Wundersame Geschichten II

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Die Ankündigung dieses Besuchs machte Mr Merskin zu schaffen. Einerseits durfte der Umschlag nach den Bedingungen des Legats erst am oder nach ihrem 21. Geburtstag an Julia Haswell herausgegeben werden, andererseits hatte sie ja gerade am Tage des Festes Anspruch auf die Juwelen, und es war durchaus verständlich, dass sie sich dann damit schmücken wollte. Irgendwie musste ein Weg gefunden werden, die rechtlichen Bedingungen einzuhalten und der jungen Frau trotzdem die Juwelen für ihren Geburtstag zukommen zu lassen. Jedenfalls veranlasste Mr Merskin, dass der Umschlag aus dem Tresor der Midland Bank in Guildford abgeholt wurde, wo derartige Verwahrstücke für Klienten normalerweise aufbewahrt wurden, und in den firmeneigenen Tresor verbracht wurde.

Wie angekündigt, erschien Julia Haswell am nächsten Morgen gegen 10 Uhr in der Kanzlei. Mr Merskin hatte auf sie, eine hübsche und natürliche junge Frau, schon gewartet und geleitete sie persönlich in sein Büro, wo bereits Amy und Mr Goodwin, ein Juniorpartner der Kanzlei, mit dem Umschlag warteten. Der alte Merskin machte zunächst ein bisschen Umstände und nötigte seinen Besuch zu einer Tasse Tee. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als Julia Haswell zu erklären, dass er ihr aus rechtlichen Gründen den Inhalt des Umschlags heute leider nicht aushändigen dürfe. Die Enttäuschung der jungen Frau war riesengroß.

»Bis dahin sind es doch nur noch drei Tage, Mr Merskin. Mein Vater ist ebenfalls der Ansicht, dass das wohl nach allen Standards nach so vielen Jahren keinen Unterschied mehr machen könne. Es ist im Übrigen für mich ein so großer Tag.«

Sie fing sogar an zu weinen, was Mr Merskin nur nervöser machte.

»Ich verstehe Ihre Situation ja völlig, liebes gnädiges Fräulein. Wer könnte nicht! Aber die juristischen Regeln sind nun einmal wie eiserne Klammern. Ich kann sie nicht ändern. Und ich möchte nicht wissen, was die Versicherung sagen würde, wenn wir uns an die genauen Regeln für die Aushändigung nicht halten würden.«

Er schnäuzte sich, weil die Aufregung etwas viel für ihn wurde.

»Nun beruhigen Sie sich bitte, mein Fräulein. Wir haben uns ja schon einen Weg ausgedacht, wie dem Recht einerseits und Ihrem Anspruch, das Juwel am Tag Ihrer Volljährigkeit tragen zu können, Genüge getan werden würde. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder wird es Ihnen hier am Sonntag, Ihrem Geburtstag, zur Verfügung stehen. Wir werden also hier sein, wenn Sie es abholen lassen. Oder aber, wir bringen es Ihnen an Ihrem Geburtstag nach Hause. Amy Burgess, meine Assistentin, hat sich bereit erklärt, den Umschlag mit angemessenem Schutz zu Ihnen nach Colridge Manor zu bringen, sodass es Ihnen dort spätestens zur Mittagsstunde zur Verfügung steht.«

Die Aussicht darauf, dass sie ihren Schmuck rechtzeitig erhalten würde, beruhigte die junge Frau. Sie wandte sich an Amy. »Würden Sie das wirklich für mich tun? Ich wäre Ihnen ja so unendlich dankbar. Ich selbst kann an dem Tag nicht kommen. Mein Vater, der gesundheitlich nicht besonders gut dran ist, könnte ebenso wenig kommen und der ganze Haushalt steht sowieso kopf wegen des Festes am Abend. Ich würde Sie auch gern einladen, daran teilzunehmen, wenn Sie mir den Gefallen erweisen. Ich schicke Ihnen unseren Wagen mit John, unserem Chauffeur, der Sie sicher nach Guildford bringen wird und zurück.«

»Ich tue das gern, Miss Haswell, und komme lieber mit meinem eigenen Wagen. Ich fühle mich sicher, zumal ich besonderen Schutz habe.«

Diese Bedingung, dass Blackie sie auf der Fahrt begleiten dürfe, hatte sie Mr Merskin abgetrotzt.

