Wundersame Geschichten II

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Des Königs Tochter

Es war einmal ein Königskind. Es trug den Namen Editha und war viertes Kind und einzige Tochter des Königs Ermerich von Friedland und seiner Frau, Königin Roswitha.

Friedland war ein Land inmitten der bekannten Welt, ein Land, in dem viele Menschen lebten und nichts anderes kannten, als das Leben, wie es immer gewesen war: friedlich und arbeitsam, mit einem Auskommen für jeden, unter der wohlwollenden Regierung eines Königshauses, das es seit eh und je gegeben hatte.

Editha war das letzte der vier Kinder, die dem Königspaar geboren wurden. Der jüngste der drei Buben vor ihr war schon sechs Jahre alt, als Editha als Nachkömmling auf die Welt kam. König Ermerich, ein Mann in den besten Jahren, freute sich, als der Hofarzt ihn davon unterrichtete, dass seine Frau einem gesunden Mädchen das Leben geschenkt und die Entbindung gut überstanden habe. Er ließ zunächst den Hofjuwelier kommen und suchte ein schönes Geschmeide aus, das er seiner Frau zum Geschenk machen wollte. Anschließend besprach er mit dem Hofgeistlichen die Einsegnung und Namensgebung für das Kind. Und der war nach dem Kalender ›Editha‹, was nach seinem Geschmack ein akzeptabler Name war, weil die als Heilige verehrte Frau eines der größten Fürsten der bekannten Welt einmal diesen Namen getragen hatte und der Name passenderweise den gleichen Klang hatte, wie der seiner angebeteten Frau. Schließlich befragte er den Hofastrologen nach den Zeichen des Himmels, unter denen das Kind geboren wurde und nach dessen Lebensaussichten. Der alte Mann, der sich Origines nannte und in einem alten Turm wohnte, von dessen hoher Warte er nächtlich den Himmel beobachtete, sah seinen König eine Weile schweigend an.

»Nun?«, forderte der König. »Sag mir, was du gesehen hast und lass mich nicht warten.«

»Es tut mir leid, Majestät, ich weiß nicht recht, wie ich meine Meinung zusammenfassen soll. Soweit ich sehen kann, sind die Aussichten für das kleine Kind nicht eindeutig. Einerseits habe ich aus der Konstellation verschiedener Sterne den Eindruck, dass irgendeine Dunkelheit ihr Leben behindern wird. Andere Sterne hingegen versprechen ihr ein Leben in Klarheit, Fülle und schließlich mit großem Glanz. Ich kann Euch leider kein klareres Bild von dem geben, was auf das Mädchen in seinem Leben wartet.«

König Ermerich erwog einen Moment, ob er Origines als Hofastrologen absetzen oder irgendwie für seine unbestimmte Voraussage bestrafen solle, ließ das aber bleiben, weil er in vielen anderen Fällen zutreffende Voraussagen getroffen hatte und er seinen seherischen Kräften eigentlich vertraute.

Er entließ den Hofastrologen mit der Bemerkung, es sei doch sehr bedauerlich, seiner Frau keine klarere Nachricht mitbringen zu können, und er solle sich in der Folgezeit eingehender mit der Konstellation seiner Sterne befassen. Dann machte er sich auf den Weg zur Kemenate seiner Frau. Die beiden in Paradeuniform gekleideten Wachen vor der großen Tür präsentierten ihre Waffen, als der König kam und öffneten die Tür zu einem eindrucksvollen Gemach mit drei hohen Fenstern, dem Salon der Königin, vor dem sich ein Balkon befand, von dem man weit ins Land schauen konnte – bei schönem Wetter war das Königin Roswithas Lieblingsplatz.

Daneben war das Schlafgemach der Königin. Zentrum des Zimmers war das imposante Himmelbett, in dem die Königin auf weißen Kissen lag, hergerichtet für diesen ersten Besuch des Königs. Sie sah ihrem Mann entgegen. Hinter ihrem Bett standen zwei Hofdamen und die Hebamme, die in einen tiefen Knicks versanken und sich auf einen Wink der Königin in ein Nebengelass zurückzogen.

»Wie blass sie aussieht«, dachte König Ermerich und fühlte eine seltene Rührung. »Diese Geburt hat sie wohl mehr mitgenommen, als die drei anderen, die sie immer strahlend überstanden hat.«

Er beugte sich über seine Frau, küsste ihr die Stirn, fasste ihre Hand und küsste auch die. Er setzte sich auf die Bettkante, ohne ihre Hand loszulassen.

