Wundersame Geschichten II

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Sie kamen in einen Abschnitt, wo sich das Tal weitete.

»Hier und in unmittelbarer Nähe sind besonders viele Gräber, unter anderem das von Tutanchamun, das den Grabräubern entging und, wie schon gesagt, erst 1922 von Carter entdeckt wurde. Es erhielt die trockene Bezeichnung KV62 und war eine Sensation. Die Schätze, die in dem Grab gefunden wurden, einer Anlage, die über eine steile Treppe in eine verwinkelte Anlage mehrerer Kammern führte, waren spektakulär. Es dauerte Jahre, sie zu bergen und zu katalogisieren. Sie kennen sicher Bilder, zum Beispiel von der goldenen Totenmaske, dem berühmten Alabastergefäß, dem Totemwagen und andere. Zu ihnen gehörte übrigens auch eine große Statue des Anubis in der Gestalt eines Hundes. Sie werden sehen. Allerdings sind die originalen Fundstücke in keinem der Gräber mehr verblieben. Nur noch einige Nachbildungen.«

Sie waren inzwischen vor dem Eingang zur Grabkammer KV62 angekommen. Der Mitarbeiter, der sie begleitete, schloss die Außentür auf, schaltete die Beleuchtung ein und sie begannen ihren Abstieg. Blackie war ohne Aufforderung vor dem Eingang liegen geblieben.

»Wir können sicher sein, dass uns niemand, jedenfalls kein hiesiger Ägypter, stören wird, solange der Hund in der Pose vor dem Eingang liegt«, hatte Ernest Graham gemeint.

Nachdem sie die erste Türöffnung hinter sich gelassen hatten, ging es einen Gang schräg abwärts zur nächsten Türöffnung, zur sogenannten Vorkammer, in der es bei der Öffnung des Grabes angeblich ein Durcheinander von Dingen gab, die bei den Grablegungen gebraucht worden waren.

Die Räume der Grabanlage waren gut ausgeleuchtet. Es herrschte die sprichwörtliche Grabesstille, sodass jeder seinen eigenen Atem, das Herzklopfen, die Schritte und das Rascheln der Kleidung zu hören meinte. Im Vorraum begann Graham wieder mit seinen Erläuterungen. Unwillkürlich dämpfte er seine Stimme und auch die Burgess wagten kein lautes Wort, wenn sie Fragen hatten. Die Wände waren mit Ausnahme einiger Schriftzeichen undekoriert, nur ein paar Kultgefäße standen davor. Durch eine weitere Türöffnung, die, wie Graham betonte, ursprünglich geschlossen und vom Entdecker Carter trotz der berühmten Verfluchung aller Eindringlinge gewaltsam geöffnet worden war, kam man dann in die eigentliche Grabkammer, in der ursprünglich die Mumie des Pharaos bestattet gewesen war.

»Hier stand sozusagen sein Totenhaus. Sie kennen ja die prominente goldene, zum Teil blau emaillierte Totenmaske des Tutanchamun, die den Kopf der Mumie bedeckte. Die Mumie war eingeschlossen von mehreren bemalten Särgen, die ihrerseits in den granitenen Sarkophag eingeschlossen waren. Und der wiederum war seinerseits von vier immer größeren hölzernen und bemalten Truhen umschlossen. Der ganze Raum war damit ausgefüllt. Erst jetzt, da sich dies alles, einschließlich der Mumie selbst, im Ägyptischen Museum in Kairo befindet, kann man die Ausmalung der Grabkammer richtig erkennen und würdigen.«

Die Farben leuchteten im Licht der gut platzierten Lampen. Besonders eindrucksvoll war die Gruppe an der Nordwand, die darstellt, wie der Pharao, gefolgt von seinem Ka, dem ihm identischen Abbild seiner Seele, vom Gott der Unterwelt Osiris empfangen wird.

»Warum ist Osiris denn ganz in Weiß mit grüner Gesichtsfarbe dargestellt?«, wollte Amy wissen.