»Dann ist ja alles wunderbar geregelt.« Julia Haswell war erleichtert. »Ich bin allerdings überrascht, wie formal die Juristen sind und wundere mich natürlich ein bisschen darüber. Das müssen Sie, Mr Merskin, einer jungen Frau ohne Erfahrung nachsehen. Aber Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, dass ich dieses Erbstück, dieses Juwel, das als wichtigste Preziose der Familie gilt und das nur meine Mutter ein paar Mal getragen hat, nachdem Großmutter gestorben war, gern einmal wiedersehen und in der Hand halten möchte, wenn Sie es mir denn schon nicht heute überlassen wollen.«

Mr Merskin überlegte nur kurz. »Dagegen kann wohl keiner etwas haben, gnädiges Fräulein. Amy, geben Sie mir bitte mal den Umschlag.«

Er nahm den Umschlag, zeigte das unversehrte Siegel, brach es und entnahm ihm eine blaue Kassette, die er auf den Tisch legte. Mr Merskin wandte sich fast väterlich an Julia Haswell. »Öffnen Sie nur die Schatulle. Es ist ja bald die Ihre.«

Julia Haswell drückte auf den goldenen Knopf an der einen Längsseite, der Deckel sprang auf.

Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Erstaunen und gleichzeitig Erschrecken ab. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, als wenn sie einen Schrei unterdrücken wolle. Alle anderen sahen es im gleichen Moment: Die Kassette war leer. Einen Augenblick stand entsetztes Schweigen im Raum. Selbst der sonst so beherrschte Mr Merskin war wie gelähmt. Dann sprachen mehrere Stimmen gleichzeitig durcheinander. Mr Merskin wollte schon nach der Kassette greifen, um sie näher zu untersuchen, als Amy ihn zurückhielt und ihm halblaut riet, sie nicht zu berühren, um mögliche Spuren nicht zu verwischen. Der alte Herr gewann sofort wieder seine besonnene Ruhe und Autorität.

»Bitte, niemand darf etwas anrühren. Hier ist etwas völlig Unglaubliches passiert. Ich fürchte, wir müssen die Polizei einschalten.«

Mr Merskin unternahm es selbst, das zu tun, bat Mr Goodwin, alle Unterlagen bezüglich des Verwahrstücks für eine Untersuchung vorzubereiten, und Amy, sich der immer noch fassungslosen Julia Haswell anzunehmen. Das Zimmer mit dem Umschlag und der Kassette auf dem Tisch wurde verschlossen.

Es gelang Amy, Julia Haswell einigermaßen zu beruhigen. Sie stellte ihr Blackie vor und war froh, in ihr eine tierliebende Seele zu entdecken, die darüber fast ihren Kummer vergaß. Blackie schien zu fühlen, dass Amy seine Hilfe brauchte und gab sich einigermaßen zutraulich, sodass Julia schließlich von Rasse und Würde des großen Hundes ganz fasziniert war und anfing, mit Amy über die Möglichkeit zu reden, mit ihm eine Zucht anzufangen. Dieser Vorschlag kam ihr ganz natürlich, weil ihr Vater, wenn man ihr glauben konnte, durchaus mit ihrer Hilfe eine eigene Spanielzucht aufgebaut hatte. Sie redete über das Thema mit großem Engagement und offenbar umfangreicher Sachkenntnis, was Amy, der solche Überlegungen völlig fernlagen, einigermaßen verlegen machte. Jedenfalls überbrückte das großartig die Zeit, bis Mr Merskin die beiden jungen Frauen in das Besuchszimmer bat, in dem inzwischen zwei Detektive der Polizei des County Surrey warteten. Leutnant Morsley begann mit seiner Vernehmung und ließ sich Hintergrund und Umstände dieses merkwürdigen Verlustes erklären. Es wurde festgestellt, dass der Umschlag mit unbeschädigtem Siegel von der Bank in die Kanzlei gebracht und erst dort in Gegenwart von allen Beteiligten geöffnet worden sei. Es wurde weiter festgestellt, dass der Umschlag mit der Kassette in den vergangenen Jahren ab und zu aus der Verwahrung geholt worden war, weil Julia Haswells Mutter bis zu deren 21. Geburtstag ein Verfügungsrecht über den Schmuck hatte und ihn wiederholt benutzte. Der Schmuck wurde anschließend zurück in die Verwahrung durch die Firma Merskin & Threadwell verbracht.

Hier hakten die erfahrenen Detektive ein. Wie oft war der Umschlag in den Jahren abgeholt worden? Wann zum letzten Mal? War er versiegelt zurückgebracht worden oder waren Kassette und Inhalt überprüft und der Umschlag in der Kanzlei versiegelt worden?