»Wie geht es dir, meine Liebe? Hast du diese schweren Stunden einigermaßen überwunden?« Als sie nickte, fuhr er fort: »Ich bin dir so dankbar!« und legte ihr das Geschmeide – eine Goldkette mit edlen Steinen – auf die Bettdecke. Nun küsste die Königin gerührt die Hand ihres Mannes.

»Ich freue mich über unser Neugeborenes, weil es ein Mädchen ist. Jungen sind gut zur Sicherung der Erbfolge, aber ein Mädchen ist etwas für das Herz des Vaters, vor allem, wenn es so lebt, dass sich der Vater freuen kann.«

Königin Roswitha sah ihren Mann etwas erstaunt an und fragte, warum er denn diese einschränkende Bemerkung mache.

Der König erzählte ihr von seinem Gespräch mit dem Hofastrologen Origines und seinem merkwürdigen Verdikt und fragte: »Wo ist dieses kleine Wesen denn eigentlich? Ich möchte es einmal sehen und ihm den neuen Namen sagen, den ich mit dem Hofgeistlichen ausgesucht habe. Es soll Editha heißen, weil das ein berühmter, heiliger Name ist und weil er deinem Namen so ähnlich ist.«

»Das Kind ist hier links in der Krippe neben meinem Bett, Ermerich«, antwortete die Königin und rief nach der Hebamme, die sogleich herbeieilte und auf einen Wink das Baby aus der Krippe nahm und der Königin in den Arm legte.

König Ermerich beugte sich über den Säugling und sah das kleine, etwas rote und schrumpelige Gesicht unter einem dunklen Haarschopf, aus dem zwei blaue Augen in die Welt sahen. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Augen ihn nicht sahen und sagte das auch der Königin. Die Hebamme mischte sich ein und erklärte, dass Neugeborene für Wochen noch keinen richtigen Gebrauch von ihren Augen zu machen wüssten. Und damit gab sich der König zufrieden, nachdem der Hofarzt diese Weisheit bestätigt hatte.

Als der König einige Wochen später wieder einmal seine Gemahlin Roswitha in ihrer Kemenate besuchte, um nach seiner Tochter zu sehen und sich über die Wiege beugte, schmunzelte er erfreut, denn das kleine Wesen war nun glatt, rosig, hübsch und lebhaft. Es sah ihn, als er ein paar zärtliche Worte murmelte, gleich an.

»Wie hübsch unser Töchterchen ist«, stellte er stolz fest. »Ich werde mir Gedanken machen müssen, an wen wir sie eines Tages verheiraten werden. Wenn sie so schön wird, wie ihr Aussehen es jetzt verspricht, kommt ohnehin nur ein bedeutender anderer Herrscher als Bewerber in Betracht. Das wird unserer politischen Situation und dem allgemeinen Frieden sehr gut bekommen.«

Damals war das noch so: Man sicherte den Frieden in der Welt nicht so sehr durch Soldaten und Kriegsgerät, sondern indem man in den herrschenden Kreisen familiäre Bande über die bekannte Welt zog, weil Streit in der Familie, wenn er auch nicht ausgeschlossen ist, aber doch eine gewisse Hemmschwelle zu überwinden hat.

»Ach, bis dahin bleibt uns viel Zeit, mein Mann. Wolle Gott, dass die kleine Editha in Frieden groß wird und wir unsere Freude an dem Kind haben können.«

Der König war um die Wiege herum zu seiner Frau an deren Sessel getreten, ohne sein Töchterchen aus den Augen zu lassen.

»Als du sprachst, hat sie ihren Kopf zu dir gewendet, Roswitha. Ich will sehen, ob sie wirklich schon Geräusche aufnimmt und ihnen folgt.«

Er ging um das Bettchen herum und sprach von verschiedenen Seiten das kleine Mädchen an. Und tatsächlich, es drehte jedes Mal seinen Kopf zu ihm hin, wenn er es ansprach. Als er dann an das Ende des Bettes trat und das kleine Geschöpf erneut ansprach, hatte er den Eindruck, dass dessen fest auf ihn gerichteter Blick durch ihn hindurchging, als wenn er ein fernes Ziel suche. Irritiert sann der König nach, was das wohl bedeuten könne. Und da er ein recht erfahrener und bedachter Mann war, hielt er dem Kind einen Finger vor die Augen und bewegte ihn mehrmals langsam von links nach rechts. Die Augen des Kindes folgten dem Finger nicht. König Ermerich war zutiefst erschrocken. Er versuchte das Gleiche noch einmal. Es blieb dabei, die Augen des Kindes blickten unbewegt in die Ferne. Dabei lächelte es.

