Wundersame Geschichten II

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Jedenfalls war er nach den Vorstellungen seines Vaters, dessen Gedanken mit zunehmendem Alter immer mehr um seine mögliche Nachfolge kreisten, der dafür am wenigsten geeignete Sohn, so gutmütig und anhänglich der Junge auch war. Gegenüber seinem Ältesten hatte er ein paar Vorbehalte, gewisse Zweifel, ob der die komplizierten Zusammenhänge der Staatsgeschäfte übersehen und bewältigen könne. Als Kriegsminister würde er seine Aufgabe ohne Zweifel gut machen in seiner Gradlinigkeit und mit seiner Entschlusskraft. Im Übrigen war die Gefahr, dass er Unheil anstiften könne, ja nicht so groß, weil es für Friedland inzwischen keinen Krieg mehr gab. Blieb also Osgar. Den musste er weiter fördern und lenken, obwohl er wegen dessen Neigung zur Geheimnistuerei und manchmal vorschnellen Handlungen auch ihm gegenüber oftmals Zweifel hatte. Die zunehmenden Sorgen eines Monarchen, der an die Zukunft seines Landes dachte.

Und nun war als viertes Glied der nächsten Generation dieses beeindruckende Mädchen da: Editha. Welche Rolle mochte ihr in der Zukunft zukommen? Der König hatte in seiner Weisheit bald erkannt, dass die geistigen Gaben seiner Tochter, ihre Intelligenz, ihre Bildung, ihr Gedächtnis und ihre Ausdrucksfähigkeit die ihrer Brüder weit übertrafen. Trotzdem kam ihm, dem machtpolitisch orientierten Monarchen, als Erster die Frage in den Sinn, die er sich schon bei Edithas Geburt gestellt hatte: Wie kann ich ihre Verheiratung am besten zum Wohl des Landes und der königlichen Familie nutzen? Und wie damals war natürlich die Königin die Erste, die er mit dieser Frage konfrontierte. Dabei bemerkte er, dass man nicht ganz ohne seine Schuld die Schwierigkeit habe, dass das Mädchen eigentlich fast zu alt sei, um den bestmöglichen – das heißt im Interesse des Landes und der Familie – Bewerber zu finden.

Königin Roswitha hatte ihren Mann ausreden lassen und eine besorgte Miene aufgesetzt.

»Wie du dir vorstellen kannst, lieber Ermerich, habe ich seit Langem und oft darüber nachgedacht und sogar mit Editha darüber gesprochen. Sie hat mir damals – es liegt mittlerweile mehr als ein Jahr zurück – gesagt, dass sie nicht oder jedenfalls noch nicht ans Heiraten denke. Auf meine Frage, wie sie sich ihr weiteres Leben denn vorstelle, hat sie mir erklärt, dass sie am liebsten eine Position erreichen möchte, in der sie dem Land am besten dienen könne. Und damit meinte sie unmissverständlich nicht eine günstige Heirat, sondern eine Aufgabe in der Regierung und Verwaltung dieses Landes. Ich habe diese Angelegenheit damals nicht weiter vertieft, weil das im Grunde über meine Möglichkeiten hinausging und etwas ist, das du entscheiden musst. Nun ja, damals hatten wir bekanntlich eine leichte Störung in unserer Beziehung ...«, die Königin war etwas rot geworden und sah zu Boden, als sie dieses sagte, blickte dann aber wieder auf und fuhr tapfer fort, »... und es eilte damals ja nicht so sehr. Im Übrigen lassen ihre Begabungen ja durchaus den Gedanken zu, dass sie der Familie und dem Land auch in anderer Weise nützlich sein könnte als durch eine geeignete Heirat und Kinderkriegen, von ihren persönlichen Wünschen einmal ganz abgesehen.«

Der König hatte seiner Gemahlin mit wachsendem Erstaunen zugehört.

