Liebesmühen

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Z serii: EHP-Kompakt
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Die romantische Utopie

Das Mysterium der modernen Liebe zeigt sich also nicht so sehr in der Schwierigkeit, einen Menschen für ein gemeinsames Glück zu begeistern – und das kann schon schwierig genug sein –, sondern stets an der romantischen Utopie zu scheitern, den emotionalen Augenblick bändigen und für immer erhalten zu wollen. Das gelingt nicht. So, wie sich Menschen ändern, wandeln sich Beziehungen im Lauf der Jahre. Das ist keine Frage persönlicher Kompetenzen, fehlender oder vorhandener Fähigkeiten, sondern Ausdruck der gelebten Gemeinsamkeit. Wir können nicht anders, als uns mit und über unsere Erfahrungen zu verändern.

Illustriert man das charakteristische Fortschreiten einer Liebesbeziehung, hört sich das in etwa so an: Es beginnt, indem unsere Psyche aus eingelösten Sehnsüchten glückliche Erfahrungen macht, aus den anhaltenden Erfahrungen lieb gewordene Gewohnheiten und aus andauernden Gewohnheiten innige Vertrautheit, aber auch zunehmenden Verdruss, der erneut den Wunsch nach dem Seltenen und Unbekannten weckt. Jenes ferne Fremde gerät irgendwann wieder in emotionale Konkurrenz mit dem Steten, nun allzu Bekannten. Der langsam eintretende Wahrnehmungswandel bewirkt, dass wir uns mit den zunehmenden Jahren des gemeinsamen Lebens mehrfach anders empfinden und zueinander verhalten, als zu Beginn. Die meisten Menschen sind über diesen Werdegang enttäuscht und viele auch überzeugt, die Liebe zu einem Menschen sei erloschen, wenn sich Gefühle abschwächen oder neu ordnen.

Das unbedingte Festhaltenwollen emotionaler Ersteindrücke überfordert jedes Paar. Die Vorstellung einer gefühlten und praktizierten Konstanz geht am Wesen der Leidenschaft, am ambivalenten Kern der Psyche und an den verschlungenen Bedingungen des Lebens restlos vorbei. Die erotisch begründete Liebe ist und bleibt ein fragiles und oftmals flüchtiges Gut. Ihre Natur ist die andauernde Verwandlung der Liebenden. Welchen zum Teil komplizierten Wandlungen Paare auf Dauer unterliegen, in welcher Regelmäßigkeit sich Empfindungen und Handlungen ändern, welche Themen und Probleme sich auf dem Weg einstellen, zeigen die nachfolgenden Ausführungen.

Versprechen

Dieses Buch soll keine Angst, vielmehr Mut machen, sich trotz aller vorhersehbaren Verwicklungen und Widersprüche dem Abenteuer Liebe, den Höhen und Tiefen, Turbulenzen und Langeweilen einer Paarbeziehung zu stellen. Selbstverständlich besitzen Sie auch nach der Lektüre weiterhin die Freiheit, der Liebe aus dem Weg zu gehen oder sich fortwährend in neue Abenteuer zu stürzen, so wie es ein Gewinn sein kann, Askese zu üben oder in Abständen den Routinen des Alltags zu entfliehen. Es ist aber eine Expedition ganz anderen Umfangs, wenn man das widersprüchliche Spektrum der Leidenschaft und der eigenen Vielschichtigkeit gemeinsam durchlebt, eventuell gar bis zum Schluss eines Lebens.

Dafür ist viel Einsatz und Mut erforderlich, aber auch die Bereitschaft aufzugeben, was nicht mehr zu halten ist. Eine lange Wegstrecke zusammen zu gehen, verlangt nicht nur die Hingabe an einen Menschen, sondern auch die Ergebenheit hinzunehmen, was nicht miteinander gelingt. Das schließt insbesondere auch die Gabe ein, Unverträgliches und Überholtes loslassen zu können, wenn die Zeit dafür reif ist. ›Bis dass der Tod euch scheidet‹ ist lediglich ein Gelübde für den Rahmen, aber kein Garant für eine gelingende Zweisamkeit.

