Wundersame Geschichten II

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Die Königin hatte die Entwicklung ihrer Tochter erst mit mütterlicher Liebe, dann mit wachsendem Interesse und schließlich mit großem Erstaunen verfolgt und alle Vorschläge, die von der nimmermüden Amanda Frowien kamen, von Herzen unterstützt. Sie hatte ihre Tochter jetzt, da sie sechzehn Jahre alt war, häufig um sich und freute sich an ihrer Schönheit und Grazie, ihrer wachsenden Bildung und völlig unaufdringlichen Klugheit. Sie ließ sich und ihren Damen von ihr Geschichten erzählen oder etwas vorspielen und lud zunehmend Menschen von Rang und Wissen in ihren Circle, wie sie diese Stunden am Nachmittag nannte, zu Diskussionen ein, um sich daran zu freuen, wie ihre Tochter sich mit diesen oft bedeutenden Menschen über alle mögliche Themen unterhielt, die weit über dem Niveau der sonstigen jungen Leute ihres Alters lagen. Die Königin hätte das nicht wiederholt, wenn sie nicht gemerkt hätte, wie ernst ihre Besucher ihre Tochter nach nur kurzem Gespräch nahmen. Es füllte sie einfach mit Genugtuung, wenn sich ihre Gäste später nur lobend, ja oft begeistert über ihre Gesprächspartnerin äußerten. Auch die Söhne der Königin nahmen an diesen Treffen häufiger teil, konnten ihrer Schwester allerdings nicht das Wasser reichen. Daraus entstand jedoch kein ungutes Gefühl, keine Missgunst und kein Neid. Man hörte von ihren Brüdern nie ein Wort, mit dem sie männliche Überlegenheit gegenüber ihrer Schwester demonstrieren wollten. Sie hörten ihr wie viele andere bewundernd zu und klatschten, wenn sie ein besonders gutes Argument in die Diskussion gebracht hatte. Sie liebten ihre Schwester wie am ersten Tag, als sie sie in der Wiege liegen sahen und hörten, dass sie blind sei. Sie bewunderten sie sogar und hätten alles getan, um ihr das zu beweisen, selbst auf die Weise, wie junge Männer das oft beweisen wollen – mit roher Kraft.

Es gab eigentlich nur einen am Hof und darüber hinaus, der diesem Mädchen keine Bewunderung zollte, es nicht einmal zur Kenntnis nahm: ihr Vater, der König. Natürlich erfuhr er von dritter Seite, dass seine Tochter Editha sich zu einer außergewöhnlichen jungen Frau entwickelte. Er überhörte, wie seine eigenen Söhne sich bewundernd über ihre Schwester äußerten. Er sah sogar gelegentlich von fern, wie ein Mädchen, das nur sie sein konnte, mit der Königin und einer anderen Frau in der Kutsche ausfuhr. Er drehte sich dann weg. Wenn er die Königin besuchen wollte und damit rechnen musste, dass Editha bei ihr war und mit Männern diskutierte, die Rang und Namen in Friedland hatten, schüttelte er den Kopf und kehrte um. Er konnte sich einfach nicht dazu entschließen, den Groll, dem er mehr als sechzehn Jahre zuvor mit dem Wort Missgeburt Ausdruck gegeben hatte, zu vergessen. Er fühlte sich dabei inzwischen nicht mehr ganz wohl, aber man konnte ein solches Problem nicht einfach so ad acta legen. Schließlich war er doch der König!

Eines Tages kamen wieder einmal König Gunther und Königin Hermine von Wasserland zu Besuch. Während die beiden Könige weltpolitische Themen diskutierten, saßen die beiden Frauen in den Gemächern der Königin zusammen. Editha leistete ihnen Gesellschaft und beeindruckte Königin Hermine erneut mit ihrem Liebreiz und ihren klugen Bemerkungen, wenn sie dazu eingeladen wurde, sich am Gespräch der Königinnen zu beteiligen.

»Du bist wirklich ein hübsches und kluges Mädchen, liebe Editha«, sagte Königin Hermine. »Wohin soll das bei dir mit der Gelehrsamkeit und dem, was du in so vielen Dingen kannst und kennst, eigentlich führen? Habt ihr, deine Gouvernante und du, euch jemals Vorstellungen gemacht, was in den nächsten Jahren, wenn du 18 oder sogar 20 Jahre alt bist, sein soll? Willst oder sollst du dann verheiratet sein oder hast du andere Pläne?«

Tante Hermine war ja bekannt dafür, dass sie die Dinge beim Namen nannte und dabei auf Gefühle und Empfindlichkeiten keine Rücksicht nahm. Königin Roswitha war etwas rot geworden, weil ihre Schwägerin so offen Fragen ansprach, die ihr schlaflose Nächte verursachten. Tja, was sollte aus Editha werden? Ihre Tochter enthob sie der Antwort.