»Ein ganz ungewöhnlicher, fast revolutionärer Gedanke, meine Liebe«, räumte der König ein. »Unsere Tochter als Staatsbeamtin? Eine Frau in einem höheren Regierungsamt? Das war noch nie da.«

Er hatte die Stirn gerunzelt und war in Nachdenken versunken. Schließlich gab er zu: »Ich bin geneigt anzuerkennen, dass der Gedanke bei den außerordentlichen Gaben von Editha seine Meriten hat. Unser Land sollte eigentlich keinen Geist dieser Kapazität brachliegen lassen, nur weil er in einer Frau wirkt. Trotzdem wäre ein solcher Schritt wirklich ganz außergewöhnlich.« Er sah auf. »Pardon, Roswitha, das soll die Bedeutung deines Geschlechts nicht herabsetzen und meine Verehrung für dich und alle Frauen des Landes nicht mindern. Aber es läuft nun einmal allen Traditionen zuwider. Manche werden sogar behaupten, es stelle die göttliche Weltordnung auf den Kopf. Immerhin will ich darüber nachdenken und mir die möglichen Folgen überlegen, die eine solche Entwicklung mit sich bringen könnte. Wenn es dir passt, werde ich dich zur Fortsetzung dieses Gesprächs morgen zur gleichen Zeit wieder besuchen.« Und er küsste seiner Frau die Hand zum Zeichen seiner Verehrung.

Als der König seine Frau am nächsten Tag besuchte, hatte sich seine Miene längst nicht aufgehellt.

»Du hast mir da eine der schwierigsten Fragen meiner Tätigkeit als regierender Fürst dieses Landes gestellt, ob höhere Staatsämter für geeignete Frauen offenstehen sollten. Ich fühle mich einfach nicht in der Lage, die Konsequenzen zu übersehen, die das für unser Land und seinen Frieden haben kann. Ich habe mich deshalb dazu entschlossen, gegebenenfalls den Thronrat einzuberufen und ihm diese Frage vorzulegen und im Interesse unserer Tochter für eine Zustimmung zu werben. Das setzt allerdings voraus, dass ich die Vorstellungen unserer Tochter und ihre Argumente genau kenne und selbst auch akzeptiere, und dafür sollten wir uns beide ausführlich mit ihr darüber unterhalten. Vielleicht hat sie sich ihre Zukunftswünsche überlegt und folgt eher dem Zug der Natur, der nach meiner jedenfalls bisherigen Überzeugung in jede Frau den Wunsch nach einer geordneten Ehe und nach Mutterschaft gelegt hat.«

Am selben Abend erhielt Prinzessin Editha die Nachricht, dass ihre königlichen Eltern sie am nächsten Morgen um 11 Uhr im Arbeitszimmer des Königs sprechen möchten. Ein besonderer Grund war nicht angegeben, aber die Nachricht war wegen ihrer Förmlichkeit und der Tatsache, dass dieses Gespräch im Arbeitszimmer des Königs stattfinden sollte, Anlass genug, Editha und vor allem Amanda Frowien in Aufregung zu versetzen. Amanda hatte gleich den richtigen Instinkt.

»Da dich beide Eltern sehen wollen und dazu in den Räumen des Königs, wird es um deine Zukunft gehen, Editha. Wahrscheinlich wird der König dir eine deinen Eltern passend und nützlich erscheinende Ehe vorschlagen. Alt genug bist du dafür ja. Da deine Eltern, ja, auch dein Vater, dich lieben, halte ich es für möglich, dass sie dich nach deinen Wünschen fragen. Jetzt musst du Farbe bekennen und klar zum Ausdruck bringen, was dir zurzeit mehr am Herzen liegt als eine Heirat. Wir haben ja genug darüber gesprochen. Wahrscheinlich kannst du dir nicht einmal vorstellen, wie schwierig es für deinen Vater ist, deinem Wunsch, ein öffentliches Amt anzustreben, nachzugeben. Mein Wunsch und Rat ist, dass du deine Argumente mit Ruhe und Sachlichkeit vorträgst, dabei aber auch alle dir so reich zur Verfügung stehenden Mittel der Argumentation und sanften Überredung nutzt. Nur eines darfst du nicht: die Ruhe verlieren oder gar trotzig reagieren. Dies wird eine schwerere Prüfung, als du sie bisher jemals erlebt hast. Meine guten Wünsche begleiten dich.«

Als Editha am nächsten Tag das Arbeitszimmer des Königs betrat, fühlte sie die Nähe ihrer Eltern und eine gewisse Spannung im Raum. Sie nahm, von ihrem Vater geleitet, Platz auf einem der kleinen Sofas und wartete auf das, was ihre Eltern ihr zu sagen hatten.