Was kann dieser schmale Band beisteuern, was Sie nicht schon aus eigener glücklicher und schmerzlicher Erfahrung wissen? Die Antwort ist einfach: Ich erzähle Ihnen ausführlich, was die Leidenschaft zu unterschiedlichen Zeitpunkten einer Paarbeziehung bewirkt, wohin Liebesbeziehungen als Ganzes führen, auch gegen ihre ursprünglichen Absichten, und wie sich Liebespaare langfristig betrachtet ändern, ob es ihnen passt oder nicht. Dabei werden Sie vieles wiedererkennen und manches wird Ihnen unvertraut sein. Ich versichere, nach der Lektüre werden Sie die eigenen Erfahrungen und bisher ungegangenen Schritte, Ihre vermeintlichen Fähigkeiten und Mängel besser verstehen und einordnen. Ihr bisheriges Tun und Lassen erscheint dann in einem logischen Licht als paradoxe Konsequenz gegensätzlicher Antriebe in unterschiedlichen Beziehungsphasen.

Wer das moderne Lebensgefühl mit all seinen Ansprüchen und Widersprüchen als kompliziert akzeptiert – Bourdieu spricht von der schwierigen Freiheit (Bourdieu 1987) – ist nicht nur weniger anfällig für naive Wahrheiten, er verfängt sich auch nicht ganz so hoffnungslos in den ausliegenden Fallstricken. Und wenn doch einmal wieder, findet man schneller und leichter wieder ins Freie. Paare sollten daher unbedingt etwas von existenziellen Konflikten und Krisen verstehen. Wenn eine Liebe auf Dauer erhalten bleiben soll, muss man wissen, wie Zwiespälte und verworrene Verhältnisse entstehen, wie man sich in diese verwickelt und wieder lösen kann.

Was Sie hier allerdings nicht finden werden, sind simple Lösungen. Für was auch immer Sie sich an Stelle von Frau und Herrn F. entscheiden würden, es hätte immer mehrfache Konsequenzen. Ich halte deshalb nichts davon, die Probleme, die sich den Paaren stellen, auf plumpe Weise zu vereinfachen. Und ich vertraue darauf, dass Sie nicht so einfältig sind anzunehmen, eine Liebesbeziehung sei ein einfaches Terrain. Man kann sich aber, gerade in dem Bewusstsein, dass alles schwieriger kommt als gedacht, anstrengen, möglichst eindeutig und liebevoll zu bleiben. Darauf hat der aus Liebe gewählte Mensch ein Anrecht, selbst in schlechten Zeiten.

Leseempfehlung

Bourdieu, P. (1987): Sozialer Sinn. Suhrkamp, Frankfurt/M.

Goethe, J. W. von (1998): Goethe Werke. Bd. 3, Verlag 2001, Frankfurt/M.

Richards, K. (2010): Life. Wilhelm Heyne, München

Die Liebe, ein himmlisches Geschenk?

But when the Lord of above you sends someone to love you the Blues is something you loose.

Billie Holiday, The Blues are Brewin’2

Nach einer kurzen Atempause sollte den Zeilen ursprünglich noch der Nachsatz folgen: for a little while. Billie Holiday hat das angeblich aus Gründen der Dramaturgie verworfen. So baut der Song einen leichtsinnigen Bogen, der erst später wieder einbricht, dann, wenn die Liebe ihren Höhepunkt überschritten hat. Ohne Glückseligkeit kein Absturz, ohne Vertrauen keine Enttäuschung. Mit Abgründen und Unglück kennt sich die Sängerin aus. Den hässlichen Zwilling der Verliebtheit übersieht sie hier aber generös und besingt das Dunkle dafür umso eindringlicher in anderen Stücken.