»Weiß war für die alten Ägypter die Farbe der Unterwelt und die grüne Gesichtsfarbe deutete an, dass Osiris nach ihrer Vorstellung immer wiedergeboren wurde.«

Graham las ihnen einige Grabinschriften vor und übersetzte sie, dann wies er auf die Südwand, wo die Bemalung Reste weiterer Götter darstellten, die Tutanchamun begleiteten, unter anderem auch der Gott Anubis, von dem allerdings nur noch Teile zu sehen waren.

Er zeigte ihnen einen kleinen Annexraum, in dem ursprünglich Grabbeigaben aller Art gestapelt waren und schließlich den sogenannten ungeschmückten Tresorraum, der durch eine Wandöffnung betreten werden konnte. In ihm stand eine Abbildung des Anubis als liegender Hund, eine Nachbildung des Originals im Ägyptischen Museum.

»Hier ist Ihr Blackie, Miss Burgess. Vielleicht etwas schlanker dargestellt, als Ihr Hund es ist. Aber er ist es, typisch. Im Übrigen enthielt dieser Raum bei seiner Öffnung durch Carter Hunderte von Objekten aller Art, einige von unschätzbarem Wert, andere typische Gerätschaften, die der junge König geliebt hatte, mehrere Wagen zum Beispiel, mit denen er zur Jagd fuhr.«

Sie verbrachten fast eine ganze Stunde in dem berühmtesten aller Pharaonengräber. Dann stiegen sie wieder an die Oberwelt, wanderten ihren Weg hinauf ins Tal und besichtigten eine weitere ausgedehnte Grabstelle, KV11, das Grab vom Pharao Ramesses III., mit wunderschönen Ausmalungen. Danach kamen sie an das Ende eines der Seitentäler des weitverzweigten Tals der Könige. Die letzte, etwas abgelegene Grabstelle KV15 dort, die des Pharao Sethos II. aus der 19. Dynastie, brachte, wie es bei längeren Museumsbesuchen zumeist vorkommt, nichts aufregend Neues. Die ersten Zeichen der Ermüdung machten sich bemerkbar, insbesondere bei Amy, die mit ihrem Handstock bisher brav mitgehalten hatte.

»Ich glaube, wir sollten uns auf den Rückweg machen, Mr Graham. Sie haben uns einen außerordentlichen Morgen beschert, der uns sicherlich lange beschäftigen wird«, sagte der Oberst.

»Es war mir ein besonderes Vergnügen. Vielleicht können wir heute Nachmittag einen kurzen Abstecher ins Tal der Königinnen machen, wo ich Ihnen ein paar interessante Einzelheiten zeigen kann.«

Amy hatte sich nach Blackie umgedreht, der ihr plötzlich nicht mehr bei Fuß folgte.

Blackie war vom Wege ab etwa dreißig Meter weit bergan gestiegen und stand wie erstarrt zwischen zwei Felsblöcken, die offenbar von den dahinter aufsteigenden Klippen heruntergestürzt waren. Er scharrte erst mit der rechten Pfote im Geröll, hob seinen Fang, als wenn er den Wind in verschiedenen Richtungen prüfen wolle und setzte sich dann auf seine Keulen und ließ zweimal kurz nacheinander seinen Klagegesang hören. Dann sah er zu Amy hin. Auf ihre Aufforderung, zu kommen, reagierte er nicht, sondern heulte noch einmal kurz auf.

Nun waren auch die Männer aufmerksam geworden.

»Ich kann mir nicht helfen, Mr Graham. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Blackie meint, genau an der Stelle eine Grabstelle mit Toten gefunden zu haben«, erklärte Amy.

Graham sah sie überrascht und ratlos an.

»Also, liebe Miss Burgess, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir die ganze Gegend hier nach weiteren Grabstellen fast umgepflügt haben. Und wir haben inzwischen ziemlich neuartiges Gerät für diese Untersuchungen.«

Graham sah mit einem Ausdruck des Zweifels zu Blackie hin, der keine Anstalten machte, seinen Platz zwischen den Steinblöcken aufzugeben.

