die Fakten. Verena Kellermanns Reaktion hätte nicht überraschender sein können.

„Soso. Und was geht das, mal abgesehen von dem Umstand, dass er mir nun keinen Unterhalt mehr zahlen wird, mich an? Das hätte mir auch das Gericht mitteilen können. Oder der Notar, falls ich wider Erwarten vielleicht doch was erbe.“

Sie sah die beiden weiterhin ohne die geringste Gefühlsregung erwartungsvoll an, und Auer war schockiert. Bevor er irgendetwas sagen konnte, ergriff Coco schnell wieder das Wort.

„Angesichts des Umstandes, dass Sie nicht wirklich betroffen wirken, erlaube ich mir, offen mit Ihnen zu reden. Mal abgesehen davon, dass Sie im Erbfall auf jeden Fall zum Kreis der Tatverdächtigen gehören, gebietet es der Anstand, dass man die nächsten Angehörigen als Erstes verständigt, bevor sie die unappetitlichen Einzelheiten aus der Presse erfahren. Deshalb ...“, sie unterbrach sich, denn Verena Kellermann war in ein lautes und herzliches Lachen ausgebrochen.

Coco fiel auf, dass Auer völlig schockiert immer wieder zwischen ihr und Frau Kellermann hin und her blickte. Er war weit emotionaler veranlagt als Coco und konnte offensichtlich nicht fassen, was er da hörte.

Verena Kellermann hatte sich wieder etwas beruhigt.

„Nächste Angehörige ... das ist gut ... da müssen Sie aber lange suchen. Zu seinen Eltern hatte der schon seit Jahren keinen Kontakt mehr, und als Einzelkind hat er ansonsten nichts, das man als ‚Angehörige‘ bezeichnen könnte. Der Arsch hat es sich eigentlich mit jedem so sehr verdorben, dass seine Beerdigung vermutlich eine ‚One-Man-Show‘ werden wird. Haha.“

Erstmals bereute Coco es, dass das Scheidungsurteil nicht mehr hergab als ein „unüberbrückbares Zerwürfnis“ aufgrund „psychischer Dissonanzen“, die allerdings nicht näher erläutert waren.

Also blieb ihr nichts anderes übrig, als genau diesen Punkt zu hinterfragen.

„Was waren das für psychische Dissonanzen, von denen in Ihren Scheidungspapieren die Rede ist?“

Verena Kellermann reagiert nicht überrascht, dass der Polizei dieser Umstand bereits bekannt war, sondern erläuterte kalt: „Er war bekloppt. So einfach ist das. Total bekloppt.“

Sie sah die Fragezeichen in den Augen der Beamten und fuhr seufzend fort: „Okay, das ist nicht der offizielle Begriff, aber für mich hat es sich so dargestellt. Mein lieber Ex-Mann hatte Arithmomanie, und falls Ihnen das nichts sagt ...“, es sagte Coco zwar etwas, und auch bei Auer sah sie ein Verstehen, aber sie wollte die Frau nicht in ihren Ausführungen unterbrechen, „... das bedeutet ‚Zählzwang‘. Das hört sich harmlos an, aber Sie können sich nicht vorstellen, was das, verbunden mit einer despotischen Veranlagung, für seine Umgebung, also die Ehefrau, Verwandte und vor allem alle, mit denen er beruflich zu tun hatte, wirklich bedeutet. Zumal er sich gegen jede mögliche Hilfe mit aller Kraft gewehrt hat. Er wollte das zwar loswerden, hat aber alle, die ihm helfen wollten, niedergemacht und als inkompetent hingestellt.“

Coco wusste aus ihrem Psychologiestudium und aus ihrem Praktikum im „Nette-Gut“, der Einrichtung für gewalttätige psychisch Kranke, dass eine ausgeprägte Arithmomanie sowohl für den Betroffenen als auch sein Umfeld eine wirklich große Belastung darstellen konnte. Sie musste es nicht ausführen, denn das übernahm Verena Kellermann sofort und ungefragt.

„Er hat alles gezählt ... ALLES! Und wehe dem, der ihn dabei unterbrach oder gar bat, das doch zu lassen. Ha! Schritte, Latten an einem Zaun, die Streifen an einem Fußgängerüberweg, Treppenstufen, Bücher in einem Regal, Fliesen auf dem Boden, die korrekte Anzahl der Tassen und Teller im Schrank, einfach wirklich alles, was zählbar war.“

Sie war während ihrer Ausführungen immer lauter geworden.

„Und wenn jemand weiß, woher die Redewendungen ‚nicht mehr alle Latten am Zaun‘ oder ‚nicht mehr alle Tassen im Schrank‘ kommen könnten, dann sicherlich ich. Es war einfach nicht mehr zu ertragen.“

Sie hatte sich immer weiter nach vorne gelehnt und ließ sich nun erschöpft in den Sessel zurücksinken. Dann ergänzte sie ihre Ausführungen leise: „Wenn ich nicht so unter ihm gelitten hätte, könnte er mir nun fast leidtun. Nun aber zu sagen, das habe er nicht verdient, erschiene mir scheinheilig. Und eines kann ich Ihnen sagen“, setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu, „Sie werden wenige finden, die anders darüber denken.“