Liebesmühen

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Z serii: EHP-Kompakt
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Bleibendes und Veränderliches

Da ist jemand an der erforderlichen Selbstentwicklung gescheitert. Nicht jeder Schritt gelingt, so sehr man sich das auch wünschen mag. Seelische Zwiespälte und Grenzen liegen in jedem Mensch verborgen. Jede Wirklichkeit ist mehrschichtig, mehrdeutig und von Gegensätzen durchdrungen. Deshalb besitzt auch jede Situation einen Interpretationsspielraum und stellt jede Kultur andere Möglichkeiten bereit, darauf eine Antwort zu finden. Traditionale Gesellschaften gehen einseitiger und starrer mit der Wirklichkeit um. Es gibt nur dieses eine Leben, das als solches nicht hinterfragt werden kann. Moderne Gesellschaften betonen das Vielseitige und Vergängliche sozialer Umstände, und nahezu alles darf versucht und bezweifelt werden. Traditionale Kulturen fordern mehr ein und führen ihre Mitglieder. Moderne Umgebungen verlangen wenig und überlassen es dem Einzelnen, wohin es gehen soll und wie weit man damit kommt.

So oder so jongliert die eigene Wahrnehmung immer mit zwei Perspektiven. Eine Grundlage der Wahrnehmung ist ihr kultureller Hintergrund. Das heißt, sie besitzt quasi einen selbstverständlichen Horizont, sozusagen ihr festes Standbein, das im Konzert der unendlichen Möglichkeiten dennoch nur ein winziger Ausschnitt ist, und sie ist, abhängig vom kulturellen Hintergrund, in Maßen kreativ und anpassungsfähig.

Das Kreative hat einen besseren Klang, liegt der modernen Lebensauffassung näher. Für den heutigen Zeitgenossen gibt es immer eine Alternative. Jedes Ding kann so oder auch anders herum erlebt und behandelt werden. Hören Sie nur mal eine Zeit lang zu, wenn Kunden in einem Laden oder Gäste in einem Restaurant ihre Bestellung aufgeben. Angesichts des meist überwältigenden Warenangebots versetzt die ungebremste Flut an Sonderwünschen in ziemliches Erstaunen. Offenkundig geht es gar nicht darum auszuwählen, sondern persönlich bestätigt und bevorzugt zu werden. Oder lassen Sie sich schildern, wie mehrere Menschen eine bestimmte Situation erlebt haben. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Raum und soziale Situation sind beileibe nicht für jeden Menschen dasselbe.

Individualität und das Nebeneinander verschiedener Standpunkte bildet daher nicht von ungefähr den Kern der modernen Lebensauffassung. Traditionelles Leben hingegen geht davon aus, dass sich Kollektive und Einzelne den Gegebenheiten unterwerfen. Dort ist das Leben ein Imperativ, kein Konjunktiv. Gefühle spielen hier nur eine untergeordnete Rolle. Die leidenschaftliche Liebe, jene sozusagen ultimative Selbstermächtigung des Individuums im Geist der europäischen Aufklärung und Romantik, besitzt in Gesellschaften, in denen der Einzelne den elementaren Kräften der Tradition ausgeliefert ist, keinen vergleichbaren Platz.

»Als ich nach Deutschland kam, fiel mir als erstes auf, wie frei die Menschen hier sind. Sie können tun und lassen, was sie wollen. Und wie tolerant. Es schert niemanden, was eine Frau tut. Ich dachte, das ist das Paradies. Mittlerweile habe ich natürlich gelernt, auch hier gibt es Einschränkungen. Aber das sind andere und die sind beileibe nicht so gravierend für eine Frau wie in einer türkischen Kleinstadt. Hier darf ich meinen Gefühlen nachgeben und leben, wie ich will, auch wenn es meiner Familie vielleicht nicht passt.«