»Ich gebe ja zu, dass wir auch in den letzten Jahren laufend etwas Neues gefunden haben. Denken Sie nur an KV5 und dass wir immer noch nicht wissen, wo die Gräber verschiedener Pharaonen oder ihrer Konsorten aus der fraglichen Periode der ägyptischen Geschichte sind, nach denen wir ja bereits gesucht haben. Aber hier? Vielleicht doch eher in einem der weniger untersuchten Nebentälern.«

»Wir können Ihnen da nicht raten, Mr Graham. Ich kann Ihnen nur sagen, dass sich der Hund zum Beispiel damals in den Resten des Augustinerklosters bei Ramsgate genau so verhalten hat. Und die Untersuchung hat ihm recht gegeben. Natürlich können Sie hier und jetzt nichts unternehmen. Bewahren Sie es eventuell als eine Anregung für Ihre Untersuchungen auf.«

Amy verließ den Weg, stieg mit ihrem Stock etwas mühsam die Steigung hinauf und nahm den Hund am Halsband. Er folgte ihr willig.

Als die Grahams und Burgess’ abends im Winter Palace Hotel beim Dinner saßen, galt das Gespräch den Erlebnissen des Tages und kam bald auf Blackies Verhalten in der Nähe der Grabstätte KV15.

»Ich habe mir die Sache überlegt«, begann Ernest Graham etwas unschlüssig. »Obwohl ich mir nicht denken kann, dass trotz der von Ihnen betonten Indizien große Aussichten bestehen, an dieser Stelle etwas zu finden, werde ich eine Untersuchung einleiten. Ich will Ihnen gerne erläutern, was mich zögern lässt. Es gibt aus der ganzen Grabungsgeschichte im Tal der Könige keinen Hinweis auf weitere Gräber am Ende dieses Seitentals, auch keine Hinweise aus Papyri oder antiken Inschriften. Wir haben gerade in der Gegend zuletzt vor vier Jahren eine ziemlich eingehende Untersuchung erfolglos abgeschlossen. Und jetzt kommen Sie und Ihr Hund Blackie und halten es für möglich, dass Ihr Hund uns trotz unserer modernen Suchgeräte eines Besseren belehrt!«

Er machte eine Geste etwas komischer Verzweiflung.

»Andererseits sind wir ja schon häufiger eines Besseren belehrt worden. Und in unserer Wissenschaft gibt es zugegebenerweise viele Unsicherheiten. Und die bisherigen Erfahrungen mit Ihrem Hund machen einen neugierig. Sie müssen mir nachsehen, dass ich Ihre Berichte von Blackies Entdeckungen in England habe nachprüfen lassen, besonders den über seinen Fund im St. Augustin Kloster in Ramsgate. Ob ich meine Absicht, dort zu graben, verwirklichen kann, ist jedoch noch ungewiss. Sie müssen verstehen, dass ich eine neue teure Recherche nicht allein entscheide. Was glauben Sie wohl, was meine Peers im Genehmigungsausschuss sagen, wenn ich die Untersuchung mit der einfachen Begründung beantrage, dass sich der Hund von Freunden aus England an einer bestimmten Stelle in der Nähe von KV15 auffällig benahm. Sie würden mich auslachen, und ausgelacht werden hat nicht nur die Ablehnung eines solchen Antrags zur Folge, sondern ist gelegentlich sogar der Tod für einen Wissenschaftler.«

Nun musste er selbst lachen.

»Ich muss diesen nächsten Schritt also wirklich sehr gut vorbereiten. Ich gebe Ihnen allerdings gern zu, dass ich selbst inzwischen gespannt bin. Man bekommt nicht oft in seinem Leben eine so merkwürdige Chance, auch wenn ich einen Erfolg, wenn Sie mich heute auf Ehre und Gewissen fragen, nicht einmal auf eins zu hundert einschätzen würde. Zu oft waren unsere Bemühungen erfolglos.«

 

Er hob sein Weinglas und prostete der Runde zu.

»Ich habe mich jedenfalls entschieden. Wenn etwas daraus werden sollte, werden Sie das während Ihres Besuchs hier nicht mehr mitbekommen. Sie sind dann längst wieder in England. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen zu gegebener Zeit Nachricht geben werde.«

Am nächsten Morgen in der Frühe machte sich die Alexandria auf zur Weiterfahrt nach Assuan. Vater und Tochter Burgess saßen mit ihrem morgendlichen Tee auf der Aussichtsterrasse und beobachteten das Ablegen und danach das Leben und Treiben an den beiden Nilufern.