Solange wir uns nach Liebe sehnen, erstrahlt sie bar jeden Zweifels, erscheint die Liebe uns als Erlösung. Realisiert sie sich, offenbart sie in der Folge ihre zwiespältige Natur. Die Liebe ist ein durch und durch faustischer Pakt. Wer sich darauf einlässt, wird auch leiden. Aber wir laufen blind, wenigstens jedoch willig, in die Falle. Selbst die Ängstlichen und Zaudernden wollen im Grunde ihres Herzens von der Leidenschaft an der Hand genommen werden, gegen jede engstirnige Vernunft. Im Zauber der Liebe lebt das Erbe der Romantik in uns allen bis heute fort.

Poesie gegen Ökonomie

Eines muss gleich klargestellt werden: Wer die Liebe versucht, entscheidet sich für Poesie und gegen Ökonomie. Mir sind aber nur wenige bekannt, denen bewusst ist, dass die Liebe mehr Mühe macht, als Geld zu verdienen. Die meisten denken, sie kommt, weil man es verdient hat, und vergeht, wenn man Pech hat. Dann ist es vorbei: C’est la vie! Ganz so einfach ist es aber nicht. Die Liebe erscheint eher unangemeldet, nicht, weil man lange genug gehofft hat, erst recht nicht, weil man sich Verdienste erworben hat, aber sie flüchtet umgehend, wenn sie nicht eifrig gepflegt wird. Zur Liebe gehört lebenslange Arbeit. Wer dazu nicht bereit ist, glaubt wahrscheinlich auch daran, dass es mehr lohnt, Lotto zu spielen und die Gala zu lesen.

Relativ einig sind wir uns auch darin, dass wer sich partout vor der Liebe drückt, zu bedauern ist. Goethe wusste genau, warum er Mephisto säuseln lassen kann: »Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.« (Goethe, 1998) Wie man es dreht und wendet, die Liebe zeigt uns irgendwann ihre Schattenseite. Es ist nur eine Frage der Zeit. In diesem Buch schauen wir uns den Prozess der Leidenschaft daher gleich von der dunklen Seite aus an. Schließlich werden wir alle von der Kraft getrieben, die nur Gutes will und viel Böses einbringt. Zwischendurch und am Ende schauen wir immer auch auf leidvolle Episoden. Ich möchte die vor und hinter uns liegenden Dramen daher nicht als Fehlschläge verleugnen und möchte mit diesem Text erreichen, dass wir innehalten, hinsehen und uns auseinandersetzen. Wegrennen kann schließlich jeder; dazulernen aber auch. Deshalb fasse ich an geeigneten Stellen Vorschläge zusammen, wie mit den Untiefen des Liebeslebens passend umgegangen werden kann.

Liebe als Kulturgut

Es sind natürlich immer die gesellschaftlichen Begleitumstände, die zur Hintergrundmusik der Liebe aufspielen. Das Leidenschaftliche ist nicht frei von historischen Bedingungen und dem Zeitgeist geschuldeten moralischen Einschränkungen. Wenn mit einer gewissen Berechtigung die Rede davon ist, dass sich die Liebe über die Jahrhunderte zum obersten Sinnkriterium in der westlichen Welt gemausert hat, dann ist nicht die Nächstenliebe oder Elternliebe gemeint, auch nicht die Liebe für Gottes Schöpfung, die angesichts apokalyptischer Zukunftsängste immer mehr ins Zentrum der Wahrnehmung geraten ist, sondern die leidenschaftliche Liebe zwischen zwei Menschen. Leidenschaft ist heute der vorrangige Beweggrund für Paarbeziehungen. Diese Tatsache, und das sollten wir nie vergessen, verleiht dem Privatleben eine unglaubliche Brisanz und Dynamik.