Es brachte Mr Merskin und die zuständigen Mitarbeiter in der Kanzlei etwas ins Schwitzen, glaubwürdig zu erklären, dass der Umschlag mit der Kassette vor vier Jahren zum letzten Mal abgeholt und mit dem Siegel der Haswells verschlossen, zurückgebracht und in Verwahrung genommen worden sei.

Das machte eine Untersuchung erforderlich, wie mit dem Schmuck umgegangen wurde, wenn er von der letzten Viscountess Haswell benutzt wurde. Mr Merskin hatte den Viscount bereits telefonisch von dem Verlust des Schmucks unterrichtet und verabredete in einem weiteren Gespräch, dass Detektive mit den sonstigen Beteiligten von Merskin & Threadwell am folgenden Tag nach Colridge Manor kommen würden, um die Untersuchung fortzusetzen. Viscount Haswell bat darum, die ganze Angelegenheit vertraulich zu behandeln, was Mr Merskin ihm auch zusicherte.

Am Kopf des Eichentisches in der großen Halle von Colridge Manor saß der alte Viscount Haswell, rechts neben ihm Mr Merskin, links von ihm seine Tochter Julia. Sonst um den Tisch verteilt saßen die beiden Detektive, Mr Goodwin von der Kanzlei und ganz am Ende Amy. Wie üblich lag Blackie hinter ihrem Stuhl. Vor dem Tisch hatten sich einige der Angestellten des Hauses aufgestellt, an ihrer Spitze der Butler, der weißhaarige George Boswell, dann der Sekretär des Viscount, Alfred Erwin, und ihm folgend noch die ehemalige Zofe der Viscountess und der Fahrer John. Auf die Anwesenheit weiterer Angestellter hatten die Detektive verzichtet. Das Corpus Delicti, der Umschlag mit der leeren Kassette, lag auf einem kleinen Tisch etwas an der Seite.

Detektiv-Leutnant Morsley gab dem Viscount und den sonstigen Beteiligten einen kurzen Bericht über den Sachstand der Untersuchung. Er endete damit, es gebe gewisse Verdachtsmomente, dass das bedeutende Familienschmuckstück beim letzten Gebrauch hier in Colridge Manor abhandengekommen sei. Um diese zu erhärten oder auszuschließen sei vorgesehen, alle Mitglieder, die mit dem Schmuckstück zu tun gehabt hätten, zu befragen. Darüber hinaus wolle man auf Wunsch der Familie die Hilfe von Hunden einsetzen, die mit ihrem Geruchssinn vielleicht schneller, als es Menschen vermögen, Spuren finden könnten. Dahinter steckte ein von Amy mit Julia Haswell ausgedachter Einsatz von Blackie, dem nach einigem Zögern auch der Viscount zugestimmt hatte, nachdem er Blackie kurz kennengelernt und mit den Augen eines erfahrenen Hundezüchters seine Klasse und Integrität festgestellt hatte, obwohl er die Rasse selbst nicht kannte.

 

Amy stand auf. Blackie folgte ihr bei Fuß. Sie führte den Hund zu dem Tisch mit den Asservaten und ließ ihn kurz Witterung an der Kassette aufnehmen. Der Hund verstand offensichtlich, was man von ihm wollte. Er hob seine Nase in die Luft, drehte seinen Kopf hin und her. Und dann geschah das Unerhörte. Er nahm mit seinem Fang die Kassette auf, bevor ihn irgendeiner daran hindern konnte, drehte sich um und steuerte ohne Umschweife auf die Reihe der Angestellten zu und legte die Kassette vor die Füße von Alfred Erwin, dem Sekretär, setzte sich auf seine Keulen, sah den Mann aus seinen grünen Augen an und bellte einmal mit seiner tiefen Stimme.

Der Mann war bleich geworden. Er fing an zu zittern und schrie plötzlich: »Nehmt den Hund weg! Nehmt den Hund weg! Der Hund macht mich verrückt!«

Unvermittelt drehte er sich um und stürzte aus der Halle, ohne dass ihn jemand aufhalten konnte, weil alles so plötzlich geschah.

Nachdem sich die allgemeine Aufregung etwas gelegt hatte, standen Detektiv-Leutnant Morsley und Mr Merskin bei Viscount Haswell und unterhielten sich, was weiter zu tun sei.