Die Alexandria machte ihren ersten Stopp beim Ort Esna, wo sie den Tempel des Gottes Chnum und seiner Konsortin Neith und ihres Sohnes besichtigten.

Der zweite, viel interessantere Aufenthalt war etliche Meilen weiter südlich am Ort Idfu, der früher Edfu hieß, in dem eines der Wunderwerke des ägyptischen Tempelbaus zu besichtigen war: der mit Recht als einer der schönsten und am besten erhaltenen Tempel des ganzen Landes gepriesene Tempel des Horus, des Gottes der Sonne und des Lichtes. Die Reliefs in den hohen rötlichen Sandsteinmauern waren mit das Schönste und die Säulenreihen im Innenhof nach Karnak das Eindrucksvollste, was die Burgess auf ihrer Reise zu sehen bekamen. Lange bewunderten sie das große steinerne Standbild des Falken, des Sinnbildes des Gottes, neben dem Tor im Innenhof.

Die nächste Station dieser Reise, der Doppeltempel des Krokodilgottes Sobek mit dem des Osiris am Ufer des Nils, ganz in der Nähe des Ortes Kom Ombo, war ebenfalls den Aufenthalt wert.

Ganz besonders gespannt aber waren die Burgess’ auf den letzten Zwischenstopp vor ihrer Ankunft in Assuan im Örtchen El Kays. Unterstützt von Ernest Graham hatten sie Kapitän Achmed Nasseri in Luxor ihren Wunsch vorgetragen und hatten bei ihm sofort Gehör gefunden.

»Sie meinen wegen des Tempels des Anubis, nicht wahr? Ich habe mir das fast denken können, als ich Sie mit Ihrem Hund an Bord kommen sah. Was für ein Prachtexemplar. Das reine Ebenbild von Anubis in der Hundegestalt! Wir gehen auf solche Sonderwünsche gern ein, wenn die Landebedingungen nicht zu schwierig sind. Die Alexandria bedient eben nicht den Massentourismus, sondern mehr die Reisenden mit eigenen Reisevorstellungen, wie Sie es bei der Planung ja sicher gemerkt haben – auch im Preis natürlich!«

Er lachte und fuhr fort: »El Kays liegt auf beiden Seiten des Nils mit der Insel im Strom dazwischen. Ich weiß nicht, wie sie im alten Ägypten hieß. Ich erinnere mich an den Namen, den die Griechen ihr gaben: Cynopolis, die Hundestadt. Ah, das wissen Sie? Ich habe dort schon früher angelegt und kenne den Landeplatz an der Insel, auf dem sich der Tempel und der Hundefriedhof befinden. Ich habe mich da einmal umgesehen, muss aber gestehen, dass diese Tempelanlage nicht mehr viel hermacht. Sie ist einfach zu alt. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt noch Leute gibt, die sich um einen Anubiskult bemühen. Dass dieser Gott der Unterwelt aus den Vorstellungen des Volkes besonders hier im oberen Ägypten bislang nicht verschwunden ist, obwohl sich die meisten inzwischen zum Islam und viele auch zum koptischen Christentum bekennen, kann ich aus vielen Beobachtungen bezeugen. Also, Ihr Wunsch ist mir Befehl. Wir werden dort voraussichtlich gegen Mittag ankommen und knapp zwei Stunden bleiben können. Ich hoffe, das reicht für Ihre Wünsche.«

Gegen elf Uhr des folgenden Tages kam Kapitän Nasseri persönlich auf das Sonnendeck, um die Burgess‘ daran zu erinnern, dass die Alexandria in etwa einer Stunde im ehemaligen Cynopolis, an der Insel im Nil, anlegen werde.