Ambivalenzen und Entwicklungen erzeugen aber hier wie dort widersprüchliche Bedürfnisse. Das beschert uns schwierige Aufgaben. Zur Erhaltung unseres Seelenheils sind wir angehalten, uns den Gegensätzen zu stellen, müssen ständig entscheiden, ob mal mehr das eine, mal das andere zu bevorzugen ist und ob eventuell beides zu seinem Recht kommen darf. Aus Unterschieden entstehen zwangsläufig Spannungen, aber Widersprüche dürfen auch nicht zu groß werden. Sonst gefährdet es das persönliche Gleichgewicht und die Ausgewogenheit der Beziehung. Gegensätze verlangen immer auch nach Kompromissen, die für Ausgleich sorgen. Die vordringliche Aufgabe jedes Einzelnen, jeder Beziehung und Funktion jeder Kultur ist es daher, den natürlichen Kontrast zwischen Erhaltung und Veränderung, zwischen Eigenheit und Gemeinsamkeit wieder erneut in ein passendes Verhältnis zu setzen.

Ambivalenz und Moral

Selbstverständlich darf man dennoch leidenschaftlich für eine Sache eintreten oder anderes genau so vehement ablehnen. Dafür, dass die Ordnung der Dinge nicht aus dem Lot gerät oder beliebig sortiert wird und nicht jede Situation neu ausgefochten werden muss, sorgt Moral. Moral definiert die Grenze zwischen dem, was geht und verlangt ist, und dem, was ausgeschlossen ist und nicht sein soll. Reicht das nicht aus, um uns in verträglichen Bahnen zu halten, muss das begangene Unrecht nachträglich gesühnt werden und darf man erlittenes Unrecht auch verzeihen. Entsprechende Institutionen und Autoritäten setzen sich für eine konsequente Umsetzung verbindlicher Lebensregeln ein und ahnden, wenn es sein muss, Verstöße. Mehr kann eine Gesellschaft nicht tun, so ist es für Konflikte und Krisen wenigstens gedacht und muss für unsere Zwecke nicht weiter hinterfragt werden.

Da trotzdem die jeweils vorgegebene öffentliche Ordnung zu beachten und es erforderlich ist, genügend Selbstkontrolle aufzubringen, fällt es jedem Menschen schwer, sich manchen Tatsachen des Lebens zu beugen. Das Undisziplinierte, Aufsässige und ein gewisses Maß an Intoleranz wohnt in uns allen. Das darf an dieser Stelle deshalb auch vernachlässigt werden.

Ich möchte aber im Zusammenhang von Ambivalenz und Moral unbedingt eine Einstellung ansprechen, die in der Liebe gerne als radikal integer beziehungsweise kerzengerade missverstanden wird. Es geht um die häufig beobachtbare menschliche Eigenschaft, Freiheit und Wahrheit in Absolutheitskategorien zu beanspruchen. Mit unerbittlicher Härte gegen andere Menschen anzugehen, die sich so pauschal nicht festlegen können, zweifeln und zögern, die unbedarft vorgehen oder einfach nur weniger kategorisch auftreten, besitzt, so paradox es auf den ersten Blick klingt, eine leidenschaftslose Qualität.

Leidenschaft ist die Kraft und der Prozess, der menschlichen Wandel bewirkt. Das setzt allerdings voraus, dass man etwas mit sich passieren lassen kann, das bisher nicht zum eigenen Repertoire gehörte, oder zumindest etwas überwinden will, das bisher wie selbstverständlich bestanden hat. Für Letzteres, so glauben kompromisslose Menschen, würden sie sich einsetzen. Meiner Meinung nach immunisieren sich die Kompromisslosen aber mehr gegen eigene Untiefen und Schwächen. Anders ausgedrückt: Sie fürchten die Abhängigkeit von komplizierten und diffusen Umständen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, und sie verweigern Anpassungsleistungen, die ihnen aufgezwungen werden könnten.

Unerbittliche Menschen sind nicht im Besitz von unwiderlegbaren Gewissheiten oder gar ohne Zweifel. Sie sind auch nicht wirklich überzeugender oder weniger korrumpierbar als andere. In erster Linie sind sie starr und damit nach heutigen Maßstäben intolerant, unfähig, eine Beziehung von gleich zu gleich einzugehen.