Königin Roswitha hatte ihren Mann beobachtet.

»Was machst du denn da mit dem Kind?«

»Ich mache mir Sorgen, dass das Kind seinen Vater nicht erkennt.«

Und er zeigte der Königin, die zu ihm getreten war, warum er so besorgt war. Nun überfiel auch die Königin die Angst.

Da hatte König Ermerich die Kammerfrau der Königin schon beauftragt, sofort den Hofarzt herbeizubringen. Der kam in kürzester Zeit und traf auf das bestürzte und aufgeregte Königspaar.

»Seht Euch einmal dies an, Hofarzt«, wies König Ermerich ihn an und machte mit dem Hofarzt neben sich erneut seinen Versuch mit dem Kind.

»Sagt mir nun: Kann das Kind sehen oder nicht? Ist es etwa blind?«

Nun kam der Hofarzt ins Schwitzen, denn er erinnerte sich an die vom König kurz nach der Geburt geäußerte Befürchtung. Gleichzeitig begann das kleine Wesen, offenbar gestört durch die vielen aufgeregten Stimmen, ein Wehgeschrei, das die Stimmung des Fürsten nur noch mehr beeinträchtigte.

»Nun?«

»Ich kann ohne eingehende Untersuchung kein Urteil fällen, Majestät. Bitte gebt mir einen Tag dafür, dann werde ich berichten.«

»Tut das, ich sehe Euch hier morgen wieder.« Und er fügte hinzu: »Es ist besser, Ihr macht Eure Sache gut!«, was immer diese Worte für den armen Hofarzt bedeuten mochten. Der König küsste seiner weinenden Frau die Hand und verließ das Gemach.

Die gleiche Stunde am nächsten Tag brachte die Katastrophe. Es wurde eine Stunde mit vielen schlimmen Folgen für das Familienleben des Königshauses, und da es ein regierendes Königshaus war, sogar mit Folgen für viele andere Menschen.

Als der König erneut in die Kemenate der Königin kam, fand er einen tief zerknirschten Hofarzt vor und eine weinende Königin, umgeben von ihren schluchzenden Hofdamen.

 

»Nun?«, polterte König Ermerich ohne jede Höflichkeit gegenüber den Damen und schon gar nicht gegenüber dem Hofarzt.

»Das Kind ist blind«, gab der Hofarzt zu. »Es war, wie ich zugestehen muss, bereits bei der Geburt blind. Wir verstehen heutzutage nicht viel von den Ursachen. Offenbar leidet es unter einem seltenen Defekt, dass seine beiden Augen keine Verbindung zu seinem Gehirn haben, das die Gabe des Sehens gestaltet. Es tut mir sehr leid, denn dieser Defekt ist, nach dem, was wir wissen, nicht behebbar.«

Und damit senkte er sein Haupt und erwartete die Entscheidung des Königs.

Der stand einen Moment mit gefurchter Stirn und düsterer Miene da. Was für eine entsetzliche Enttäuschung! Und obwohl er als bedachter und gerechter Monarch galt, hatte er auch eine jähzornige Veranlagung, die ihn in diesem Augenblick überkam und veranlasste, folgenschwere Entscheidungen zu fällen.

»Ihr seid entlassen, Hofarzt«, zischte er gereizt. »Verlasst den Hof. Sofort! Ich will Euch hier nicht mehr sehen. Seid froh, dass ich Euch nicht mit einem Gerichtsverfahren verfolge, weil Ihr Eure Aufsicht über die Geburt und das Wohl des Kindes verletzt haben könntet.«

Der nächste Wortschwall traf die Königin. »Sie haben mich enttäuscht, Roswitha«, sagte er steif und förmlich. »Statt mit einem Mädchen, das die Freude ihres Vaters hätte werden und der dynastischen Sicherheit unserer Familie und damit dem Frieden des ganzen Landes hätte dienen können, haben Sie uns eine Missgeburt geschenkt! Eine Missgeburt, Roswitha!«, wiederholte er sehr viel lauter, als es sich gehörte, verließ abrupt das Zimmer und ließ eine völlig verzweifelte Königin zurück.