Vater und Tochter zogen sich um und warteten kurz vor der Landung mit Blackie und ein paar anderen Passagieren am Landungssteg, der nach ein paar Manövern von ein paar kräftigen Matrosen auf den Pier geschoben wurde und die Besucher auf die Insel entließ. Es war außerordentlich heiß. Aber da der Weg zum Tempel, der nicht mehr als 80 Schritte entfernt zwischen ein paar Palmen vor ihnen aufragte, nicht weit war, gab es kein Problem. Oberst und Amy Burgess steuerten direkt auf den Tempel zu, während sich die anderen Leute etwas verliefen. Blackie folgte ihnen in einer, wie Amy fand, ungewöhnlichen Haltung. Er trug seinen Kopf hoch, seinen buschigen Schwanz waagerecht und schien auf den Tempel fixiert zu sein. Der Tempel aus stark verwitterten rötlichen Sandsteinquadern gebaut, zeigte auf seinen Außenflächen einige Reliefs mit Bildnissen vor allem von Anubis und Ra und viele ziemlich verwitterte Inschriften. Leider war niemand da, der ihnen diese Inschriften entziffern konnte.

Sie traten durch ein hohes, von zwei dicken Säulen flankiertes Tor in das Halbdunkel der von kleineren Säulen umstandenen Tempelhalle und sahen sich unvermutet, noch bevor sie sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, einer riesigen steinernen Statue des Anubis gegenüber. Der alte Gott trug, wie sie es von anderen Bildern kannten, den Hundekopf über einem Menschenleib, in der rechten Hand den gegabelten Stab, das ›Was-Zepter‹ und in der linken den ›Anch‹, das Zeichen für das Weiterleben nach dem Tod.

Unter diesem besonderen Eindruck hatten die beiden Besucher nicht auf ihren Hund geachtet. Als Amy sich nach ihm umdrehte, sah sie, wie er sich in einer völlig ungewohnten Weise, fast kriechend, dem Standbild des Anubis näherte, dann niederlegte, seinen Kopf hob und einen lang gezogenen Ton, halb Gebell, halb Jaulen, so ganz anders als seine früheren Klagelieder, von sich gab. Als er schließlich verstummt war, legte er seinen Kopf auf die Pfoten und schloss seine grünen Augen. Nach einer Weile streckte sich sein Körper und seine aufgerichteten Lauscher sanken in sich zusammen.

Amy rief erschrocken: »Blackie!« und wollte zu ihm hinstürzen, als eine Stimme hinter ihr auf Englisch leise sagte: »Bitte nicht, Madame. Ihr Hund hat sich mit dem Gott, den er repräsentierte, vereinigt. Sie können ihn nicht mehr erreichen. Er ist am Ende seines weltlichen Lebens.«

Als sich Amy umdrehte, stand ein alter, grauhaariger Ägypter mit großen dunklen Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, vor ihr. Er trug ein langes graues Gewand und alte Sandalen.

»Dieses Heiligtum, Madame, hat immer noch seine Wächter, die Getreuen des Anubis. Und wenn eine seiner Inkarnationen, wie Ihr Hund, zum Gott zurückkehrt, dann sorgen wir für ihn, wie wir, ich und die Wächter vor mir, es stets getan haben. Wir beerdigen den, der Anubis in der Welt vertrat, auf unserem Friedhof. Seien Sie nicht beunruhigt oder traurig. Anubis selbst wird seinem Ka den Weg in die ewige Welt zeigen. Auch wenn Sie es nicht glauben mögen: Das war das Ziel, das Ihr Hund erreichen wollte. Er hat es gefunden.«

Auf ein Zeichen von ihm kamen zwei junge Männer in kurzen, weißen Wickelröcken mit einer Bahre, hoben den Hund auf die Bahre, legten ein weißes Tuch über ihn und trugen ihn davon. Der alte Ägypter verneigte sich und folgte ihnen.

Amy Burgess weinte und machte Anstalten, ihnen nachzugehen, aber ihr Vater legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie aus dem Tempel. Er setzte sich dort mit ihr auf eine alte Steinbank und bemühte sich, sie zu beruhigen und zu trösten.