 

Es ist Anlass genug, in Zeiten des technischen Kommunikationsgeplänkels einen kurzen Blick zurück zu werfen in das Zeitalter der Galanterie. Im 18. Jahrhundert verfasste der schottische Moralphilosoph Adam Smith einen Kodex der Liebe. In seiner Theory of Moral Sentiments widmet er sich der Sympathie. (Smith 2004) Smith hielt den sympathischen, also den mitfühlenden Menschen für den Ausgangspunkt der Moral neben der Selbstliebe und der Vernunft. Ein nur vernünftiger Mensch, so war seine Annahme, wird höchstens Hals über Kopf sein Herz verschenken. Den Rest seines Verstandes benötigt er für den fortwährenden Überlebenskampf in einer Welt vor Einführung der modernen Sozialversicherungssysteme. Ohne mitfühlende Moral wäre demnach kein ganzer Mensch zu erwarten und wäre auch keine gute Ordnung in der Welt. Smith nannte die Liebe folgerichtig Einklang der Herzen. In der Liebe, so sein weiterer Gedanke, vereinigen sich alle positiven Eigenschaften des Menschen.

So weit, so gut. Das glauben wir auch heute noch. Aber die Sache hat einen Haken. Das Großherzige und Tugendhafte an der Liebe trägt auch zu ihrem wankelmütigen Charakter bei. Die Moral des Mitgefühls ist zugleich Stärke und Schwäche jeder Liebesbeziehung. Denn, Hand aufs Herz, wer ist schon mit Dem- oder Derselben auf ewig großherzig und tugendhaft? Natürlich ist das niemand durchgängig. Aber an eben jener Totalen messen sich Liebespaare.

Liebenswertes und Gehässiges

Ein Zusammenleben bildet nicht nur liebenswerte Tugenden aus. Es spült auf Dauer Nachlässigkeiten nach oben, das ganz besonders, und auch manche Abscheulichkeit. Das bleibt nicht aus. Dafür ist das Leben zu vielschichtig, sind die Charaktere zu unvollkommen und bilden zwei Herzen nicht nur eine Einheit. Jeder ist sich selbst mehrfach verpflichtet und fühlt sich vielen Dingen des Lebens ausgeliefert, nicht nur der Liebe. Außerdem, das muss sich gerade der Verantwortungsbewusste immer wieder ins Gedächtnis rufen, haben wir generell weniger in der Hand, als wir in Beziehungen steuern möchten.

Jedes einzelne Menschenleben enthält so viel Konträres und Ungereimtes, dass konflikthafte Verwicklungen gar nicht ausbleiben können. Eine Vereinigung der Herzen schützt also nicht vor Schla massel. Die Liebe ist vielmehr ein Garant, dass es zu widerstreitenden Gefühlen kommt. Eine gelungene Vereinigung in Liebe vereinfacht das Leben zunächst aufs Sträflichste. Später kippt das Verhältnis von Liebe und Alltag, schlagen die Komplexität und das Unromantische des Lebens umso heftiger zurück. Das gehört zum unauflösbaren Paradoxon der Liebe.

Daher ist auch die gedankliche Koppelung von Freiheit und Liebe eine wirklichkeitsferne Vorstellung. Ebenso wenig wie kein Mensch nur frei von … oder frei zu … ist, hat die Liebe nur bedingt etwas mit Autonomie zu tun und sie kann selbstverständlich auch nicht alle kommenden Schwierigkeiten ausbügeln, obwohl es anfänglich danach aussieht. Solche und ähnliche Drehmomente und Missverständnisse deuten auf die verschlungene Matrix der Liebe hin, die in der Folge ausgiebig beleuchtet wird.