»Ich will noch nicht heiraten, Tante Hermine. Es mag ja ganz schön sein, einen Mann zu haben, der einen liebt und mit dem man Kinder kriegt. Nur für die absehbare Zukunft ist das nicht das, was ich unbedingt möchte. Ich möchte am liebsten etwas tun, das vielen Menschen hilft, zum Beispiel, was unserem Land nützt. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich das bewerkstelligen könnte. Ich habe schließlich keinen Zugang zu den Gremien, die die Entscheidungen für das Leben in unserem Land treffen. Das hängt alles von meinem Vater und seinen Regierungsbeamten ab.«

»Glaubst du denn, dass du dort etwas bewirken könntest, wenn du Zugang hättest?«

»Das weiß ich natürlich nicht, Tante Hermine, aber ich hoffe doch, dass man auch dort irgendwann auf sachliche Argumente hört. Und da könnte ich vielleicht beitragen, insbesondere wenn ich Gelegenheit bekäme, in bestimmten Bereichen der Regierung Erfahrungen zu sammeln.«

»Du scheinst wirklich zu wissen, wohin es gehen soll, mein Kind, obwohl das nach den Gepflogenheiten außergewöhnliche Wünsche für eine junge Frau sind, insbesondere wenn sie von Stand ist. Ich kann dich gut verstehen, weil ich so ähnlich dachte, als ich in deinem Alter war. Dabei hatte ich nicht deinen Kopf auf meinen Schultern und erst recht nicht konnte ich so gut tanzen wie du!«

Sie lachte laut auf bei dieser Feststellung und auch Königin Roswitha lächelte unwillkürlich in Gedanken an die behäbige Fülligkeit ihrer Schwägerin. Nur Editha blieb ernst und sagte: »Dazu kann ich mich nicht äußern, liebe Tante. Ich weiß nur, dass Sie eine der Menschen sind, die mir mit Ihrer Menschenkenntnis, Güte und Lebenserfahrung immer ein großes Vorbild sein werden.«

Danach bat sie ihre Mutter, sich zurückziehen zu dürfen, weil ein neuer Lehrer auf sie warte, küsste erst Tante Hermine und danach ihrer Mutter die Hand und verließ mit ihrer Tutorin und Freundin Amanda Frowien die Gemächer der Königin.

»Sie ist schon ein außergewöhnliches Geschöpf, liebe Roswitha! Ich meine deine Tochter! Du bist in der Tat gesegnet. Sie ist ein Juwel unter den jungen Frauen. Der Mann, der sie bekommt, kann dem Himmel danken, wenn er überhaupt fähig ist zu begreifen, was er bekommen hat. Habt ihr, ich meine, du und Ermerich, denn inzwischen irgendeine Heirat ins Auge gefasst, obwohl sie selbst offenbar noch keine Neigung dazu hat?«

»Nein, du weißt ja, dass Ermerich bis heute so tut, als gäbe es Editha nicht. Und ich alleine ...«

»Ach ja, natürlich weiß ich das. Ich kann diesen Menschen, ich meine meinen Bruder, überhaupt nicht verstehen. Da hat er eine Tochter, auf die jeder Vater stolz sein würde, und lässt diese größte Freude eines alternden Mannes einfach aus, verschanzt sich hinter einem völlig unsinnigen Vorurteil. Was für ein Dummkopf! Und das in seinem Alter! Er ist doch sonst ein Mensch mit offenen Augen und gutem Urteil. War es jedenfalls.«

Sie redete sich richtig in Rage und sprach, wie ihr der Schnabel gewachsen war, ohne Rücksicht auf Rang und Ansehen dessen, über den sie sich äußerte. Königin Roswitha war tatsächlich ein bisschen zusammengezuckt, weil sie kein Blatt vor den Mund nahm.

Als sie zu ihr hinsah, bemerkte sie, dass Hermine die Augen geschlossen hatte und sich mit ihrer linken Hand das Ohrläppchen rieb, ein untrügliches Zeichen für alle, die sie kannten, dass sie über etwas intensiv nachdachte. Plötzlich schlug sie die Augen auf und konzentrierte sich auf die Königin.