»Siehst du denn nicht, dass Blackies Zeit gekommen war, Amy? Der Hund war, wenn ich das richtig behalten habe, zwölf Jahre bei uns und war zwei oder drei Jahre alt, als du ihn ins Haus brachtest. Wir haben darüber schon früher geredet. Nach allem, was die, die es wissen müssen, sagen, entspricht ein Hundelebensjahr physisch dem von sieben Lebensjahren eines Menschen. Er hat also so viel wie um die hundert Menschenjahre gelebt und ein Alter erreicht, das man ihm wirklich nicht ansah.«

Er streichelte ihre Schulter.

»Wahrscheinlich haben wir ihm sein Altern gar nicht so angemerkt, weil er sich von jeher so würdevoll benahm und keine grauen Haare und Falten bekam wie ich.«

In Gedanken verloren blieb er eine Weile neben ihr sitzen. Er versuchte sie zu trösten: »Wenn ich an die Worte der Schöpfungsgeschichte denke, dass wir Menschen das Abbild unseres Gottes sind, dann kann ich nur sagen, dass dieser Blackie, ein Abbild seines Gottes, uns vorgemacht hat, wie man leben und sterben sollte: immer im Einverständnis mit seinem Gott und mit dem Wunsch, zu ihm zurückzukehren. Wenn nicht der Gott selbst in ihm wirkte. Komm, lass uns zum Schiff zurückgehen. Dies ist ein trauriger Ort. Hier ist nichts mehr für uns zu sehen und zu erleben.«

Er stand auf, reichte seiner Tochter die Hand und sie gingen durch das Gräberfeld für Anubis-Hunde zurück zur Alexandria.

* * *

»Und damit endet eigentlich Blackies Geschichte, die ich Ihnen zu erzählen versprach. Nun ja, ein paar Einzelheiten, für die Sie sich interessieren mögen, sind noch nachzutragen.

Über den Rest der Ägyptenreise von Oberst Burgess und seiner Tochter Amy ist nicht viel zu berichten. Amy war zu traurig, um sich ohne ihren Begleiter Blackie auf etwas freuen zu können. Sie mochte allerdings ihrem Vater nicht den Urlaub verderben und machte das, was an Exkursionen in Assuan anstand mit, also die Besichtigung der Staudammanlagen, den Besuch des Isis-Tempels auf der Insel Philae im Stausee und die Fahrt über den See zu den geretteten Riesentempeln für Ramses II. und seine Frau in Abu Simbel am Ende des Stausees. Aber sie war, wie sie mir später sagte, glücklich, als sie endlich im Flugzeug saß, das sie von Assuan zurück nach England brachte.

Nachdem sie sich in Weybridge wieder eingelebt hatte, begann sie mit der ihr eigenen Zielstrebigkeit, die Gedenkstätte für Blackie auf dem Hundefriedhof zu planen. Ihre Trauer um ihren Gefährten dauerte für viele Monate an. Ich weiß das, weil sie mich in ihre Pläne einbezog. Sie nahm mir sogar damals schon das Versprechen ab, für die Gedenkstelle zu sorgen, falls sie versterben sollte und ihr eigenes Grab so zu gestalten, wie sie es für ihren Blackie entwickelt hatte. Und das habe ich nach zehn Jahren getan. Sie lebte zu der Zeit allein in dem großen Haus in der Oak Lane. Ihr Vater war drei oder vier Jahre zuvor gestorben. Einen neuen Hund hat sie sich übrigens nie mehr angeschafft. Sie war weiterhin bei Merskin & Threadwell, der Anwaltskanzlei, beschäftigt, inzwischen als Büroleiterin, und war, wenn Sie mich fragen, die wichtigste Person in der renommierten Kanzlei. Und dann passierte es eines Tages, dass sie auf dem abendlichen Heimweg beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst und lebensgefährlich verletzt wurde. Sie sah das Auto in der letzten Sekunde kommen, erschrak und verhaspelte sich mit ihrem Stock, als sie eilig die andere Straßenseite erreichen wollte. Der Fahrer war betrunken. Sie starb zwei Tage später.«

Nach kurzem Nachdenken ergänzte sie: »Das wäre ihr mit ihrem Blackie nie passiert. Der hätte sie gewarnt, und deshalb habe ich diesen Hinweis auf ihren Grabstein setzen lassen.«

Wir schwiegen uns einen Moment an und tranken den letzten Schluck aus unseren Gläsern.