Der König begann: »Wir möchten heute mit dir einmal ausführlich über deine Zukunft sprechen, liebe Editha. Du bist jetzt in einem Alter, in dem jede junge Frau sich überlegt oder jedenfalls überlegen sollte, ob sie nicht in den heiligen Stand der Ehe tritt, der nach allen Traditionen der Hafen ist, in dem die Zukunft einer jungen Frau liegt. Wie du weißt, ist dies der wichtigste Schritt im Leben einer jungen Frau, da von der Wahl des Mannes im Wesentlichen das Gedeihen der Familie, das Glück der Eheleute und ihrer Kinder abhängt, wie deine Mutter und ich nur zu gut bezeugen können. Ich als dein Vater bin dazu berufen, dich eines Tages einem jungen Mann zu treuen Händen zu übergeben, von dem ich hoffen kann, dass er dich glücklich macht. Da ich nicht nur Vater bin, sondern regierender König unseres schönen Friedlands, spielen bei der Frage, ob dieser junge Mann meine Tochter glücklich machen wird, ebenso Erwägungen mit, ob diese Ehe auch Bedeutung für Friedland hat. Wir wissen, dass du einsichtig genug bist, die Wichtigkeit dieses Punktes anzuerkennen.«

Editha dachte: »Wie recht Amanda mit ihrer Ahnung über den Inhalt dieses Gesprächs hatte.«

Der König war aufgestanden und ging ein paar Schritte auf und ab, wie er es immer tat, wenn er nachdachte.

»Wegen deiner Behinderung muss es für dich schwierig sein, selbst eine Wahl zwischen den jungen Männern zu treffen und du hast deswegen ja kaum Gelegenheit gehabt, weit oder sogar international herumzukommen. Trotzdem wollen wir zunächst einmal mit dir überlegen, ob du selbst irgendeinen Mann kennengelernt hast, der in dir den Wunsch erweckt hat, einen von ihnen zu heiraten. Dein Glück soll uns wichtigster Richtpunkt unserer Überlegungen sein.«

»Nein, liebe Eltern. Das habe ich nicht. Ich habe zwar inzwischen viele Männer als Lehrer, als Partner bei Diskussionen und Vorlesungen, in der Musik und beim Tanz oder gesellschaftlich kennengelernt und oft Vergnügen in ihrer Gesellschaft empfunden. Aber ich habe bisher nie den Wunsch gehabt, jemandem persönlich näher zu kommen. Und was auch wichtig sein mag: Keiner hat je versucht, mir zu nahe zu kommen, näher als bei den Hebungen im Tanz oder beim Klavierspiel zu vier Händen.«

»Wir könnten kulturelle Veranstaltungen veranlassen, Bälle, Reisen, Besuche bei befreundeten Königshäusern, die dir Gelegenheit geben würden, jungen begabten Männern möglichst gleichen Ranges zu begegnen. Wir haben, was dich, dein Erscheinungsbild und deine inneren Gaben betrifft, keinen Zweifel, dass viele geeignete junge Menschen um dich werben würden, von denen du, mit unserer Unterstützung und gewissen Leitung, den besten auswählen könntest. Sollen wir das versuchen?«

 

»Ich fühle die Liebe, die es euch eingibt, mir so etwas vorzuschlagen, liebe Eltern. Und ich bitte herzlich um euer Verständnis, wenn ich diesen Vorschlägen nicht oder jedenfalls noch nicht folgen möchte. Ich bin froh, dass ich in den letzten Jahren viel lernen konnte. Ich fühle den Drang in mir, meine geistigen Gaben zu gebrauchen und habe mir zurechtgelegt, dass sie am besten angewendet wären, wenn ich eine Stellung anstrebe, in der ich unserem Land diene, dessen Wohl mir wie euch so am Herzen liegt.«

»Deine Mutter hat mir gesagt, dass du vor einiger Zeit ähnliche Gedanken geäußert hast. Aber sie hat mit dir nicht diskutiert, dass ein solcher Wunsch in unserer Gesellschaft kaum zu erfüllen ist, die von einer klaren Verteilung der Aufgaben zwischen den Geschlechtern ausgeht und die Führung öffentlicher Geschäfte den Männern zuordnet und die Gestaltung der inneren Ordnung, die auf der Familie beruht, weitgehend den Frauen. Eine Veränderung dieser Tradition ist schwierig, insbesondere wenn sie von einer Prinzessin der regierenden Familie kommt.«