»Roswitha, ich glaube, wir müssen etwas tun. So geht das nicht weiter. Wenn ein Vater seine Tochter nicht liebt und sie missachtet, ist das sehr traurig. Wenn ein König seine Tochter nicht liebt und sie missachtet, dann ist das tragisch. Aber wenn ein König eine Tochter wie diese nicht liebt und missachtet, wird das zur Staatsaffäre. Und dagegen müssen wir etwas unternehmen. Wir sind schließlich die Nächsten. Es wäre doch gelacht, wenn wir als Frauen nicht Mittel und Wege finden können, Dinge geradezurücken, die unsere Männer und unsere Kinder betreffen.«

»Das ist schön und gut, Hermine! Sag mir wie? Ich habe lange genug auf ihn eingeredet.«

»Ich muss darüber länger nachdenken, meine Liebe, und werde bestimmt Mittel und Wege finden. Vielleicht würde es helfen, wenn du mir ein Gläschen Wein kommen lassen würdest, obgleich es erst früher Nachmittag ist.«

Was dann auch geschah.

»Ich glaube, ich weiß, was wir versuchen sollten ...«, meinte sie nach einiger Zeit, in der sie mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen in ihrem Sessel zugebracht und vor sich hin sinniert hatte, nur unterbrochen durch einen gelegentlichen kleinen Schluck aus ihrem Weinglas, »... wir müssen Ermerich sozusagen verführen. Ich kenne doch meinen Bruder. Er hatte von jeher ein Auge für Schönheit und war immer geneigt, etwas, das seinen Schönheitssinn ansprach, für sich gewinnen zu wollen. Was gibt es hier zurzeit Schöneres als deine Tochter? Und ihr Liebreiz und ihre Grazie offenbart sich am schnellsten und deutlichsten im Tanz, wie sie es uns nun schon ein paar Mal bewiesen hat. Natürlich gibt es ebenso die Schönheit ihres Verstandes und ihrer Gelehrsamkeit und auch insoweit sticht sie hervor. Diese Art Schönheit offenbart sich aber erst langsamer, und es braucht dafür eine geraume Zeit, zu viel Zeit für das, was ich vorhabe. Nun zu meinem Plan. Übermorgen Abend gebt ihr, du und Ermerich, uns einen großen Empfang und Ball. Bei dieser Gelegenheit sind doch immer irgendwelche künstlerischen Veranstaltungen vorgesehen. Wenn Editha vom Hoforchester begleitet und vom Ballett umrahmt, eine ihrer besonderen Darbietungen zeigt, dann muss Ermerich dieses zauberhafte Wesen, von dem er zunächst ja nicht einmal weiß, dass es seine Tochter ist, ihrer Kunst und Schönheit wegen auszeichnen, vor allem wenn der allgemeine Beifall wie voraussehbar groß sein wird. Er muss sie dann einfach lieben und begreifen, was er sich bis heute versagt hat. Ich bin ganz sicher. Was meinst du?«

 

»Ich bin völlig verunsichert. Ich folge aber gerne deinem Rat, denn eines ist sicher: Mit seiner starren Haltung hat sich Ermerich bisher selbst am meisten geschadet. Ich werde alles so zu arrangieren versuchen, wie du es vorgeschlagen hast. Insbesondere muss ich mit Editha Einzelheiten besprechen, was sie selbst am liebsten darbieten möchte, und dann die Räumlichkeit, in der sie sich bewegen wird, genau festlegen, damit sie sich bei ihrem Tanz sicher fühlt.«