Die Enttäuschung des Königs war so groß, dass er die Königin für Wochen und Monate nicht mehr ansah, sodass schon Gerüchte am Hof umliefen, er habe beschlossen, sie zu verstoßen. Jedenfalls bestand große Unruhe am Hof. Der König schien seine sonst offene und aufgeschlossene Art eingebüßt zu haben. Er war meistens in sich gekehrt und kurz angebunden, oft finster und ließ sich häufiger zu jähzornigen Reaktionen und harten Urteilen hinreißen. Selbst seine drei Söhne, der zehnjährige Ansgar, der achtjährige Osgar und der sechsjährige Rutgar, deren Erziehung er mit Anteilnahme und offenem Ohr begleitete, mussten unter seinem Missmut leiden. Er stellte ihnen höhere Anforderungen, war ungeduldig mit ihnen und tadelte sie und ihre Lehrer häufiger. Selbst den höchsten Beamten der Regierung und den Mitgliedern wichtiger Gesandtschaften befreundeter Länder erging es nicht besser.

Über dem Hof, über der Regierung und schließlich über dem ganzen Land breitete sich eine dunkle Wolke der Unsicherheit, der Unzufriedenheit, ja, auch der Angst vor der Zukunft aus. Denn wenn ein wichtiger Orientierungspunkt der Menschen sich veränderte, und das war das Königshaus für die Menschen von Friedland, dann veränderte sich ihr Lebensgefühl.

Die Räumlichkeiten der Königin machten seit diesem Ereignis einen traurigen Eindruck. Sie selbst kleidete sich in dunkle Gewänder und duldete in ihrer Nähe keine helle Kleidung, kein Singen und Lachen. Es gab keine Feste mehr und keine Unterhaltungsspiele. Auf ihre Anordnung waren alle Gemächer mit dunklen Tapeten und Vorhängen umdekoriert worden.

Es gab trotzdem einen Lichtpunkt in dieser gedrückten Atmosphäre: die kleine Editha selbst. Sie lag in weißen Kissen und freute sich offenbar des Lebens, wenn sie nicht schlief. Sie streckte die Ärmchen aus, krakelte und brabbelte lustig vor sich hin, wenn sie einen Laut am Bettchen hörte und wurde mit jedem Tag hübscher mit ihren schwarzen Haaren und blauen Augen, die allerdings immer etwas starr in die Welt gerichtet waren und sich nur bewegten, wenn das Kind das leiseste Geräusch aufnahm.

Zunächst hatte die Königin in ihrem großen Kummer das Kind gar nicht mehr sehen wollen und angeordnet, dass eine Amme sich seiner annehme. Als sie aber ein paar Tage danach an der Wiege vorbeikam, das lustige Geschrei hörte und das süße Gesichtchen sah, da krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie hob das Kind aus seinem Bettchen, setzte sich und legte es an die eigene Brust. Von da an war sie wieder Mutter und die Amme nur – wie nennt man das heute? – auf Stand-by.

Sie beschäftigte sich stundenlang mit ihrer kleinen Tochter und glaubte bald, Anzeichen von großer Lebhaftigkeit und erstem erstaunlichen Können zu entdecken, wie es ja nur natürlich ist, dass Mütter in ihren Kindern Außerordentliches sehen, und hier umso mehr, da sie sich an das Verdikt des Hofastrologen erinnerte, das ihrer Tochter einerseits eine dunkle Wolke über ihrem Leben voraussagte, was eigentlich nur ihre Blindheit betreffen konnte. Andererseits, hatten die Sterne ihr nicht auch ein Leben in Klarheit und Fülle prophezeit? Und tatsächlich, Editha konnte schon bald deutlich unterscheiden, wer sich ihrem Bettchen näherte. Es gab keinen Zweifel, dass sie fröhlich gluckerte und ihre Ärmchen ausstreckte, wenn ihre Mutter sich näherte und mit ihr sprach, und dass sie sich sogar abwendete, wenn der Hofgeistliche zum Bettchen trat und ein paar Worte murmelte. Die Königin lud ihre Söhne ein, ihre Schwester kennenzulernen. Das Baby wurde richtig vergnügt, als die drei Jungen sich über sein Bettchen beugten und ihm irgendetwas sagten. Als es fröhlich lachte, waren die Jungen beeindruckt und erklärten, dass sie ihre Schwester gerne akzeptierten. Sie müsse nun aber schnell groß werden, um mit ihnen spielen und Sport treiben zu können.