Henry Roth beschreibt diese Starrköpfigkeit in einer Episode seines Romans Der Amerikaner. (Roth 2011) Zwei Männer fahren durch die Vereinigten Staaten. Wir schreiben den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der eine, ein kommunistischer Werftarbeiter, der vordergründig Aktivere und Ältere von beiden, sieht jede Begebenheit auf der Fahrt durch eine Brille, die nur richtig und falsch kennt. Richtig ist für ihn eine Frage der Herkunft und des eigenen Wesens. Der Jüngere, ein jüdischer Schriftsteller, unerwachsen und zaudernd, ist den neidvollen Abwertungen seines Freundes hilflos ausgesetzt. Er kann sich nicht gegen ihn wehren. Da ist kein argumentativer Spielraum. Er kann ihm auch nicht entgegen kommen, denn sein Wankelmut verstärkt nur das aggressive Misstrauen des anderen. Es bleibt ihm nur, zunächst von so viel Eindeutigkeit angezogen, später zunehmend verängstigt, irritiert zu beobachten, wie der konsequente Freund nicht leben kann ohne die Projektion einer schuldhaften Welt und wie dieser sich immer tiefer in die Verlogenheit seines nimmermüden Stolzes verstrickt. Um finanziell zu überleben, pumpt er dennoch dauernd die an, die er kritisiert. Schließlich wendet sich der Jüngere ab. Zu gehen ist das Einzige, was ihm übrig bleibt, und seine darüber einsetzenden Schuldge fühle sind der emotionale Nachhall, der die fehlgeschlagene Beziehung noch eine Weile überdauert.

Ausgeprägter Starrsinn ist Ausdruck einer unsicheren Persönlichkeit, unfähig zu empathischer Vermittlung und nicht bereit, die vielfältigen Erscheinungen und Widersprüche des Lebens hinzunehmen. Das entfaltet im Widerstand gegen das Ungute seinen Reiz, und deshalb fällt es oft nicht auf, wie unbescheiden und lieblos, ja geradezu verrückt diese Haltung ist. Lieblose Starre, wenn sie für das übergeordnete Bessere eintritt, kann sich lange hinter der guten Absicht tarnen.

Spätestens wenn es um die Bewältigung leidenschaftlicher Konflikte und Beziehungskrisen geht, bringt diese Haltung einen nicht mehr weiter. Dann entpuppt sich ein solches Gegenüber als Einfaltspinsel oder rachsüchtiger Tyrann. Das Beharren und Durchsetzen eindimensionaler Wahrheiten führt ja nicht zur Abwesenheit einer anderen Möglichkeit, Verbote nicht zur Stilllegung von Ambivalenz, sondern nur zu einer armseligen Realität, die nicht aus der Unterdrückung herausfindet.

Mitsingen, unterwerfen oder sich entfernen – mehr lässt eine Beziehung ohne Konjunktiv und Schwächen letztendlich nicht zu.

Einseitigen Menschen fehlt es an einem Verständnis für das Relative, die Brechungen des Lebens und das Vorübergehende. Ihr blinder Fleck ist das Sowohl-als-Auch. Ohne die Bereitschaft, im Miteinander Kompromisse einzugehen und sich selbst infrage zu stellen, kommt ein Liebespaar nicht über die erste Hürde hinweg. Das Zuhause der Liebe will ohne Angst und Abwertung bleiben. Theodor W. Adorno, der die Philosophie klassisch auslegte als Lehre des richtigen Lebens, arbeitete entlang dieser Überzeugung. So ist auch sein berühmter Satz zu verstehen: »Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu produzieren.« (Adorno 2002)

 

Liebende registrieren primär, ob sie gut behandelt werden. Alleine deshalb ist es dumm, eine Liebesbeziehung rechthaberisch zu dominieren. Freundschaften und Liebesbeziehungen kann auch der vornehmlich Schwächere aufkündigen, wie das Romanbeispiel vor Augen führt.

Selbstentwicklung und Selbsterhaltung

Eine weitere Ambivalenz, die sich in Beziehungen – neben dem eben angesprochenen Verhältnis von Eigenständigkeit und Unterordnung (Autonomie und Bindung) – gewichtig bemerkbar macht, besteht im bereits angesprochenen Gegensatz zwischen Selbstentwicklung und Selbsterhaltung. Dabei handelt es sich um einen ähnlich schwierig zu jonglierenden Kontrast.