Der große Abend kam. Im Ballsaal des Schlosses hatten sich auf Einladung des Königspaars die Menschen versammelt, die das Leben des Landes lenkten. Dazu gehörten selbstverständlich die Spitzen der Regierung, die Mitglieder des Adels, Vertreter der Stände und Kommunen, des Militärs, und natürlich herausragende Persönlichkeiten von Kunst und Wissenschaft. Es war eine besondere Ehre, eine der Einladungen zu einem der seltenen Hofereignisse zu erhalten, und deswegen waren alle gekommen und der Andrang groß. Der riesige Raum war gefüllt von Menschen in Festkleidung, die Männer in ihren besten Anzügen oder in Uniform, alle mit den Orden an der Brust, die sie sich wegen ihrer Verdienste um das Land erworben hatten, die Frauen in ihren schönsten Gewändern, viele sogar extra für diese außerordentliche Festlichkeit gefertigt und mit dem kostbarsten Schmuck angetan, den sie sich leisten konnten. Ein Heer von Dienern in der rot-goldenen Livree der Angestellten des Herrscherhauses eilte hin und her, um alle Gäste aufs Köstlichste zu bewirten. Im Raum vernahm man die gedämpften Stimmen einer großen Anzahl von Menschen. Parfümduft vermischte sich mit Zigarrenwolken und dem leichten Geruch der gereichten Speisen. Das alles wurde untermalt von den Klängen der Musik des Hoforchesters, das auf einer Empore an der einen Längsseite des Raumes saß und die Menge mit leichter klassischer Musik zu unterhalten suchte. Alle schienen sich prächtig zu amüsieren. Trotz allem lag eine Erwartung über dem Saal, denn die Hauptpersonen des Abends fehlten. Die vier Prunksessel und weiteren Stühle auf dem niedrigen Podest an der Längsseite des Saals gegenüber der Orchesterempore waren noch leer.

Auf die Minute genau um 20 Uhr brach die Musik plötzlich ab. Ein Fanfarensignal ertönte, der Hofmarschall war auf der großen Treppe erschienen, die an der einen Querseite hinab in den Saal führte, stieß seinen Amtsstab dreimal auf den Boden und rief mit erhobener Stimme in die Stille: »Ihre Majestäten König Ermerich und Königin Roswitha von Friedland und ihre Gäste, Ihre Majestäten König Gunther und Königin Hermine von Wasserland.«

Die so Angekündigten erschienen auf der Treppe, alle vier nebeneinander, die Königinnen in der Mitte, und stiegen, geführt von dem Hofmarschall, hinunter in den Saal mit den vielen Menschen. Die Menge teilte sich, um den beiden Königspaaren, gefolgt von den Prinzen von Friedland und ihren Vettern und Cousinen von Wasserland, den Weg zu ihren Plätzen auf ihrem Podest frei zu machen. Die ganze Gesellschaft versank in die übliche Geste der Untertänigkeit, den Hofknicks für die Damen und die tiefe Verbeugung für die Herren. Das Orchester hatte die Nationalhymne von Friedland angestimmt, es folgte die von Wasserland.

»Was für ein Aufwand«, dachte Adalbert Miser, der Finanzminister, in seiner Verbeugung verharrend, der mit seiner Frau ganz in der Nähe des Podiums der Königspaare stand. »Ich könnte dafür fast die neue Abwasserleitung finanzieren, die die Hauptstadt braucht.«

Die beiden Königspaare grüßten leutselig nach allen Seiten und nahmen schließlich ihre Sitze ein. Die Prinzen verteilten sich hinter ihnen auf den Stühlen. Auf ein Zeichen des Königs nahm das Orchester seine Darbietungen auf.

Bald darauf gab es wieder eine Unterbrechung der Musik. Der König hatte sich erhoben, um seine Gäste willkommen zu heißen. Er betonte die unverbrüchliche Freundschaft zwischen den beiden Ländern, die nicht zuletzt durch die familiären Bande der königlichen Familien gefestigt sei. Dann begrüßte er die anderen Gäste und wünschte allen einen erfreulichen Abend. König Gunther antwortete in gleicher Tonlage.

In der folgenden Stunde bat der Hofmarschall nacheinander ausgesuchte Gäste zum Podium der Majestäten, wo sie vorgestellt wurden und mit den Monarchen und ihren Frauen für fünf Minuten ein Gespräch führen konnten, in dem die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht wurden.

Schließlich trat der Hofmarschall vor, klopfte mit seinem Stab auf den Boden und erklärte, die königliche Familie möchte ihre Gäste gern mit einer besonderen Aufführung des Königlichen Balletts und dem Solotanz eines aufgehenden Sterns am Himmel der schönen Künste unterhalten. Er bitte die Gäste im Saal, aus dem Bereich zwischen dem Königspaar und seinen Gästen und der Orchesterempore gegenüber zurückzutreten. Livrierte Diener sorgten dafür, dass dieses große Geviert rasch frei war und stellten zwei Reihen Stühle an die Seitenlinien, die bald besetzt waren. Die Menge drängte sich dahinter, um möglichst viel zu sehen. Denn das Königliche Ballett war nicht nur im eigenen Land, sondern in der ganzen bekannten Welt berühmt.