»Vielen Dank, verehrte Frau Conston, für diese anrührende Geschichte. Wahrscheinlich werde ich einige Zeit brauchen, sie innerlich zu verarbeiten. Vielleicht noch eine Frage: Wissen Sie, ob irgendetwas aus der von Professor Graham geplanten Grabung geworden ist, ich meine die, die er nach Blackies Demonstration am Ende des Tals der Könige bei Grabstelle KV15 unternehmen wollte?«

»Ach ja. Dass ich das vergessen habe! Drei Monate nach ihrer Rückkehr nach Weybridge erhielten die Burgess’ einen Brief von Professor Graham, in dem er ihnen mitteilte, dass die mit modernen Sonden durchgeführte Untersuchung direkt unter den Felstrümmern, zwischen denen Blackie seinen Klagegesang abgegeben habe, den Zugang zu einer bisher unbekannten Grabkammer gefunden habe. Bei früheren Untersuchungen habe man diese Kammer wohl nicht finden können, weil sie direkt unter den Felstrümmern liegt, die offensichtlich erst in späteren Zeiten, nach der Anlegung des Grabes, herabgestürzt sind. Es gebe alle Anzeichen, dass es sich um ein bisher nicht gestörtes Grab handele. Man gehe mit der gebotenen Sorgfalt vor und habe bisher alle Meldungen an die Öffentlichkeit vermieden. Aber was auch immer bei der Grabung herauskommen werde, dem Hund Blackie gebühre der Ruhm für die Entdeckung. Er werde weiter berichten. Außerdem möchten er und seine Frau ihr großes Bedauern zum Ausdruck bringen, dass Blackie, wie sie von Captain Nasseri gehört hätten, in El Kays plötzlich verstorben sei. Einen solchen Hund habe er, Graham, tatsächlich noch nie erlebt. Er wünsche, dass er ihm länger für die weitere Erforschung des Tals der Könige zur Verfügung gestanden hätte. Nun seien sie wieder nur auf ihre armselige Technik und nicht auf die natürlichen Instinkte eines Anubis-Hundes angewiesen.

 

Drei Monate später erhielten die Burgess‘ einen weiteren dicken Brief von Professor Graham mit der Nachricht, dass die Grabkammer KV66 inzwischen geöffnet worden und tatsächlich unbeschädigt gewesen sei. Es handele sich, wie erste Untersuchungen ergeben hätten, wahrscheinlich um das Grab eines Sohnes von Pharao Thutmosis III., der bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen sei. Die Ausgestaltung der Grabkammern sei zwar ziemlich einfach, die verschiedenen Sarkophage, von denen allerdings erst zwei der äußeren geöffnet worden seien, und die Grabbeigaben seien jedoch sensationell, wenn auch nicht ganz mit denen des Tutanchamun-Grabes zu vergleichen. Einige Einzelheiten seien auf den beigefügten Fotos zu sehen. Im Übrigen werde in Kürze die Öffentlichkeit über diese neue Entdeckung informiert werden. Und das passierte bald danach in der üblichen großartigen Aufmachung mit Bildern, die um die ganze Welt gingen. Professor Graham wurde durch diese Grabung weltbekannt. In keinem der Interviews, die er gab, vergaß er Blackie zu erwähnen, den Anubis-Hund, der der Wissenschaft den Weg zu diesem Grabe gewiesen habe.«

Jennifer Conston schwieg einen Moment.

»Aber das ist nun wirklich alles. Es ist spät geworden. Ich muss mich langsam nach Hause begeben.«

»Nochmals herzlichen Dank, Frau Conston. Ich werde eben die Rechnung begleichen und Sie dann nach Hause begleiten.«

»Machen Sie sich keine Mühe. Der Weg ist nur kurz und gut beleuchtet. Schlafen Sie wohl.«

Die alte Dame erhob sich. Ich begleitete sie zur Tür, kehrte zum Tisch zurück und bestellte mir noch ein Glas Rotwein, um für eine Weile über diese Geschichte nachzusinnen, bevor ich mein Bett aufsuchte.