Als Editha zwei Jahre alt wurde, gab es für sie eine Geburtstagsfeier. Sie konnte inzwischen laufen, hatte ein weißes Kleidchen an und sah aus wie ein Engelchen. Die Königin und alle Hofdamen standen um sie herum und bewunderten sie und waren sich darüber einig, sie seien noch nie einem so hübschen und vor allem einem so intelligenten Kind begegnet. Jede von ihnen wusste, dass es blind war, jede wusste aber auch, dass es jeden an seiner Stimme, sogar an der Gangart erkannte. Es identifizierte die Menschen, wenn sie sich ihm näherten, schon am Geruch und an der Berührung, wenn sie seine Hand nahmen oder es streichelten. Wenn es jemand war, der ihm bekannt war, sprach es ihn gleich mit dem Namen an; wenn nicht, fragte es: »Wer bist du? Ich kenne dich leider nicht!« und wusste in Zukunft sofort, wen es vor sich hatte, wenn es diesem Menschen erneut begegnete, was auf sein außergewöhnlich gutes Gedächtnis hinwies. Der neue Hofarzt, den die Königin über diese Fähigkeiten zurate zog, erläuterte, dass es sich um eine erstaunliche Sensibilität aller Sinne handelte, die nur damit zu erklären sei, dass die Natur ausgleichen wolle, was sie dem Kind hinsichtlich seines Sehens versagt habe.

Dabei merkte man Editha ihre Blindheit nicht einmal gleich an, weil sie sich sofort mit der Wendung ihres Köpfchens auf die, die es ansprachen, einstellte. Auch an ihren Bewegungen sah man es nicht ohne Weiteres. Sie trippelte in einer ihr bekannten Umgebung sicher herum, nur wenn sie erstmals in eine neue Gegend kam, ließ sie sich an der Hand führen, merkte, wenn ihr Gegenstände im Weg standen oder sie auf Lebewesen traf. Wenn ihr Tiere, ein Hund, eine Katze, ein Pferd vorgestellt wurden und sie das Tier mit der Hand fühlen und seinen Geruch aufnehmen konnte, war sie gleich vertraut mit ihm und erkannte es beim nächsten Mal mit ziemlicher Sicherheit wieder. Und alle Tiere mochten sie. Offenbar strahlte sie etwas aus, was jedes Tier mit Zutraulichkeit, man könnte fast sagen mit Zuneigung, erfüllte. Und so erging es auch allen Menschen, mit denen sie zusammenkam, nicht zuletzt ihren Brüdern. Die drei waren wirklich nicht das, was man Musterschüler oder sogar Chorknaben nennt, sondern recht ausgelassene Burschen. Ansgar, der Älteste, war schon in dem, was man Flegelalter nennt, heckte häufig Streiche aus und machte dummes Zeug, was ihm manche Ermahnung und ab und zu einen Jagdhieb seines Vaters oder des Leiters der Leibwache des Königs einbrachte, der vom König, der seinen Sohn kannte, extra dazu ermächtigt worden war. Und die beiden Jüngeren versuchten, dem Vorbild ihres Bruders nicht zu sehr nachzustehen. Nur wenn die drei wieder einmal zu Besuch bei der Königin waren und ihre Schwester trafen, waren sie wie verändert und gingen mit dem Mädchen sanft und zärtlich um. Editha vergötterte ihrerseits ihre Brüder und wäre am liebsten mit ihnen gegangen, was natürlich nicht sein konnte.

Nur der König nahm keine Kenntnis von seiner Tochter. Wenn jemand wohlmeinend zu ihm über den Liebreiz und die so deutlichen Begabungen des Mädchens sprechen wollte, verbat er sich das, selbst wenn es sich um Menschen handelte, die sein ganzes Vertrauen hatten, wie zum Beispiel seine Schwester Hermine, die mit dem König Gunther von Wasserland verheiratet war und gelegentlich zu Besuch kam. Bei ihr nahm er sich allerdings mit seinen Worten in Acht und nannte seine Tochter nicht Missgeburt, denn er wusste um die Streitbarkeit seiner Schwester und ihre scharfe Zunge und hütete sich, die herauszufordern. Aber das konnte man nicht als Nachgeben in seiner väterlichen Unzufriedenheit ansehen, sondern musste es eher als diplomatische Vorsicht auslegen, denn Friedland musste an einem guten Einvernehmen mit Wasserland gelegen sein.