Was zeigt einem Paar eigentlich an, dass etwas fehlt? Wann wird es Zeit für etwas Neues und wann ist es sinnvoll, das Gewohnte zu bewahren, das Alte vielleicht sogar wiederherzustellen?

Es ist charakteristisch für intime Beziehungen, dass sie auf Verwandlungen des Selbst hinauslaufen. Die Liebe steuert immer auf eine bewegliche Wirklichkeit zu, die erst im leidenschaftlichen Prozess zum Vorschein kommt. Am Anfang wird man geliebt, weil man ist, wie man ist. Später mehr dafür, dass man sich auf das Andere des anderen wohlwollend einlässt. Noch später, indem man die Untiefen und Defizite des anderen großzügig erträgt und ausgleicht. Und noch viel später, indem man darüber nicht die Gabe verliert, sich für den anderen attraktiv zu machen und dem Partner ein wohlwollender Spiegel bleibt.

»Ich halte es kaum noch aus, wie er sich heute gehen lässt. Das ist nicht mehr der Mann, der um mich geworben hat. Früher ging es mir schon alleine deshalb gut, weil er sich für mich schön gemacht hat und Freude daran hatte, die Zeit mit mir zu verbringen. Und heute? Heute fläzt er sich vor den Fernseher und will nicht gestört werden, wenn seine Sendungen kommen. Heute ist es ihm egal, was er anhat und wie ich das finde. Ich glaube, ich bin nach all den Jahren nichts weiter für ihn als seine gewohnte Umgebung. … Wenn ich mal nicht mehr bin, dann wird er sich verwundert umgucken, da bin ich mir sicher. Dann ist es aber zu spät.«

Die Entwicklungen innerhalb einer Liebesbeziehung sind eine zweischneidige Angelegenheit. Über eine lange Zeit betrachtet kommt es zu mehreren großen Wahrnehmungsverschiebungen, die sich in der Tendenz nicht verhindern lassen. Sie finden einfach statt, weil man zusammen ist. Andererseits tut aber nicht jede Entwicklung und nicht jedes Ausmaß an Veränderung der Beziehung gut. Wie das Beispiel zeigt, leidet die Qualität einer Beziehung darunter, sich gehen zu lassen. Es ist ein schmaler Grad zwischen Lässigkeit und Vernachlässigung.

Scham und Schuld

Eine zentrale Rolle im Zusammenhang leidenschaftlich bedingter, zwangsläufiger Transformationen spielt, neben der grundlegenden Gewöhnung an das vorher Ungewöhnliche, die Erfahrung von Scham und Schuld. Scham und Schuldempfindungen verlangen eine Beziehungskultur, die es zulässt, über diese Empfindungen hinauszuwachsen, und gleichzeitig so sensibel bleibt zu erkennen, wann es für eine Beziehung eher förderlich ist, Schamgrenzen einzuhalten, und wann eine Schuld, die zunächst von einer Person ausgeht, einen Ausgleich von beiden Partnern verlangt.

Scham schützt auf komplizierte Weise die Integrität der Person. Der beschämte Mensch gerät zunächst in einen gehemmten Zustand, der von überflutenden Empfindungen begleitet wird. Ein unaussprechliches Geschehen gräbt sich tief in die Seele und will verborgen werden. So zwingt die Scham zur Verheimlichung, quält aber die beschämte Person doppelt, weil sie die unangemessene Erfahrung nicht teilen kann. Das Wieder-ins-Wort-Finden braucht ein einfühlsames Gegenüber, der anblicken und darüber sprechen kann, was dem Beschämten nicht möglich ist, selbst auszudrücken und zu betrachten.

Scham enthält auch die Enttäuschung über sich selbst. Ich habe eine an mich gestellte Erwartung nicht erfüllt. Denn Scham begründet sich ja nicht einfach durch eine Tatsache, sondern entsteht durch eine moralische Bewertung, die dem Blick oder der Tat innewohnt. Etwas darf nicht gesehen oder getan werden. Schamreaktionen verlangen von den unmittelbar Beteiligten ein sofortiges Innehalten und den gesenkten Blick.