»Das habe ich wohl bedacht, mein Vater. Ist es wirklich nur Aufgabe der Frau, für Kirche, Küche und Kinder und vielleicht für die Unterhaltung der Männer zu sorgen? Traditionen sind wichtig. Kein Mensch kann das bezweifeln. Aber überleben sie sich nicht, wenn sie dazu führen, dass geistiges Potenzial, das in jedem Menschen lebt, verdorren muss, weil eine Tradition nicht zulässt, dass es blüht und Frucht trägt? Und wer könnte in dieser Richtung ein Zeichen setzen? Doch nicht eine Ausnahmefrau aus dem Bauernstand! Es müsste schon eine sein, die nach den Usancen Vorbildfunktion in der Gesellschaft hat.«

»Du sprichst ein großes Wort gelassen aus, mein Kind! Das hat einmal einer gesagt, der größer war als ich. Es passt aber hier wie auf viele Diskussionen, wie diese. Deine Mutter und ich sind sogar bereit, dir in deinen Wünschen wenn möglich zu folgen, wissen allerdings, dass es großer Anstrengungen bedarf, diese Wünsche zu erfüllen. Gibt es denn einen Bereich, der dich besonders interessiert und in dem du dir ein Ziel öffentlicher Tätigkeit vorstellen könntest?«

»Der Bereich ›Finanzen und wirtschaftliche Entwicklung‹, also das Finanzministerium, das diese Aufgaben vereint.«

Völlig verblüfft sahen sich König Ermerich und die Königin Roswitha an.

»Bei Adalbert Miser, unserem Finanzminister? Warum denn gerade bei dem? Das ist doch eine außerordentlich trockene Materie, ein Bereich, der in der öffentlichen Wertschätzung wirklich den untersten Rang einnimmt. Warum nicht eher im Ministerium für Kultur, Wissenschaft und Künste, einem Bereich, in den du mit deiner Bildung und deinen Gaben vielleicht etwas bewegen könntest? Oder im Ministerium für innere Ordnung, das unser Gemeinwesen gestaltet und überwacht?«

»Vielleicht weil ich von den öffentlichen Finanzen und den Dingen, die gestaltend auf die wirtschaftliche Lage unseres Landes einwirken, die geringste Ahnung habe. Ich habe das deutliche Gefühl, dass sich in diesem Ministerium die Stellschrauben dafür befinden, ob es unserem Land gut oder schlecht geht, ob Handel und Manufakturen blühen, Straßen und Kanäle gebaut werden und Militär und Polizei gut ausgerüstet werden können. Dort werden nicht nur die Steuern und Gebühren festgelegt, dort werden auch die Lizenzen und Rechte für neue Industrien vergeben, die wirtschaftlichen Streitigkeiten ausgefochten und vieles andere mehr. Insgesamt gehen von dort ganz offensichtlich die wichtigsten Impulse für das wirtschaftliche Befinden des Landes aus. Viele Leute, die sicher klüger waren als ich, haben gesagt, dass der Zustand der Ökonomie für den Zustand eines Landes verantwortlich sei. Wann sind Menschen zufrieden? Wenn es ihnen wirtschaftlich einigermaßen gut geht. Wenn Friedland ein Friedland sein will, dann müssen seine Menschen zufrieden sein. Und wie man darauf hinwirken kann, das möchte ich lernen.«

König und Königin konnten sich von ihrem Erstaunen kaum erholen. Editha hatte nicht bemerkt, dass der König während ihrer Rede Blicke mit der Königin gewechselt hatte und sich sogar mit seinem Taschentuch Schweiß von der Stirn wischte.

Schließlich sagte der König: »Eine außerordentlich klare Meinung, liebe Tochter. Wir wollen das bedenken und versuchen, deinen Wünschen Rechnung zu tragen. Das wird ein schwieriges Unterfangen. Wegen der vielen Vorbehalte, die es in dieser Frage in weiten Kreisen des Landes geben wird, komme ich wahrscheinlich um eine Diskussion mit dem Thronrat nicht herum. Wir wollen aber über diese Frage weiter mit dir sprechen und dich in deinen Wünschen nicht alleine lassen.«

Und damit begleitete er seine Tochter zur Tür, wo Amanda Frowien schon auf sie wartete.