Editha war nicht älter als vier, als ihre geistigen Gaben so evident wurden, dass die Königin beschloss, einen ersten Lehrer für sie zu suchen, eine wirklich schwere Wahl, bei der sie sich, um nichts zu versehen, von vielen angesehenen Persönlichkeiten bei Hof und auch sonst im Land beraten ließ. Da war zunächst natürlich der Haupterzieher ihrer Söhne, ein sehr gelehrten Magister Donodemus. Außerdem suchte sie den Rat des ersten Ministers, dem des Ministers für Kultur und Bildung, dem des Hofgeistlichen, des Leiters der Akademie der Wissenschaften, des Hofarztes, des Hofkomponisten und nicht zuletzt den ihrer Schwägerin Hermine, mit der sie schwesterliche Zuneigung verband, obwohl die etliche Jahre älter war. Die empfahl ihr eine Gouvernante aus dem Schottenland im Norden, die ihre zwei Kinder mit gutem Erfolg erzogen habe, wie sie sagte. Diese Amanda Frowien sei menschlich erfahren, gut versiert in vielen Sprachen und Fächern der allgemeinen Bildung, dabei nicht trocken vor Gelehrsamkeit, sie kenne sich auch mit Musik und gesellschaftlichen Dingen aus, die für eine kleine Prinzessin von Wichtigkeit werden würden.

Nachdem die Königin mit allen Beratern gesprochen und viele der ihr vorgestellten möglichen Lehrer selbst kennengelernt hatte, war sie völlig verunsichert und einigermaßen verzweifelt. Jeder ihrer Berater hatte eine andere Vorstellung davon, wie das Kind erzogen und ausgebildet werden solle. Der eine legte das Hauptgewicht auf alte Sprachen, der andere auf neue Sprachen, der Dritte auf die schönen Künste, der Vierte auf die Wissenschaften der Natur und der Fünfte meinte, das Wichtigste sei die Erziehung des Leibes durch angemessene körperliche Übungen, aber später auch in sportlichen Dingen wie Reiten, Fechten und Schwimmen. Man legte ihr sogar ein sogenanntes Curriculum für die Erziehung junger Damen königlichen Geblüts vor, das jede Bildungsmaßnahme für die nächsten fünfzehn Jahre festlegte. Nachdem die Königin sich damit eine lange Nacht beschäftigt hatte, kapitulierte sie. Sie sandte einen Boten zu ihrer Schwägerin Hermine und bat darum, ihr doch bitte die Dienste der Frau Amanda Frowien zu vermitteln.

Wenige Wochen später erschien Amanda Frowien bei Hofe, wurde der Königin vorgestellt und machte vor ihr ihren Hofknicks. Die sah vor sich eine Frau in den Dreißigern in dunkler, recht eleganter Kleidung mit hellem Haar, grauen, aufmerksamen Augen, die ihr gerade ins Gesicht blickten.

»Ihr seid uns von meiner Schwägerin empfohlen worden, Frau Frowien. Ihr seid jünger als ich dachte, weil Ihr schon die beiden Kinder meiner Schwägerin erzogen habt.«

»Ich habe jung angefangen, Majestät.«

»Könnt Ihr mir erklären, warum meine Schwägerin Eure Fähigkeiten als Erzieherin so hoch schätzt und was Euch befähigt, meine Tochter leitend und bildend zu begleiten?«

»Ich kann Euch nur sagen, dass ich gut Zugang zu jungen Menschen finde, mich bemühe, ihre Veranlagungen zu erkennen und ihnen das zu vermitteln versuche, was zu ihnen passt und sie zu einem ihrem Stand angemessenen Leben führt.«

Darüber dachte die Königin eine Weile nach. Dann nickte sie.

»Ja, so möchten wir das gerne haben.« Sie wandte sich an eine ihrer Hofdamen. »Editha soll kommen.«

Und wenige Augenblicke später kam das kleine Mädchen mit seiner Zofe aus ihrem Zimmer in die Kemenate der Königin, ging ohne Hilfe der Zofe in ihrem etwas vorsichtigen Gang schnurstracks auf ihre Mutter zu, machte, wie es sich gehörte, einen Knicks und grüßte: »Guten Morgen, Mama. Ich hoffe, es geht dir gut. Ich bin froh, dass du mich hast rufen lassen. Die Geschichten, die man mir zur Unterhaltung vorgelesen hat, waren langweilig.«

 

»Gib mir einen Kuss, mein Schätzchen.« Was auch geschah. »Du sollst es in Zukunft nicht mehr so langweilig haben, Editha. Du sollst mehr lernen und deine Wissbegier soll gelenkt und befriedigt werden. Dafür ist Frau Amanda Frowien zu uns gekommen, die früher die Begleiterin der Kinder von Tante Hermine war, von deinen Cousins. Sie möchte dich jetzt kennenlernen.«

Sie winkte Amanda Frowien heran, die natürlich das Handicap der Prinzessin kannte.

»Ich bin Amanda Frowien, Königliche Hoheit, und freue mich auf unsere Begegnung.«

Das Mädchen hatte sein Gesicht ihr zugewandt.