Ungebremste Handlungen, die eine Schamgrenze spürbar überschreiten, setzen den Akteur ins Unrecht. Er macht sich schuldig, verantwortlich für eine entwürdigende Szene zu sein. Wobei zum Schuldenausgleich bereits die sichtbare Beschämtheit und nachträglich einsetzende Hemmung des Täters gehören kann. In Fällen zufälliger Grenzüberschreitungen ist es damit meist wieder getan. Zeigt der Täter oder nicht zum Anschauen Befugte kein Schuldempfinden, beziehungsweise wird seine schamlose Handlung als nachdrücklich entwürdigend wahrgenommen, führt es zu Selbstabwertungen des Beschämten, zu Distanzierung und vielleicht auch zu Rachegelüsten.

Eines Tages passiert, was nicht passieren sollte. Ein Ehemann, gehemmt und in sexuellen Dingen eher sprachlos, wird von seiner Frau dabei ›ertappt‹, wie er sich selbst befriedigt. Sie lacht hysterisch und rennt aus dem Zimmer, er erstarrt und weiß nicht damit umzugehen. Er bleibt hilflos in seinem Arbeitszimmer sitzen. Was die Sache noch schlimmer für ihn macht, ist, dass sie nach einer Weile an die Tür klopft und ruft: »Bist du endlich fertig? Kommst du, unten steht das Abendessen, ich habe Hunger.« Er rennt danach durch die Küche, brüllt sie an, sie sei eine saudumme Kuh und sie könne sich ihren Scheißfraß in die Haare schmieren und verlässt Türen schlagend das Haus. Die Nacht verbringt er auf dem Sofa im Wohnzimmer. Am nächsten Morgen redet niemand ein Wort, weder der beschämte Ehemann noch die beschuldigte Ehefrau. Man schiebt sich stumm aneinander vorbei und er geht ohne Frühstück zur Arbeit.

Die Moralmerkmale Scham und Schuld stehen in der Liebe auf wackeligen Beinen. Die Praxis der Liebe beruht auf einer ineinander verschlungenen und sensibel zu handhabenden Doppeldeutigkeit: Einerseits überschreiten zwei freiwillig eine Schamgrenze, die für andere weiter besteht. Sie geben sich füreinander frei. Das ist ein Hauptkriterium der Paarbildung. Andererseits steht das Liebesobjekt auch innerhalb der neu geschaffenen Intimität nicht zur freien Verfügung. Je nach dem, wie die gemeinsame Gratwanderung jener schamlosen Schamhaftigkeit gelingt und welche Befriedigung oder welches Gefühlselend das nach sich zieht, erhöht sich oder fällt der Selbstwert der Beteiligten.

Exklusive Intimität

Die exklusive Intimität Liebender erweitert ihr Selbstverständnis. Zwei machen als Paar Erfahrungen, die sie ohne den anderen nicht machen könnten. Erst nach mehrmaliger Wiederholung intimer Handlungen zeigt sich, ob das beide auch freier macht füreinander oder ob sie beschämter, vielleicht sogar schuldig ans Tageslicht zurückkehren. Manchmal erschrecken frisch Verliebte so vor sich selbst und dem anderen, dass sie sich entschließen, lieber wieder auf die erotische Nähe zu verzichten. Manches fängt auch aufregend an und flaut rasend schnell wieder ab. Irgendetwas hat nicht gehalten, was es versprochen hat. Das Wohlbefinden in der gemeinsamen Sexualität ist schwer zu kontrollieren. Erfüllung findet sich nicht automatisch und mit jedem Menschen. In der therapeutischen Praxis häufen sich in den letzten Jahren wieder die Klagen über unerwartete Plagen, Befremdungen und Enttäuschungen im Bett.