Das Orchester intonierte die Einleitung zu einer der großen klassischen Ballettmusiken, die jeder im Saal kannte, denn es handelte sich schließlich um die gebildeten Leute des Landes, seine sogenannte Elite. Man konnte fast hören, wie ein Aufatmen der Erwartung durch die Menge ging.

Mit dem Beginn des ersten Abschnitts der Ballettmusik lief, nein, schwebte ein Corps de Ballet auf die Tanzfläche, acht gut gewachsene junge Frauen in weißem Tüll, mit Federhäubchen auf dem Kopf, die zur Musik trippelnd ihre Kreise zogen, sich in Linien auseinanderzogen, dann in andere Formationen übergingen, die sich ständig veränderten, bis sich plötzlich acht junge Tänzer in schwarzen, engen Anzügen mit weißen Hemden mit Pluderärmeln wie aus dem Nichts ihnen zugesellten und ein sehr viel komplizierteres Spiel der schnell wechselnden Formen und Bewegungen begann, das sich in großer Schnelligkeit veränderte, manchmal wie ein völlig unentwirrbares, wirbelndes Durcheinander in Schwarz und Weiß wirkte, das sich aber wieder in Ordnung auflöste und immer einer Führung durch die Musik folgte. Als sich das Corps de Ballet nach einem furiosen Finale zurückzog, folgte ihm großer Beifall.

Gleich darauf setzte das Orchester mit dem zweiten Satz ein, einem Pas de deux, der von der Primaballerina des Balletts und ihrem männlichen Pendant, dem ersten Solotänzer der Truppe, getanzt wurde. Ein außergewöhnliches Erlebnis von Eleganz, Kraft und schöner Bewegung. Die Sprünge des Mannes, die großen Pirouetten des Paares, ihre geschmeidigen Hebungen, dieser Gleichklang in den Schritten und Sprüngen, ein einziger Genuss, getragen von der Musik. Der Beifall war erneut riesengroß.

Es folgte ein weiterer Satz, in dem vier Paare tanzten und dann noch einmal das ganze Ensemble in einer virtuosen Choreografie, für das der Platz zwischen den begeisterten Zuschauern fast zu eng werden wollte. Als der Schlussbeifall sich legte und das ganze Ensemble durch die Pforte unter der Orchesterempore verschwunden war, trat der Hofmarschall vor das Podium der Majestäten und verkündete, dass nun eine dem Königspaar und seinen Gästen gewidmete neue Ballettmusik des Hofkomponisten für eine Solotänzerin folge. Der Name der Komposition sei ›Frühling in Friedland‹. Er bitte um geneigte Aufmerksamkeit.

Stille legte sich über den großen Saal.

In die Stille erklang ein melodisches, von den Geigen geführtes Thema. Und mit dieser zunächst leisen Musik schwebte eine einzelne Tänzerin auf die Tanzfläche, die allen wie ein Wesen aus einer anderen Welt erschien, ein Mädchen am Rande des Frauseins in einem grünlichen, wadenlangen Gewand aus zartestem Stoff und einer Federkappe gleicher Farbe auf den schwarzen Haaren. Die Füße dieses Mädchens schienen kaum den Boden zu berühren, wenn sie der Musik folgend ihre schnellen Schritte, kurzen Sprünge und Pirouetten machte. Sie folgte in ihren Bewegungen der Ausdrucksmusik des Komponisten in einer Weise, dass alle, die ihr zusahen, den Frühling, wie er zurzeit über Friedland kam, manchmal sonnig, warm und heiter, manchmal kühl und stürmisch, mitzuerleben meinten, sogar die duftenden Blüten und die jubilierenden Vogelstimmen, die den Frühling begrüßten, nicht nur in der Musik, sondern auch in der Art des Tanzes wiederfanden. Ja, so war der Frühling in ihrem Land, so wie die Musik es ausdrückte und wie diese junge Frau es in ihrem Tanz gestaltete. Aus einer letzten von einem Crescendo der Musik getragenen großen Pirouette sank das Mädchen mit den Tönen der ausklingenden Musik in eine tiefe Reverenz unmittelbar vor König Ermerich nieder. Erst gab es einen Moment völlig atemloser Stille. Alle starrten auf das Wesen, das dort zu Füßen des Königs ausharrte. Dann aber brach ein Sturm der Begeisterung los. So etwas hatte noch niemand jemals gesehen. Wie konnten eine Musik und ein tanzendes Mädchen in einer so eindringlichen, fast hypnotisierenden Weise einem vorstellen, wie der Frühling in Friedland wirklich war. Selbst Finanzminister Miser war ganz aus dem Häuschen und fühlte, dass Ereignisse wie dieser Abend ihr Geld wert waren und die Abwasserleitung der Hauptstadt etwas warten müsse.