»Mein Mitarbeiter kümmert sich schon um Mr Erwin. Der Mann scheint nicht bei sich zu sein. Er jammert nur und redet wirres Zeug, als sei er behext. Wir werden ihn wohl mitnehmen müssen, Viscount Haswell.«

»Nur zu. Ich hätte nicht gedacht, dass Alfred zu einer solchen Tat fähig wäre. Immerhin war er dreizehn Jahre in meinen Diensten. Bisher ist ja nichts bewiesen. Wir haben vor allem das Schmuckstück noch nicht gefunden, den Beweis seiner Schuld.«

Da mischte sich seine Tochter Julia ein, die hinter ihm stand.

»Wenn du erlaubst, Vater, könnten wir mit dem Hund danach suchen. Ich habe da alles Zutrauen.«

Der alte Herr dachte kurz nach. »In mir sträubt sich etwas dagegen. Man muss jedem Menschen, so verdächtig er sich auch gemacht hat, doch seinen Freiraum geben. Andererseits bin ich hier Herr im Haus. Lassen wir es auf einen Versuch ankommen.«

Eine halbe Stunde später waren Detektiv-Leutnant Morsley mit Julia Haswell und Amy wieder in der Halle. Sie hatten in Begleitung des Butlers mit dem Hund das kleine Apartment des Sekretärs inspiziert. Blackie hatte sie ohne zu zögern zu einer Kommode geführt, bei deren näherer Untersuchung sich ein Päckchen fand, das mit Klebestreifen unter dem Boden der Kommode befestigt war, darin lag das Collier. Es war fast unbeschädigt. Es fehlte nur einer der Brillanten. In einer Schatulle im Nachttisch fanden sich 3.610 Pfund Sterling mit der Abrechnung eines Londoner Juweliers über den Ankauf eines Brillanten für 4.000 Pfund. Das, die Fingerabdrücke des Sekretärs und schließlich sein Geständnis lösten den Fall. Er hatte vor vier Jahren den Auftrag der Viscountess Haswell, das Collier, das sie für eine Wohltätigkeitsveranstaltung unter ihrer Schirmherrschaft benutzt hatte, der Kanzlei Merskin & Threadwell zurückzugeben, auf seine Weise gelöst. Er hatte den Halsschmuck für sich behalten und die leere Kassette im versiegelten Umschlag zurückgesandt. Er hatte geplant zu kündigen und sich mit seinem Raub abzusetzen, dann aber den Absprung verpasst.

Alle freuten sich über die Aufklärung der Geschichte und beglückwünschten Amy zu ihrem erstaunlichen Hund und seinen fast übernatürlichen Kräften.

Detektiv-Leutnant Morsley lächelte ein bisschen und wandte sich zu Oberst Burgess. »So übernatürlich muss das nicht gewesen sein. Wenn das Kästchen noch die Witterung des Burschen nach dem letzten Einpacken trug, dann hat Ihr Blackie sie vielleicht nur zu dem getragen, dessen Witterung er aufgenommen hatte. Es ist erstaunlich, was solche Vierbeiner können. Immerhin war es vier Jahre her, dass Alfred die Kassette in Händen gehabt hatte. Verwunderlich ist allerdings, dass der Hund in Alfreds Zimmer sofort auf das Päckchen unter der Kommode zusteuerte. Alle anderen Objekte in dem Zimmer trugen die gleiche Witterung von Alfred. Tja, bemerkenswert ist das schon.«

Julia trug das Collier am Sonntag zum großen Fest, das ihr Vater ihr aus Anlass ihres 21. Geburtstags gab. Sie trug es ohne den fehlenden Brillanten und hatte geschworen, dass der zur Erinnerung an diese Geschichte nie ersetzt werden solle. Zu den Gästen des Festes gehörten auch Amy Burgess und Blackie. Der lag während des glanzvollen Empfangs allerdings nur auf der Schwelle der großen Tür zur Halle und beobachtete, was seine Herrin machte. Alle, die vorbeigingen, machten einen respektvollen Bogen um ihn. Er beachtete niemanden.

* * *

Eine richtige Kriminalgeschichte, nicht wahr, mein Herr? Ich habe das alles von Amy Burgess selbst, die sich noch Wochen danach nicht über die Aufregungen, die es besonders in der Kanzlei gab, beruhigen konnte. Den Haswells und vor allem den Burgess‘ war es eigentlich gar nicht lieb, dass sie und der Hund durch die Geschichte so bekannt wurden. Es gab sogar ein paar Zeitungsreporter, die darüber schrieben. Aber das war über die Jahre eigentlich nicht einmal die wichtigste der Geschichten, die sich um diesen außergewöhnlichen Hund rankten.