Selten war der König von einer Frage so bewegt gewesen, wie von der, vor die ihn seine Tochter gestellt hatte, und selten hatte es eine Sitzung des Thronrates gegeben, in dem die Meinungen so kontrovers aufeinanderprallten wie die, in dem über die Frage entschieden werden sollte, ob Prinzessin Editha für ein höheres Amt in der Finanzverwaltung vorbereitet werden dürfe. Der oberste Geistliche des Landes war entschieden dagegen, mit ihm die Mehrheit der Vertreter der alten Adelsfamilien. Dafür sprachen sich der alte Premierminister, der Oberste Richter und die Mehrheit der Landesvertreter und Stände aus. Schließlich lag die Entscheidung in der Hand des Königs. Der bedachte ein letztes Mal die ganze Streitfrage und entschied sich schließlich für die Wünsche seiner Tochter, weil er sie liebte und wusste, dass er etwas gutzumachen hatte.

Ein paar Wochen später war Editha als eine Art Trainee im Finanzministerium beschäftigt. Sie bekam wegen ihrer besonderen Position ein eigenes Büro in dem Riesenbau, wo sie pünktlich von morgens um neun bis abends um fünf saß und erst langsam, dann immer intensiver mit den Dingen, die in einem Finanzministerium anfallen, vertraut gemacht wurde. Als Erstes hatte sie gebeten, dass sie während ihrer Tätigkeit im Amt nicht mit dem ihr gebührenden Titel Königliche Hoheit, sondern mit ihrem Familiennamen Editha von Stolzenburg, dem Hausnamen des Geschlechts ihrer Familie nach der alten Stammburg, angeredet werde. Adalbert Miser hatte erst erschrocken auf die Aussicht reagiert, eine Prinzessin der königlichen Familie und dazu eine mit einem Handicap bei sich beschäftigen und sie ausbilden zu müssen. Diese Haltung hatte sich schnell geändert, als er sie näher kennenlernte. Nie zuvor war er einem Menschen begegnet, der so schnell ökonomische Zusammenhänge einsah wie diese junge Frau, noch nie jemandem, der die Einflüsse der verschiedenen Steuern und Abgaben, die Gewährung von Steuererleichterungen, Subsidien auf wirtschaftliche Entwicklungen begriff wie sie. Er setzte seine besten Mitarbeiter ein, um sie zu informieren und zu schulen und konnte nach achtzehn Monaten seinem König in einer privaten Audienz sagen: »Wir können ihr nichts mehr beibringen, Majestät. Sie fängt mit ihrer Sachkenntnis und ihrem ausgewogenen Urteil tatsächlich an, Einfluss auf das zu nehmen, was wir tun. Sie hat sogar endlich einen Weg gefunden, wie wir die lange überfällige neue Abwasserentsorgung der Hauptstadt durch eine kaum merkbare Erhöhung der Anliegerbeiträge finanzieren können. Ich werde das in der nächsten Kabinettssitzung vortragen. Ich wäre froh, wenn sie bei uns bliebe.«

Ein Jahr später war Editha eine der beiden stellvertretenden Finanzminister des Landes Friedland. Sie ging in ihrer Aufgabe auf. In ihrer neuen Rolle bekam sie nun täglich mit allen anderen Ministerien und sonstigen öffentlichen Behörden des Landes zu tun und musste mit ihnen finanzielle und wirtschaftliche Fragen regeln, eine, wie jeder weiß, oft außerordentlich schwierige Aufgabe, bei der es wegen der unterschiedlichen Interessen oft Streit und Unfrieden gibt. Nach einiger Zeit sprach sich herum, dass sie diese Verhandlungen mit großer Umsicht, viel Verständnis für die verschiedenartigen Interessen mit bemerkenswertem Verhandlungsgeschick zu einem einvernehmlichen Ergebnis zu führen wüsste. So kam es, dass Adalbert Miser, der Finanzminister, sie immer häufiger für die ganz besonders komplizierten Verhandlungen einsetzte. Natürlich war sie inzwischen auch dem Premierminister, Graf von der Bocksburg, und den anderen Ministern bekannt und nahm sogar an den monatlichen Regierungssitzungen in Gegenwart des Königs teil, allerdings nur in der zweiten Reihe hinter den Ministern. Aber in etlichen besonders heiklen Fällen wurde auf Vorschlag des Finanzministers auch ihr das Wort erteilt. Dann beeindruckte sie alle, nicht zuletzt ihren Vater, durch die sachliche Kürze und Klarheit ihrer Darlegung der schwierigsten Zusammenhänge und die Folgerichtigkeit ihres Urteils und ihrer Empfehlungen. Wenn wieder einmal eine solche Sitzung durch ihre Mitwirkung mit einem Erfolg für das Finanzministerium zu Ende gegangen war, dann führte der erfreute Adalbert Miser seine Stellvertreterin manchmal selbst zu der vor dem Schloss wartenden Kutsche, half ihr beim Einsteigen und tätschelte sogar einmal väterlich ihre Hand und sagte: »Das haben Sie wie üblich großartig hingekriegt, Editha von Stolzenburg.«