Die Majestäten hatten sich erhoben und klatschten, wie alle im Saal, begeisterten Beifall. König Ermerich war gleichzeitig begeistert und tief bewegt und stieg die kleine Stufe vom Podium hinunter zu der immer noch in ihrer Reverenz verharrenden Tänzerin. Als er vor ihr stand, sich hinunterbeugte, sie an der Hand fasste und mit den Worten: »Wir sind Euch für ein außerordentliches Erlebnis dankbar«, aus ihrer Reverenz aufhob, nahm sie seine Hand und küsste sie. Gleichzeitig hörte er hinter sich die Stimme seiner Schwester, der Königin Hermine: »Begrüße und belohne deine Tochter, Ermerich.«

Einen Augenblick zuckte der sonst so gefasste Mann zusammen. Das also war seine Tochter, dieses engelgleiche Geschöpf, dessen Tanz ihn zutiefst berührt hatte. Ihn überschwemmten die Gefühle der letzten Minuten und seine inneren Vorbehalte lösten sich auf. Es war, als wenn ihm unvermittelt leichter sei, als sei etwas geschehen, auf das er schon lange gewartet hatte. Er folgte einem plötzlichen Impuls und nahm sein Kind, das kein Kind mehr war, bei den Schultern und küsste es auf die Stirn und sah nicht, dass sich aus dessen sichtlosen Augen zwei Tränen lösten.

Der Beifall wollte nicht enden. Den beiden Königinnen standen mit Tränen in den Augen, als der alternde König seine ›wiedergefundene‹ Tochter an der Hand vorsichtig auf das niedrige Podest führte und sie seinen Gästen präsentierte, vor denen sie den üblichen tiefen Hofknicks machte und von ihnen umarmt wurde, wonach sie in die Arme ihrer Mutter sank, von Tante Hermine getätschelt und von ihren Brüdern und Vettern umringt wurde.

Als sich die allgemeine Aufregung etwas gelegt hatte, gab der König dem Hofmarschall ein Zeichen, und der wiederum gab dem Musikdirektor auf der Empore einen Wink, worauf dieser seinem Orchester den Einsatz des altbekannten Walzers gab, mit dem seit eh und je jeder Hofball begann. Wie es sich gehörte, wartete alles, bis die beiden Königspaare den Ball mit einer langsamen Runde eröffnet hatten. Erst dann setzte sich der ganze Saal in Bewegung, bis auf ein paar alte Damen und Herren, die auf den Sofas am Rand des Saales saßen und sich die Zeit damit vertrieben, kritische Bemerkungen über Bekannte und Unbekannte zu machen. Editha hatte dem Drängen ihrer Brüder und Vettern widerstanden, die mit ihr gleich auf die Tanzfläche wollten. Sie ließ sich vom jüngsten ihrer Brüder durch die Menge, die ihr mit erneutem Beifall den Weg frei machte, zum kleinen Eingang unter der Empore führen, wo Amanda Frowien schon auf sie wartete und sie umarmte.

Dieses Ereignis hatte große Folgen, nicht nur für die königliche Familie, sondern für das ganze Land.

Der König war glücklich darüber, dass er nun endlich eine Tochter hatte, die darüber hinaus an Liebreiz alle jungen Damen übertraf, die ihm bei Hofe und im Lande begegneten. Er wurde wieder freundlich und aufgeschlossen. Seine Familie, der Hof, das ganze Land atmete auf.