* * *

Im Laufe der Zeit gewann Amy den Eindruck, dass Blackie ein besonderes Benehmen an den Tag legte, wenn sie an Friedhöfen vorbeigingen. Er hob dann seinen Kopf höher, stellte seine großen Lauscher noch mehr als sonst auf und schien mit seiner auffälligen Haltung anzeigen zu wollen, dass er die Besonderheit des Ortes erkenne und würdige. Er benahm sich, wie Amy fand, ›feierlich‹, wie man es bei Menschen nennen würde. Darüber hinaus schien er sie durch Zeichen auf den Genius Loci hinweisen zu wollen, ging dicht bei Fuß oder sogar etwas vor ihr, stieß sie manchmal mit seiner Schnauze leicht an oder blickte zu ihr hoch. Wenn sie, wie es selten vorkam, über den Friedhof gingen, blieb er, wenn Amy an einem Grab stehen blieb, auf seinen Keulen sitzen und bellte mit einem Laut kurz auf, der sich wie ein Klageruf anhörte.

Amy stellte diese Eigenart fest, wenn sie, wie es fast täglich geschah, am Friedhof von St. James vorbeigingen oder ihn betraten. Selbst auf dem Hundefriedhof benahm sich Blackie sonderbar. Sie machte sich darüber Gedanken und kam zu dem Schluss, dass Blackie offenbar ähnliche Gefühle wie Menschen entwickelte, die an solchen Orten ihr Verhalten dämpften, um den Frieden und die Würde des Ortes der Toten nicht zu stören. Nur das merkwürdige gelegentliche Bellen konnte sie sich nicht erklären.

Im Laufe der Zeit bestätigte sich dieses eigenartige Verhalten des Hundes auf oder in der Nähe verschiedener anderer Friedhöfe und sonstiger Begräbnisstätten, aber auch bei der Begegnung mit Beerdigungsprozessionen. Amy fiel auf, dass sich umgekehrt aus seinem Verhalten Rückschlüsse darauf ziehen ließen, dass man sich in der Nähe eines Begräbnisplatzes befand, den man selbst als solchen eigentlich nicht erkannt und gewürdigt hatte.

Blackie wusste anscheinend genau, dass sie sich an einem Platz befanden, auf dem viele Menschen zu Tode gekommen und begraben worden waren, als er mit Amy den alten Oberst Burgess beim Besuch verschiedener historischer Schlachtfelder begleitete und zeigte das dann durch sein verändertes Verhalten. Das war so nicht nur bei einem Besuch der Normandie, wo sie zunächst die Landungsstellen der alliierten Truppen am D-Day 1944 besuchten, sondern auch später, als sie über das Schlachtfeld von Azincourt bei Calais gingen, wo die Engländer unter König Henry V. während des Hundertjährigen Kriegs im Jahre 1415 die Franzosen vernichtend geschlagen hatten, als Charles VI. König von Frankreich war.

Genauso war es, ein paar Jahre später, als sie bei anderer Gelegenheit das Schlachtfeld von Hastings in Battle in East Sussex besuchten, auf dem 1066 Herzog William aus der Normandie den letzten angelsächsischen König Harold II. und seine Truppen besiegte und König von England wurde, oder auf dem Stück Erde bei Leicester, auf dem im Jahr 1485 König Richard III. sein Leben verlor und der Sieger, Henry Tudor, Earl of Richmond, König von England wurde, der Erste der Tudors.

Aber es waren nicht nur Stätten aus historischen Zeiten, denen die Besuche der Burgess’ galten und die dann die besondere Aufmerksamkeit des merkwürdigen Hundes erregten. Er gab gleiche Zeichen seiner würdevollen Anteilnahme, als sie bei anderen Reisen auf prähistorische Grabstätten des Neolithikums und der Bronzezeit stießen und sogenannte Burial Mounds, Barrows, oder Hügelgräber, lateinisch Tumuli, besichtigten, wie sie nicht nur in England, sondern in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern für Edelleute ihrer Zeit errichtet wurden.

Wohlgemerkt, Blackie reagierte in der ihm eigenen Weise nicht nur bei größeren Begräbnisplätzen wie Friedhöfen oder Massengräbern, sondern auch bei einzelnen Grabstätten, Mausoleen und half sogar dabei, einige unbekannte Begräbnisstätten zu finden.