Als zwei Jahre später Finanzminister Adalbert Miser aus dringenden gesundheitlichen Gründen seinen Abschied nahm, machte der Premierminister dem König den Vorschlag, dessen bisherige Vertreterin, Editha von Stolzenburg, zum neuen Finanzminister zu ernennen. Ihr Ziel war erreicht. Sie war erst sechsundzwanzig Jahre alt und saß nun unmittelbar am Tisch der Regierung, an dem ebenfalls ihre beiden Brüder Ansgar und Osgar als Kriegs- und als Justizminister saßen. Nur ihr Bruder Rutgar führte weiter sein etwas unstetes, sehr privates Leben als Jäger und Landedelmann auf seinen Gütern. Sie trafen sich aber alle mindestens jeden zweiten Monat bei ihrem Vater, dem König, und sprachen dort über Familienfragen und über Themen, die das Wohl des Landes angingen. Auch Königin Roswitha saß meistens mit in der Runde. Es war eine Freude für die Eltern zu sehen, wie gut sich die Geschwister verstanden, vor allem, wie sehr die Brüder ihrer ›kleinen‹ Schwester zugetan waren und ohne irgendwelche Vorbehalte oder irgendein Zeichen von Neid oder Missgunst ihre Leistungen bewunderten.

Inzwischen war übrigens nirgendwo im Lande mehr die Rede von der ungewöhnlichen Tatsache, dass eine Frau in eines der höchsten Regierungsämter aufgestiegen war. Natürlich änderte sich die allgemeine Auffassung, dass der Weg in die normale Berufswelt, und dort vor allem in die höheren Ränge, Männern vorbehalten sei, durch dieses Beispiel nicht von heute auf morgen. Traditionen, althergebrachte, oft religiös legitimierte Auffassungen, sogenannte Sitten und Gebräuche, ändern sich nur langsam und zögerlich. Das Beharrungsmoment in der Meinung darüber, was dem Menschen gut oder böse, richtig oder falsch erscheint, ist so groß, dass man vermuten könnte, es liege in seinen Genen. Aber wenn etwas zu einer Änderung führen kann, dann ist es das überall sichtbare prominente Beispiel. Es ist wie mit der erfolgreichen Mutation in der Natur, in der sich das Lebewesen, das sich einer veränderten Umwelt am besten anpasst, die Veränderung der Art bestimmt. Und was dort Hunderte, ja Tausende von Jahren braucht, braucht bei den Menschen zumindest eine oder sogar mehrere Generationen, die sich allmählich einem sich ändernden Zeitgeist anpassen. Das Beispiel von Editha wirkte, wenn auch langsam. Auf sie beriefen sich junge Frauen, die mehr wollten, als von ihren Vätern verheiratet zu werden, die selbst etwas erreichen wollten. Die Zahl der weiblichen Studierenden schwoll an. In den Leitungen der Regierungsbehörden, der öffentlichen Verwaltungsstellen und der Wirtschaft fragten sich die Verantwortlichen nun doch gelegentlich, ob sie nicht einer besonders qualifizierten Frau den Vorzug vor einem konkurrierenden Mann geben sollten, und beriefen sich auf das große Beispiel der Frau, die nun die Finanzministerin war. Ein Jahrhundertschritt im sozialen Gefüge des Landes hatte begonnen, mit allen Problemen, die solche Umwälzungen mit sich bringen. Wenn man die Entwicklung von Friedland aus der Langzeitperspektive betrachtete – und es gab ja genug Wissenschaftler, die sich damit befassten –, dann gab diese schleichende Entwicklung für manche bald Grund für alarmierende Perspektiven, die meist in der Warnung mündeten, das Land werde nicht nur sein inneres Wachstum, sondern sogar seine Regenerationsfähigkeit verlieren, wenn sich die Frauen gleichberechtigt mit den Männern im Berufsleben engagierten und die wichtigste Rolle, die ihnen die Natur und ihr folgend die Religion zugewiesen habe, das frühe und häufige Kinderkriegen, zurückstelle oder gar ganz aufgebe. Aber diese Warnungen erwiesen sich als unberechtigt.