Liebesmythen befeuern überall auf der Welt hohe Erwartungen. Und es stimmt, eine gelingende Leidenschaft beflügelt die Liebenden. Die Liebe ist das Zaubermittel eines Wachtraums. Die vorher gebremste Seele löst sich durch die gemeinsame Enthemmung aus den alltäglichen Fesseln, und das so entrückte Paar fliegt schier durch sündenfreie Sphären, weil es niemandem schadet, was es miteinander unternimmt. Aber es kann jederzeit aufwachen und abstürzen. Dieses Abenteuer gibt es nicht umsonst. Auch körpereigene Drogen sind nicht ohne Nebenwirkung. Die Unverbesserlichen und Sünder unter uns können ein Lied davon singen. Aber es lohnt das Risiko, weil es das Selbst erweitert. Wer einmal geliebt hat, ist ein anderer geworden.

Neee, so versaut wie mit ihr am Anfang, das traue ich mich gar nicht zu schildern! Ich habe mich selbst nicht mehr wiedererkannt in dieser Zeit. Sie hat mich zu Dingen verführt, das gibt’s gar nicht. Und das Komische ist, im Rückblick betrachtet, das kommt mir völlig naiv vor, wie wir uns da verhalten haben. Einfach, als gäbe es gar nichts Verbotenes, wenn man in so einem Zustand ist. Also, wenn ich mich jetzt daran erinnere, werde ich bei manchem noch immer rot und gleichzeitig habe ich so ein Gefühl, so muss man sich das Paradies vorstellen, alles ist einfach, wie es ist, nichts weiter.

Das Ungehörige und das Verbotene

Die philosophische Ächtung dessen, was wir Sünde nennen, verbannt ›ungehörige‹ Motive und Handlungen in den verbotenen Bereich der niederen Lüste. Eine begangene Tat, die nicht sein durfte, soll in Qualen für den Sünder enden. Mit der Sündenkategorie engen Gesellschaften ihren Bewegungsraum auf ein sozial verträgliches Maß ein. Damit eine Abschirmung vor frevelhaften Absichten Einzelner auch einigermaßen gelingt, wurde die Menschheit unter die Aufsicht von Geistern und Göttern gestellt. Gott sieht alles! In Zeiten, da die Bevölkerung in Scharen vom Glauben abfällt, reichen religiöse Moralinstanzen nicht mehr aus. Heute werden wir in den Städten flächendeckend von Überwachungskameras der Polizei behütet.

An die Unterscheidung, was sein darf und was nicht, haben sich alle zu halten. Die Sünde ist, indem sie einen Raum markiert, der nicht betreten werden darf, ein konservatives, ein Werte erhaltendes Element. Es dient der Bewahrung (von was auch immer). Und es ist dann ein verlässliches Machtmittel, wenn es gelingt, eine Gemeinschaft bleibend auf einen Kanon des Gebührlichen einzuschwören. Der Einzelne ist dann nicht frei, auszuprobieren, was zwischenmenschlich möglich wäre, weil es als ausgeschlossen und unerlaubt gekennzeichnet ist.

Ein leidenschaftlicher Mensch, von dem behauptet wird, er fürchte weder Tod noch Teufel, ist ein Argonaut der Sinnlichkeit, ein selbstbewusster Entdecker, den kaum etwas abschrecken kann. Für dessen Liebesabenteuer haben wir Bewunderung übrig. Dorothy Parker5 wird nachgesagt, sie hätte in jeden Fettnapf getreten, der ihr im Wege stand. Von ihr stammt auch eines der schönsten Bonmots zu diesem Thema. Dorothy Parker war pausenlos auf Partys unterwegs. Einmal wurde sie von einer Gastgeberin gefragt, ob sie sich auch gut amüsiere, und sie soll geantwortet haben: »Prächtig, prächtig, meine Liebe. Noch ein Martini und ich lieg’ unterm Gastgeber.« (Karl 2011)

Kleine Sünden sind wir bereit zu vergeben, wenn sie uns charmant verkündet werden und natürlich solange wir zu den unbetroffenen Zaungästen gehören. Dass wir leidenschaftliche Fehltritte überhaupt klein reden dürfen, offenbart unseren modernen Charakter. In traditionalen Gesellschaften steht auf den erotischen Missgriff nichts weniger als die soziale Ächtung, manchmal gar der Tod. Nicht nur, dass es sich nicht gehört; dort ist es unbedingt verboten und zieht bei Nichtbefolgung strenge Strafen nach sich. In Ländern, in denen die Scharia gilt, werden insbesondere Frauen, die sich selbstständig auf erotische Abenteuer einlassen, drakonisch und öffentlich bestraft. Auch in den westlichen Gesellschaften sind private Bestrafungsaktionen in Migrationsfamilien mit entsprechendem Ehrenkodex nicht unbekannt.