So entdeckte er bei einem Besuch auf der Farm eines alten Freundes von Oberst Burgess, einem pensionierten Obersten der Coldstream Guards, in der Nähe von Colchester in Essex, das bis dahin unbekannte Grab von römischen Soldaten. Als man bei einem Rundgang einem Weg an einer alten Steinmauer folgte, blieb Blackie an ein paar Steintrümmern mit allen inzwischen bekannten Anzeichen, dass er etwas ihn Interessierendes entdeckt habe, stehen und gab schließlich Laut. Es entspann sich ein längeres Gespräch, in dem Oberst Burgess seinem Freund auseinandersetzte, dass dieses Verhalten des Hundes auf eine Grabstätte hinweise, was der Freund zunächst belächelte, dann aber doch aufnahm. Er veranlasste jedenfalls an einem der Folgetage, dass Leute die Trümmer untersuchten und tatsächlich in ihnen Reste eines Denkmals fanden, das über einem Grab stand, in dem nach den Funden sechsundzwanzig römische Legionäre einschließlich eines höheren Offiziers begraben waren. Sorgfältige Analysen ergaben, dass es sich um Legionäre der IX. Legion handelte, die damals, im Jahr 60 A. D., gegen den Aufstand von Boadicea, der Führerin der Inceni und Trinovantes gegen die Römer, gekämpft hatten und hier offenbar einem Überfall durch die Inceni erlegen waren. Rang und Namen des Offiziers konnten nicht ermittelt werden.

* * *

Wird Ihnen die Aufzählung dieser verschiedenen Ereignisse mit ihren historischen Bezügen, die sich über die Jahre ereigneten, nicht langsam langweilig, mein Herr? Nein? Ich könnte noch ziemlich lange damit fortfahren. Insbesondere gibt es zwei Geschichten, in denen sich Blackie bei der Auffindung von Leichen und der Aufklärung von Verbrechen bewährte. Außerdem mehr als eine, in denen er sich als Beschützer von Amy und ihrem Vater verdient machte. Alle Leute bestätigten, dass sich der sonst so ruhige und zurückhaltende Hund in ein Untier verwandeln konnte, wenn irgendjemand Amy zu nahe trat. Er hat allerdings niemals einen Menschen verletzt oder gar getötet. Er machte sie mit seiner Wut und seiner Kraft nur bewegungsunfähig und, vor allem, wie soll ich sagen, schreckensstarr.

Aber, ich sehe ein, das würde alles nur zu weit führen, und die Zeit ist fortgeschritten. Und manches wiederholte sich ja auch bei diesen Geschichten im Allgemeinen, obgleich die Details sehr unterschiedlich sein konnten. Wenn Sie mir ein bisschen mehr Zeit gönnen, dann will ich noch zu zwei weiteren Begebenheiten kommen, die mir jedenfalls immer besonders bemerkenswert erschienen. Also zur ersten:

* * *

Als Oberst Burgess und seine Tochter in einem Sommer eine kurze Ferienreise an die Ostküste von Kent machten, um einen anderen alten Freund des Obersten, Mr Thornton White, einen Verleger und Zeitungsbesitzer, zu besuchen, kamen sie in die Gegend von Ramsgate. Der Freund zeigte ihnen die Umgebung und führte sie unter anderem zu den Ruinen eines Klosters, das seine Ursprünge auf den heiligen Augustin zurückführte, der hier schon in frühchristlichen Zeiten missioniert hatte. Das Kloster sei, wie er sagte, sehr reich gewesen, später von den Wikingern mehrmals überfallen und ausgeraubt, zunächst aufgebaut worden, bis beim dritten Mal die Mönche alle umgekommen seien und sich für lange Jahrhunderte niemand mehr um die Reste der Priorei gekümmert habe. Die sei verfallen und erst Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt und zu einem historischen Denkmal erklärt worden. In Begleitung des Aufsehers über das historische Denkmal, eines Kurator Blanes, gingen die Besucher erst durch ein kleines Museum und besichtigten dann die Ruinen der einstmals riesigen Anlage. Sie hatten sich in dem, was von der ehemaligen Klosterkirche übrig war, umgesehen und einige der Grabplatten mit den kaum noch lesbaren Inschriften besichtigt und gingen danach durch das Gemäuer der alten Abtei, als Blackie, der bis dahin Amy ruhig gefolgt war, einmal mit seiner tiefen Stimme bellte. Amy blieb stehen und beobachtete den Hund, der in einer Weise, die sie von anderen Fällen kannte, anzeigte, dass er etwas Wichtiges gefunden habe. Er stand über einer großen Steinplatte, die in der Ecke eines nur noch von Grundmauern gekennzeichneten Raumes eingelassen war, den man ›The Abbots Room‹ markiert hatte, also eines Raumes, der das Zentrum der ursprünglichen Priorei war.