 

Eines Abends, als Editha nach einem anstrengenden Tag im Ministerium in ihre Wohnung im Schloss zurückkehrte und mit der inzwischen grau gewordenen Amanda Frowien – schon lange nicht mehr Gouvernante oder Tutorin, sondern Ratgeberin und Begleiterin – beim Nachtmahl saß, erklärte diese ganz unvermittelt: »Eigentlich ist es Zeit, mein Kind ...« – sie benutzte mit dem lächelnden Einverständnis von Editha gelegentlich dieses Kosewort – »... dass wir daran denken zu heiraten.«

Editha fielen beinahe Messer und Gabel aus der Hand. Und dann noch dieses Wort ›wir‹ in dem Zusammenhang. Editha war es gewohnt, die Worte ihrer Mentorin ernst zu nehmen. Allerdings fiel ihr auf diese völlig unerwartete Mahnung, trotz ihrer normalerweise bedachten Art, auch im entspannten Umgang mit Amanda Frowien nur eine Banalität als Antwort ein.

»Muss das gleich heute sein und wen hast du für uns ausgesucht?«

Damit hatte sie einen Lacherfolg bei Amanda. Nachdem sie sich beruhigt hatte, hakte Amanda nach: »Hat es Zweck, mit dir ernsthaft darüber zu reden?«

»Ich weiß nicht, Amanda, ich glaube eher nicht, jedenfalls nicht heute Abend. Ich bin reichlich geschafft und möchte lieber nachher noch etwas Musik hören. Es soll um neun einen Abend mit virtuoser Klaviermusik geben. Meine Mutter hat fragen lassen, ob wir nicht kommen wollen.«

»Na, wenn nicht heute, dann in den nächsten Tagen, wenn dir eher der Sinn danach steht«, beendete Amanda das Gespräch.

Zwei Tage später fing sie erneut davon an, holte sich wieder ein Refus von Editha, ließ aber nicht locker.

»Du bist merkwürdig insistent in dieser Frage, liebe Amanda«, wunderte sich Editha eines Abends, als Amanda ihr aus Akten vorgelesen hatte, die Editha aus dem Ministerium mitgebracht hatte. »Warum willst du so unbedingt mit mir über das Heiraten reden?«

»Weil das Heiraten für alle Frauen, mit ganz wenigen Ausnahmen, die wichtigste Sache in der Welt ist, und weil das Land darauf angewiesen ist, dass seine Frauen heiraten und Kinder kriegen. Ich bin sicher, dass deine Eltern sich ernsthafte Gedanken darüber machen, dich in absehbarer Zeit zu verheiraten. Sie werden bald bei dir anklopfen und dann musst du wissen, was du antworten willst. Du musst dich einfach mit dem Gedanken befassen und überlegen, was für einen Mann du dir wünschen würdest, wenn du überhaupt heiraten willst. Du musst versuchen, dir mit deinen Mitteln von ihm ein Bild zu machen. Und dabei kann ich dir helfen. Du bist jetzt immer noch in einem guten Alter zu heiraten, und ich würde meine Pflicht dir gegenüber, jedenfalls wie ich sie sehe, verletzen, wenn ich mit dir nicht über das Heiraten und einen möglichen Ehepartner reden würde. Im Übrigen ist das Heiraten und Kinderkriegen die schönste Sache der Welt – wenn man den richtigen Mann abbekommen hat.«

»Woher nimmst du denn diese Weisheit? Du liest hoffentlich keine Schundromane?«

»Ich war einmal verheiratet und hatte ein Kind.«

Editha war für einen Moment wie vor Schreck fast sprachlos. Sie stotterte beinahe. »Du warst verheiratet? Und warst Mutter, Amanda? Ich kann es ja gar nicht fassen! Warum hast du mir das denn nie erzählt?«

»Ich habe erst, bald nach der Hochzeit, den Mann verloren und dann ist meine Elfie, ein kleines Mädchen, als Baby gestorben. Es war ein kurzes Glück. Ich habe das nicht verwunden und die Erinnerung daran tief in mir vergraben. Ich war erst zweiundzwanzig, als das geschah. Ich hatte eine gute Bildung und beschloss, Schottenland zu verlassen, um als Gouvernante mit kleinen Kindern anderer Menschen zu arbeiten und ihnen meine Liebe anzubieten.«

Editha war tief gerührt aufgestanden und hatte ihre Lehrerin und Freundin umarmt. Sie setzte sich mit ihr aufs Sofa und hielt ihre Hände fest in ihren.