König Ermerich bemühte sich sehr darum, seine Tochter gut kennenzulernen. Offenbar hatte er das Gefühl, in langen Jahren Versäumtes nachholen zu müssen. So nahm er zunehmend am Circle der Königin teil, weil er wusste, dass er dort seine Tochter traf, hörte zu, wie sie mit Menschen aus Kunst und Wissenschaft und sogar Ökonomie diskutierte, wie sie musizierte und wunderte sich immer mehr über die Fülle ihrer Begabungen. Sie war zurückhaltend, nie aufdringlich und wusste doch alle Menschen für sich einzunehmen, weil sie gut zuhören konnte und jedem ihrer Gesprächspartner das Gefühl gab, ganz auf ihn einzugehen. Da der König sich bei diesen Gelegenheiten völlig zurückhielt – es war schließlich der Circle seiner Frau –, war es nur natürlich, dass er anderweitig die persönliche Gesellschaft seiner Tochter suchte. Amanda Frowien geriet fast in eine ihr sonst völlig unbekannte Panik, als wenige Tage nach dem Ball der Kammerherr des Königs in den Räumen der Prinzessin erschien und erklärte, seine Majestät möchte in einer halben Stunde gern mit der Prinzessin Editha im Park spazieren gehen. Majestät hätten erklärt, es sei wundervolles Wetter dafür. Sie, Amanda Frowien, solle seine Tochter begleiten. Dies war eine Situation, wie sie noch niemals vorgekommen war und in der deshalb auch niemand wusste, wie man sich auf sie einstellen musste. Was sollte die Prinzessin anziehen, wenn sie mit dem König spazieren ging? Würde der König Rücksicht auf ihre Behinderung nehmen? Wie sollte sie, Amanda selbst bei diesem Treffen auftreten? Der sorgsam vorbereitete Kalender des Tages sah andere Verabredungen für Editha vor. All das musste wegen des Wortes des Königs geändert werden. Aber sie wäre nicht Amanda Frowien gewesen, wenn sie nicht diese schwierige Situation gemeistert hätte.

 

Pünktlich auf die Minute waren die beiden in dem kleinen Saal, von dem man Zugang zu dem wundervollen Park hinter dem Schloss hatte. Nur einen Herzschlag später erschien der König in einem einfachen dunklen Anzug, begrüßte seine Tochter mit einem Kuss auf die Stirn und nickte der Gouvernante leutselig zu. Er schien zunächst etwas verlegen zu sein, ob er seiner Tochter den Arm reichen müsse, um sie zu führen. Aber Editha sagte ihm, dass sie die Wege im Park von vielen Spaziergängen her gut kenne und er sicher sein könne, dass es keine Schwierigkeiten geben werde. Und dann gingen der älter werdende König und seine junge Tochter für eine Stunde durch den Park, im Abstand von ein paar Metern, die die Vertraulichkeit des Gesprächs zwischen ihnen sicherte, gefolgt von Amanda Frowien und dem Kammerherrn des Königs. Es gab in dieser Stunde keinen Zwischenfall, nicht einmal ein Zögern der Prinzessin auf dem Weg neben ihrem Vater, weil sie den Weg kannte und ihre anderen Sinne ihr halfen. Und das erklärte sie ihrem Vater auf dessen zögernde Fragen. Es waren sehr persönliche Minuten, die der König mit seiner Tochter erlebte. Er erkannte, dass sie offenbar auf andere Weise sehen konnte als andere Menschen. Er erlebte im Gespräch andere Eindrücke ihrer geistigen Begabungen und verabredete mit ihr am Ende, diese persönlichen Spaziergänge und Aussprachen zu wiederholen.

Auf diesen Spaziergängen lernte der König seine Tochter besser kennen und grämte sich insgeheim über die Jahre, die er mit ihr verloren hatte.

Außerdem lud er sie zu den regelmäßigen Treffen mit seinen Söhnen ein. Dieses monatliche Zusammensein hatte dem König ursprünglich, als die drei noch Knaben waren, dazu gedient, sich vom Fortgang ihrer Ausbildung zu überzeugen und selbst Anregungen zu geben. Mit fortschreitendem Alter war der König immer mehr dazu übergegangen, mit seinen Jungen über das Land, seine Geschichte und die Lebensgewohnheiten seiner Bewohner, über die Familie und ihre Verwandtschaft zu sprechen und später natürlich ihre Berufswünsche und -aussichten zu diskutieren. Als sie dann erwachsen wurden, verlegte er den Inhalt dieser Unterhaltungen mehr und mehr auf Staatsgeschäfte, politische und dynastische Fragen.