»Du hast eine freundliche Stimme. Darf ich dir die Hand geben?«

Etwas suchend legte sie ihre kleine Hand in die der Gouvernante.

»Du fühlst dich gut an, Frau Amanda Frowien, ich glaube, ich mag dich leiden. Und du riechst so gut.«

»Das kommt von der Seife, die wir zu Hause benutzen. Wir sind der Meinung, dass tägliches Waschen mit gut riechender Seife nicht nur gesund ist, sondern einen auch erfrischt und Spaß macht.«

»Das hat mir bisher niemand gesagt. Meinst du, ich sollte mich jeden Tag mit deiner Seife waschen? Warum eigentlich?«

»Nun ja, es dient der Gesundheit, erfrischt dich und du riechst danach einfach gut. Aber das wirst du selbst erleben und entscheiden, wenn wir ein paar Tage zusammen sind.«

Die Königin hatte während dieser Unterhaltung ein bisschen ihre Augenbrauen hochgezogen und ihre Hofdamen hatten schweigend, zum Teil belustigt, zum Teil erstaunt, zugehört.

»Ich freue mich, dass du gekommen bist. Sag bitte Editha zu mir. So nennt mich hier jeder. Ich bin noch lange nicht Königliche Hoheit. Wie darf ich dich denn anreden?«

»Sag bitte Amanda zu mir.«

»Das hört sich gut an, so warm. Hat dein Name irgendeine Bedeutung?«

»Ja. Er ist aus einer alten Sprache abgeleitet und bedeutet, dass die Person, die ihn trägt, geliebt werden muss. Ich war das einzige Kind meiner Eltern.«

»Wie wunderschön. Ich würde gern Amanda heißen. Ich heiße Editha nach einer heiligen Frau und muss wohl besonders lieb und artig sein, damit ich geliebt werde. Ich bin sicher, dass du deinen Namen zu Recht trägst, Amanda. Wirst du mir helfen, genauso zu werden? Darf ich dir einen Kuss geben?«

»Nur zu gern, Editha.« Amanda Frowien war zutiefst bewegt und umarmte das kleine, so ernsthaft redende Mädchen, das im Sturm ihr Herz gewonnen hatte.

Die Königin und die Hofdamen waren gerührt.

»Nun geh mit Frau Frowien, mein Schätzchen, und zeige ihr deine Zimmer. Frau Frowien wohnt gleich neben deinen Räumen. In Zukunft werdet ihr auch gemeinsam essen. Ausnahmsweise möchte ich heute mit euch zu Abend essen«, sagte die Königin.

»Vielen Dank, Mama, darüber freue ich mich.« Ohne zu zögern fasste sie die Hand ihrer neuen Gouvernante und führte die aus dem Zimmer. Die Zofe folgte ihnen.

Mit dem Tag begannen die achtzehn Jahre, in denen aus dem kleinen Mädchen Editha mithilfe der Erziehung durch Amanda Frowien die einflussreichste Frau von Friedland wurde. Das lag, abgesehen von ihrer Herkunft, wohl vor allem an ihren Gaben, aber auch an der Erziehung.

Amanda Frowien ging vorsichtig mit dem ihr anvertrauten Kind um. Sie brauchte Tage und Monate, um es näher kennenzulernen und ihre Anlagen zu studieren. Sie erkannte die Hypersensitivität des Mädchens in allen Sinnen, außer eben im Sehen. Dafür vernahm sie allein am Schritt, sogar am Rascheln des Kleides, wer sich ihr näherte. Sie erfasste am Geräusch der Menschen und Pferde im Hof, ob der König ausritt oder ob sich Fremde im Schloss einfanden. Sie nahm in den Stimmen der Menschen ihre Gemütslage wahr und was sie denken mochten. Sie hörte am Wind vor den Fenstern, wohin sich das Wetter wendete und an den Lauten der Tiere und Vögel, ob sie glücklich waren oder nicht. Gleiches galt für ihren Geruchssinn. Sie erkannte Menschen, ja alle Lebewesen an dem Geruch, der von ihnen ausging, und zwar nicht nur, welcher Art sie waren, sondern sogar oft ihre Gemütslage. Außerdem konnte sie von Weitem Speisen und Getränke an ihrem Duft erkennen und setzte Amanda Frowien so manches Mal in Erstaunen, wenn sie zum Beispiel erklärte: »Es gibt heute Erbsenbrei mit Schweinefleisch!«, obwohl die Küche, die das Gericht liefern würde, drei Stockwerke tiefer in einem Seitengebäude untergebracht war.