»Wenn du darüber reden magst, dann würde ich gerne mehr wissen. Ich will dich hingegen nicht drängen, wenn du diese Dinge begraben sein lassen willst. Aber ich sehe nun ein, dass du, so wie du mir zugetan bist und weil dein Rat für mich immer wichtigste Leitlinie meines Lebens war, auch das Recht hast, mit mir über die Frage einer Heirat zu reden. Umso mehr, als dein Rat sich auf Erfahrung stützt. Ich will das gern in diesen nächsten Tagen mit dir eingehend und möglichst ohne Vorbehalte tun. Aber eines muss ich dir schon jetzt sagen: Mir ist die Vorstellung, dass ich einem Mann gehören soll, den ich nicht sehen kann, während er mich sieht und den ich deshalb wohl nie so kennenlernen kann, wie er mich, kaum erträglich. Du müsstest eigentlich wissen, wie schön es ist, einem anderen Menschen in die Augen sehen zu können, um in seiner Seele zu lesen, um zu erkennen, ob seine Worte aus dem Herzen kommen oder nicht. Wie schwer es doch ist, solche Einsichten aus dem Timbre des Wortes des anderen oder dem Druck und Gefühl seiner Hände oder Haut zu lesen. Möglicherweise ist darin die tiefe Angst begründet, die ich davor habe, andere Menschen falsch einzuschätzen, jedenfalls bis ich sie und ihr Wesen so kennengelernt habe, wie es zum Beispiel mit dir der Fall ist. Könntest du dir vorstellen, dass meine Eltern zustimmen würden, wenn ich mir ein Probeleben mit einem Mann zum näheren Kennenlernen für die Dauer von mindestens einem Jahr erbitten würde, bis ich entscheiden kann, ob ich ihn heirate oder nicht?« Sie musste bei der Vorstellung selbst lachen und Amanda stimmte in das vergnügte Lachen ein.

Wieder ernst geworden fuhr Editha fort: »Und dynastischen Vorstellungen, mich dem Meistbietenden oder dem nach veralteten Parametern ausgewählten Edelsten anzubieten, ist, jedenfalls wie ich das fühle, unwürdig. Ich bin doch kein ausgesuchtes Stück Fleisch oder ein für die Zucht bestimmtes Rennpferd. Und bei meiner Behinderung: Was weiß ich, ob der Mann, den man mir aussucht, besser ist als der nächstbeste Bierkutscher oder Hafenarbeiter, die beide sehr honorige, charakterlich einwandfreie Menschen sein können. Nein danke.«

Sie waren mitten in der Debatte. Amanda erkannte, dass sich Editha ihrerseits schon mehr Gedanken über die Frage einer möglichen Heirat gemacht hatte, als sie zu erkennen gegeben hatte.

»Ich sehe deinen Standpunkt und deine Befürchtungen, Editha. Ich möchte nur ergründen, ob du dir darüber klar bist, auf was du verzichtest, wenn du einer Heirat nicht zustimmst.«

»Kann ich mir darüber im Klaren sein? Natürlich nicht. Auf etwas verzichten, das man nicht kennt, ist eine Risikoentscheidung. Sie ist umso gravierender, wenn alle Welt sagt, wie schön das ist, auf das man verzichtet. Es ist ein Dilemma, wenn man weiß, was einen ohne diese Risikoentscheidung erwartet. Bei mir eines Tages das Leben als alte Jungfer, möglicherweise mit glücklichen Brüdern, Schwägerinnen, Nichten und Neffen, aber in einem angesehenen Beruf, der einen fesselt und in dem man aufgeht. Ich bin entschlossen, diesen Weg zu gehen.« Sie seufzte. »Ach, warum ist es so verdammt schwer, in die Zukunft zu sehen.«

Darauf wusste Amanda nichts mehr zu antworten. Jedenfalls nicht an diesem Abend. Ein paar Tage später fand sie jedoch die Möglichkeit, mit der Königin über diese Frage zu sprechen und sie vertraute ihr die Zwiespältigkeit ihrer Tochter an. Die ihrerseits sprach mit ihrem Mann. Sie überlegten lange, welche Möglichkeiten es gebe, das Beste für ihre Tochter zu finden. Sie fanden keine andere, als ihr ihren Willen zu lassen.

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