 

Auf Amys Zuruf blieben die drei Herren stehen und sahen dem Hund zu, der aufgeregt mit den Pfoten auf die Steinplatte tappte. Amy erklärte, dass ihr Hund diese Zeichen nur gebe, wenn er an einem Ort etwas Wichtiges gefunden habe. Der Kurator schien diesen Hinweis zunächst nicht ernst zu nehmen. Auf die Bemerkung von Oberst Burgess, dass er gelernt habe, dem Hund außergewöhnliche Fähigkeiten im Auffinden von Begräbnisstätten, vergessenen oder verlorenen Dingen und sogar Altertümern zuzutrauen, wurde er jedoch aufmerksam.

»Merkwürdig, dass Sie das so betonen, Mr Burgess. Mir kommt dadurch eine alte Mär in Erinnerung, die wissen will, dass die Mönche der Abtei verstanden hätten, einiges von ihrem Reichtum vor den marodierenden Wikingern in Sicherheit zu bringen. Aber sie starben beim letzten Überfall ja alle und konnten nicht mehr reden. Eine Menge Leute sollen in den vielen Hundert Jahren nach einem solchen Schatz, von dem die Mär wissen wollte, gesucht haben. Nie wurde bekannt, dass tatsächlich etwas gefunden wurde.« Er schmunzelte. »Wenn es Sie tröstet: Ich werde morgen einmal mit Professor Elgan von Cambridge reden, der uns in wissenschaftlichen Fragen, die diese historische Stätte betreffen, berät. Vielleicht sieht der einen Sinn darin, der Aufforderung Ihres Wunderhundes zu folgen. Wir können heute, wie Sie wohl einsehen werden, kaum etwas unternehmen.«

Nun musste auch Oberst Burgess lachen. Und die Gesellschaft wanderte weiter. Amy rief Blackie, der auf der Steinplatte sitzen geblieben war, ab, und der Hund folgte ihr, allerdings, wie es ihr schien, mit einigem Zögern.

Drei Wochen waren vergangen, als sich Kurator Blanes telefonisch bei Oberst Burgess meldete und mitteilte, dass man die von seinem Hund gewiesene Spur auf Wunsch des wissenschaftlichen Beirats verfolgt habe und völlig unerwartet und in überreichem Maß fündig geworden sei. Unter der Grabplatte der angelsächsischen Adelsfamilie habe man Geröll gefunden, aber darunter den Zugang zu einer unterirdischen Krypta. Und in der habe man nicht nur Gräber früherer Äbte gefunden, die aus den Annalen des Klosters bekannt seien, sondern auch die sterblichen Überreste einer Reihe von Mönchen, die sich hier offenbar vor den marodierenden Wikingern versteckt hatten. Dazu habe unter anderem der letzte Abt Gero gehört, dessen Überreste man an seinen Insignien identifiziert habe. Im Übrigen sei dort unten der Schatz gefunden worden, von dem die Mär wusste und über den er bei dem Besuch der Burgess’ berichtet habe. Es handele sich dabei um silbernes kirchliches Gerät, einige beeindruckende Reliquien einschließlich eines kleinen Knochens von der linken Hand des heiligen Augustinus, der der ursprüngliche Stifter des Klosters war. Den Reliquiaren komme große Bedeutung zu. Ihr Wert sei schon wegen der Goldschmiedearbeit und der Juwelen unschätzbar. Darüber hinaus sei eine kleine Kiste mit goldenen und silbernen Münzen gefunden worden. Tatsächlich ein Schatz. Es sei eine Sensation. Ob der Oberst mit seiner Tochter und natürlich mit ihrem eindrucksvollen Hund Blackie nicht in vier Wochen zu einer Veranstaltung kommen wolle, in der diese neuen Funde der Öffentlichkeit vorgestellt werden würden. Selbstredend würde die Rolle, die ihr kürzlicher Besuch bei diesem großartigen Fund gespielt habe, nicht unerwähnt bleiben. Amy und ihr Vater entschlossen sich nach längerer Beratung, der Einladung nicht zu folgen. Aber sie nahmen mit großem Interesse zur Kenntnis, was in den nächsten Wochen über diese sensationelle Entdeckung in der Presse zu lesen war, und über die Rolle, die ihr außergewöhnlicher Hund beim Auffinden des Schatzes von St. Augustin bei Ramsgate gespielt habe.