Der Älteste, Ansgar, inzwischen fast 30 Jahre alt, ein athletischer junger Mann, war durchaus im Einverständnis mit seinem Vater Soldat geworden und das mit Leib und Seele. Er bekleidete seiner hohen Herkunft wegen den Rang eines Obersten und war Chef des vornehmsten Regiments des kleinen Heeres von Friedland. Man sah ihn nie anders als in Uniform, und er machte in ihr, wie man so sagt, eine großartige Figur. Vielen Frauen und Mädchen klopfte das Herz schneller, wenn sie ihn bei einer der Paraden beobachten konnten oder ihm bei sozialen Ereignissen begegneten. Kein Wunder, dass der Familie für etliche Jahre Gerüchte über gewisse Allianzen des jungen Mannes Sorge gemacht hatten. Dieser Sorgen war man nun enthoben. Prinz Ansgar war seit einem Jahr verheiratet. Er hatte die älteste Tochter aus der Familie der ranghöchsten Adeligen des Landes nach der des Königshauses geheiratet, ein sehr ansehnliches Mädchen, an das er sich vielleicht trotzdem noch nicht so schnell gebunden hätte, wenn nicht seine Eltern ihn sanft gedrängt hätten, weil diese Verbindung dem Frieden im Land diente, indem sich die zwei vornehmsten Familien des Landes verbanden.

Sein Vater hatte in seinen langfristigen Plänen vorgesehen, dass sein Sohn eines Tages Kriegsminister werde, eine sehr angesehene Position in der Regierung des Landes, das stolz auf sein Militär war, obgleich es Friedland hieß, traditionell eine Friedenspolitik verfolgte und tatsächlich seit mehr als hundertdreißig Jahren keinen Krieg mehr geführt hatte. Ob er aber jemals König Ermerich auf den Thron folgen würde, wie das in so vielen anderen Ländern die normale Erbfolge war, lag in den Sternen. Er war also noch kein Kronprinz. In Friedland wurde die Position des Kronprinzen am 75. Geburtstag des regierenden Königs von einem Thronrat dem würdigsten Mitglied der königlichen Familie verliehen. Und falls der regierende König vorher starb oder die Regierungsgeschäfte nicht mehr wahrnehmen konnte, tagte der Thronrat innerhalb von vier Wochen nach der Feststellung eines solchen Ereignisses und rief den neuen König aus. Dem Thronrat gehörten traditionell, außer dem König selbst, die zwölf höchsten Würdenträger des Landes an, Mitglieder des hohen Adels, der Präsident der Akademie, der oberste Richter, der höchste Geistliche, aber auch Vertreter der Landschaften des Landes und ihrer Stände. Man anerkannte mit diesem Verfahren seit alters her die Rolle der königlichen Familie, versuchte aber gleichzeitig, den Würdigsten zum König zu machen.

Der zweite Sohn, Osgar, siebenundzwanzig, war eigentlich so ganz anders als sein älterer Bruder, weniger sportlich, mehr den Wissenschaften und schönen Künsten zugetan und in ihnen begabt, ein kühler Kopf, wie viele sagten. Er hatte Rechtswissenschaft und Sprachen studiert und nach seinen gut bestandenen Examen mit Förderung durch seinen Vater verschiedene Aufgaben in der Verwaltung des Landes übernommen, was ihn, nach dem Willen des Vaters und seinen eigenen Wünschen, eines Tages auf eine führende Rolle in der Verwaltung des Landes vorbereiten sollte. Das konnte eigentlich nach Meinung des Vaters nur die des Innenministers oder die des Justizministers, vielleicht sogar die des Premierministers sein.

Und schließlich Rutgar, der dritte Sohn: so ganz anders als jeder seiner beiden Brüder und kaum mit ihnen zu vergleichen. Von jung auf ein Naturbursche, lebenslustig und mit einem fröhlichen Temperament begabt, hatte er mit seinen fünfundzwanzig Jahren fast nur eine Leidenschaft: die Jagd. Meistens saß er mit zwei oder drei seiner Freunde in irgendeiner der Jagdhütten der Familie oben in den Bergen und widmete sich der Jagd oder, wenn einmal keine Jagdzeit war, der Beobachtung der Tier- und Vogelwelt. Was aus dem einmal werden sollte, war eigentlich überhaupt nicht abzusehen. Trotz der Ermahnungen des Vaters, sich eine standesgemäße Aufgabe für sein weiteres Leben zu suchen, hatte er ständig Ausflüchte, die letztlich darin gipfelten, dass er seinen Eltern erklärte, er wolle am liebsten so leben, wie es ihm gefalle. Er deutete zudem an, dass er sich das wegen einer bedeutenden Erbschaft von einem Patenonkel, dessen Namen er trug, ja wohl leisten könne.