Ähnliches galt für ihr Fühlen und Schmecken. Sie erkannte Menschen, denen sie schon begegnet war, wenn sie ihre Hand nahm. Sie schmeckte am Wasser, das man ihr zu trinken gab, wenn es von einer anderen Quelle kam und wenn ein anderer Koch die gleichen Speisen für den Tisch bereitet hatte, den sie mit ihrer Erzieherin teilte.

Die Natur entschädigte sie wahrlich reich dafür, dass sie ihr das Sehen versagt hatte.

All das offenbarte sich mit der Zeit ihrer Erzieherin Amanda Frowien. Aber diese außergewöhnliche Schärfe ihrer vier gesunden Sinne war ja nicht alles. Je älter sie wurde, desto mehr hatte Amanda Frowien Grund, ihre geistigen Gaben und die Tiefe ihres Gemüts zu bewundern. Das Mädchen lernte unter der Führung ihrer Tutorin ohne Anstrengung im ersten Jahr ihres Zusammenlebens Lesen und Schreiben, bis zu seinem achten Lebensjahr zwei lebende Fremdsprachen und eine der alten vergessenen Sprachen, die man braucht, um alte Literatur im Urtext lesen zu können. Die Beweglichkeit und Klarheit seines Intellekts und die Aufnahmefähigkeit seines Gedächtnisses schienen grenzenlos zu sein. Es nahm deswegen Amanda Frowien nicht wunder, dass Editha in den folgenden Jahren spielerisch zu Bereichen, in denen sich in damaligen Zeiten nur Wissenschaftler auskannten, schnell Zugang fand, wie zum Beispiel zum Rechnen und zur Mathematik, zur Astronomie, Geografie und sogar zur Medizin. Als Amanda Frowien den Wissensdurst und die geistige Kapazität ihres Schützlings nicht aus eigenem Vermögen mehr befriedigen konnte, gewann sie mit der Einwilligung der erstaunten Königin Gehilfen für die Unterrichtung des Mädchens, Gelehrte in vielerlei Bereichen und Künstler, damit auch die Beschäftigung mit den schönen Künsten nicht zu kurz kam. Aktiver Zugang zu den gestaltenden Künsten war ihr natürlich versagt. Sie lernte rasch das Klavierspiel nach dem Gehör, sang ansprechend und verfasste aus dem Stegreif lyrische Dichtung.

Andere Beschränkungen gab es für sie hinsichtlich vieler körperlicher Betätigungen. Sie wusste, dass ihre Brüder an allen möglichen Spielen und Wettkämpfen teilnahmen und mit Waffen umgehen lernten. Sie interessierte sich brennend dafür und haderte manchmal mit ihrem Schicksal, wenn sie vom Fenster das Geschrei der anderen Kinder vernahm, wenn einmal wieder ein Laufwettkampf war, die Brüder mit den Großen ausritten oder Amanda sie auf ihr inständiges Bitten auf die Galerie über der kleinen Halle brachte, wo ihre Brüder beim Fechtunterricht waren. All das blieb ihr versagt. Sie ließ sich umso mehr von ihren Brüdern erzählen, was sie getan und erlebt hatten, wer in welchen Wettkämpfen gewonnen habe und freute sich mit ihnen und gab ihnen ihre erst kindlichen und später immer verständiger werdenden Kommentare und Ratschläge.

In diesem ihr weitgehend verschlossenen Bereich gab es trotz allem eine Disziplin, in der sie sich betätigen konnte und es nach endlosem, intensivem Üben zu bemerkenswerten Darstellungen ihres Könnens brachte: das Tanzen. Dass sie nicht nur im Tanzen mit einem Partner, also geführt, etwas erreichte, sondern auch im Solotanz, lag an ihrem zunehmend besser entwickelten, auf Gehör und Gefühl aufbauenden Sinn, sich allein zu bewegen. Wenn sie einen Raum erst einmal kennengelernt hatte, fühlte sie sich bald in ihm sicher. Und die Sicherheit in ihren tänzerischen Bewegungen verliehen ihr Stunden über Stunden Training mit zunehmend besseren Lehrern und Lehrerinnen, zuletzt dem Königlichen Ballettmeister. Und schließlich bemerkte man überhaupt keine Unsicherheit mehr an ihr, nicht mehr ihre etwas starren Augen, die nach innen gekehrt zu sein schienen oder geschlossen waren, man sah nur noch die unerhörte Grazie und Leichtigkeit, mit der dieses schlanke schöne Mädchen über den Boden glitt, ihre Pirouetten drehte oder bei ihren Sprüngen durch die Luft schwebte.