* * *

»Eine ganz abenteuerliche Geschichte, liebe Frau Conston«, sagte ich, »und so großartig von Ihnen erzählt. Aber Sie müssen inzwischen ja heiser und Ihr Mund ausgetrocknet sein. Ich habe Ihre Großzügigkeit gegenüber meiner Neugier wirklich missbraucht. Es wird inzwischen dunkel und wir sollten hier nicht mehr viel länger sitzen bleiben. Erlauben Sie mir bitte, Ihnen einen Vorschlag zu machen. Ich würde zu gerne Weiteres hören, denn man ahnt ja geradezu, dass mit dem letzten von Ihnen erzählten Ereignis die Geschichte um Amy und Blackie nicht zu Ende ist, dass noch irgendetwas Spektakuläres kommen mag. Und das möchte ich nur zu gerne hören. Kann ich Sie nicht überreden, mit mir im ›The Lions Heart‹, wo ich logiere, das Abendessen einzunehmen? Man bekommt da einfache und gute englische Küche.«

»Ich weiß, mein Herr. Ihre Einladung ist sehr freundlich ...«, sie zögerte, »... und etwas ungewöhnlich. Ich bin dort tatsächlich noch nie mit einem Gentleman zu einem Dinner gewesen. Andererseits: Es besteht ja wohl kein Verdacht, der meiner Reputation schaden könnte. Gut, erwarten Sie mich gegen halb acht. Nein, Ihre Hilfe brauche ich nicht. Die Entfernung kann man durchaus zu Fuß bewältigen.«

Kurz nach der vereinbarten Zeit saß ich mit Jennifer Conston an einem kleinen Tisch im Lokal und bestellte das beste Gericht des Hauses, ›Veal Kidney Pot Pie‹, für 3.00 Pfund pro Person, das uns ausgezeichnet schmeckte. Sie trank dazu sogar wie ich einen leichten Bordeaux und nahm auf meine Anregung hinterher noch einen Nachtisch: einen dieser etwas übersüßen Trifles. Und Kaffee. Gesättigt lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und lächelte mich an. »Und nun muss ich liefern, nicht wahr?«

Sie zögerte nicht und begann: »Die wichtigste und letzte Geschichte um Amy und ihren Hund Blackie war, wie soll ich sagen, ziemlich rätselhaft und unerklärlich. Es ging damit los, dass der alte Oberst Burgess, angeregt durch Erzählungen von Offizierskameraden aus früheren Zeiten, eines Tages seiner Tochter offenbarte, er möchte gerne gemeinsam mit ihr Ägypten besuchen, wo er für fünf Jahre seiner Dienstzeit stationiert gewesen und sie selbst ja auf die Welt gekommen sei.«

* * *

»Glaubst du denn wirklich, Papa, dass du die Reise schaffst? Immerhin bist du mit deinen 78 Jahren nicht mehr der Jüngste. Und hast du mir nicht oft genug erzählt, wie anstrengend die Zeit in Ägypten mit der Hitze und bei den sanitären Bedingungen oft war? Auch Mama hat sich oft genug beklagt und ablehnend reagiert, dass niemand sie je wieder in das Land der Fellachen, wie sie es nannte, zurückbringen könne.«

Der alte Herr schmunzelte und nahm einen kleinen Schluck von seinem abendlichen Whiskey Soda. Vater und Tochter saßen vor dem Dinner regelmäßig für eine Stunde vor dem großen Kamin beieinander und redeten über die Angelegenheiten des Tages.

»Danke für deine Besorgnis, mein Kind. Du redest wie deine Mutter. Du solltest mich nicht so negativ an mein Alter erinnern, sondern mich lieber loben, wie erstaunlich rüstig ich für mein Alter bin, fast wie ein Mittsechziger, oder wenn du willst, wie Blackie, der zwischenzeitlich ebenfalls in die Jahre gekommen ist. Nach der üblichen Rechnung, die das Lebensjahr eines Menschen mit sieben des Lebens eines Hundes vergleicht, ist er rechnerisch somit über neunzig. Und er ist bis heute kregel und wohlauf. Im Übrigen: Wir haben so viele Reisen gemeinsam gemacht, und alle sind mir gut bekommen.«