Um den Katalog der Scham- und Schuldbegriffe weiter zu differenzieren: Ein Missgriff ist noch kein Missbrauch. Man kann sich moralisch vertun, so wie man sich in der Zimmertür irren kann. Natürlich gilt auch dann die Regel: Alles zu seiner Zeit und mit der richtigen Person. Aber Missgriffe passieren, und es gehört zur Kunst der Leidenschaft, ungebührliches Verhalten einer kritischen Nachbetrachtung zu unterziehen, sich eventuell selbst zum reuigen Sünder zu erklären und zu beschwören, dass es sich nicht wiederholen wird. Dann ist normalerweise bald wieder alles im Lot. Die kleinen Sünden dürfen nur nicht überhand nehmen.

Missbrauch geht im Schweregrad des Vergehens weit darüber hinaus. Es setzt eine egozentrische Aggression voraus, die dem Ausgesuchten aufgezwungen wird. Das Objekt der Leidenschaft hat nicht gewählt und wird zu einer Handlung gezwungen. Sexueller Missbrauch von Kindern geht noch einen Schritt weiter. Kinder, und bis zu einem gewissen Alter auch Jugendliche, werden vom Gesetz umfangreich vor sich selbst geschützt. Unabhängig, ob das benutzte Kind neugierig und der handelnden Person zugewandt war, ist es Erwachsenen untersagt, Kinder zu eindeutig sexuellen Handlungen zu animieren.

 

Mit dem Missbrauchsbegriff schützt die Gesellschaft ein höherwertiges Gut als die körperliche Unversehrtheit, nämlich das seelische Wohl ihrer Schutzbefohlenen. Ein Kind wird in dieser Frage als noch nicht reif genug eingestuft, selbst zu entscheiden. Kinder werden vorab entschieden. Erwachsene Opfer eines Missbrauchs müssen hinterher persönlich erklären und oft auch beweisen, dass die Handlung gegen ihren Willen geschehen ist.

Die sexuelle Praxis ist zwar das Kardinalthema der leidenschaftlichen Liebe. Auf dem Prüfstand der Moral steht sie aber glanzlos in der ersten Reihe. Im Kanon der sozialen Werte kann sie sich nicht als zweifelsfreie Kategorie behaupten, wie die Moralphilosophie Schopenhauers beweist. Schopenhauer ging davon aus, dass ein moralischer Wert immer relativ ist. Ein Wert steht in Bezug zu einer zweiten Größe oder ist wertlos. (Schopenhauer 1997)

Sexuelle Handlungen, welche die herrschende Moral negieren, können zwar nicht automatisch zu einem Werteverfall in der Gesellschaft führen, solange es individuelle Ausrutscher bleiben oder die Angelegenheit unter besonderen Bedingungen und zu besonde ren Zeiten zugelassen wird. Wenn Massen sich aber nicht darin stören lassen, etwas zu tun, das bisher verboten oder wenigstens so nicht vorgesehen war, verändert sich der gesellschaftliche Spielraum. Während meiner Jugend war es verpönt, auf der Straße Alkohol zu trinken. Das war Proletengehabe. Heute gehört es quasi zum guten Ton, wenn junge Erwachsene abends mit einer baumelnden Bierflasche am Finger durchs Viertel ziehen. Es lohnt sich nicht sonderlich, strenge Worte über die wechselnden Moden der Kommunikation zu verlieren. Man darf sich wundern, aber gängig ist immer das Gebaren und die Kleiderordnung, die sich öffentlich durchsetzt.