»Wir hatten vor einigen Monaten eine richtig schlechte Zeit miteinander. Meine Frau hat sich nur noch um die Kinder bemüht und ich nur noch um den Job. Als sie dann auch noch sagte, eigentlich könnten wir auch auseinanderziehen, dann würde man sich wenigstens nicht auf die Nerven gehen, dachte ich, sie liebt mich nicht mehr. Ja, und dann ist mir eine blöde Sache passiert. Ich habe mich mit der Frau eines Freundes getroffen, denen ging es auch nicht so gut damals, weil ich jemanden zum Reden brauchte. Am Ende des Abends sind wir dann im Bett gelandet. Ich glaube, wir haben uns beide vorgemacht, dass wir mehr füreinander empfinden, und vielleicht habe ich auch gedacht, das ist die Lösung. Ach, ich weiß auch nicht, was ich mir da eingebildet habe. Mein Freund war natürlich total sauer und hat es meiner Frau erzählt. Danach war die Hölle los.«

In derartigen Verwirrungen steckt der Keim für die Wendungen, die eine Liebesbeziehung auf Dauer nimmt. Daher steht hier das Zweideutige und Voraussehbare im Mittelpunkt, weil ich glaube, dass sich darin nicht nur die eigentliche Schwierigkeit des Liebesgeschehens zeigt, sondern es uns auch davon abhält, weder an zu viel Schicksal noch an die Reinheit des Herzens zu glauben, vielmehr damit zu rechnen, dass wir alle Schwächen haben und viel Ungereimtes und Zweifelhaftes in uns wohnt.

Liebe und Manie

Betrachtet man es aus dieser Richtung, dann ist die leidenschaftliche Liebe gleichzeitig eine private Manie und gesellschaftliche Utopie, die uns Probleme beschert, die wir mit ihrer Hilfe überwinden wollten. Wäre da nicht ihr unbedingter Zauber, würde jeder die Finger davon lassen. Sie ist aber nun mal in der Welt und macht selbst vor Klostermauern nicht Halt. John Gray warnt in einem grundlegenden Text eindringlich vor solchen und anderen Utopien. Nach wie vor gibt man sich der Illusion hin, nichts könne den Menschen daran hindern, sich selbst und seine Welt nach Belieben umzugestalten. Diese Phantasie kommt in vielen Aspekten der zeitgenössischen Kultur zum Vorschein. (Gray 2007, 36)3

Gray ist ein Kritiker der Vereinfachung, nicht nur der öffentlichen Angelegenheiten, auch des Privatlebens. Seine Zweifel übersetzt er nicht in vorschnelle Antworten, sondern nutzt sie, um grundlegende Fragen aufzuwerfen: Woran ist eine Utopie zu erkennen? (37) So an die ›schwierige Freiheit‹ heranzugehen, macht unsicher, wenn man dabei die Liebe mitdenkt. Wie man es dreht und wendet, es bleibt immer auch ein utopischer Ansatz, Liebe als Beziehung zu leben. Niemand kommt um die beunruhigende Erkenntnis herum, dass gelebte Liebe bindet und eine Bindung nicht nur die anarchische Energie der Liebe domestiziert, sondern auch die Bewegung einschränkt. Die Entdeckung, dass die Liebe Grenzen setzt, muss aber nicht notwendigerweise so empfunden werden. Erwiderte Liebe ruft ein Gefühl von Freiheit hervor. Es kann sehr entlasten, zu spüren, dass man durch die Erwiderung ein Zuhause gewonnen hat, die Seele nicht mehr einsam schwebt.

Gray versteht es, mit vergleichbaren Doppeldeutigkeiten das eigentlich Utopische jeder Utopie aufzuzeigen. Die Unmöglichkeit einer Utopie zeigt sich nicht im Gedanken, sondern in seiner Umsetzung: Jeder Traum von einer Gesellschaft, aus der Zwang und Machtstrukturen für immer verbannt sind, ist – ob ihn nun Marxisten oder Anarchisten, Liberale oder Technokraten träumen – buchstäblich utopistisch. Er ist nirgends und nie umsetzbar, weil er unweigerlich an den unauflösbaren Widersprüchen zwischen den Bedürfnissen der Menschen scheitern würde. (38)

Der Graysche Apokalypsegedanke knüpft ein geistiges Band, das unterschiedliche historische Phänomene verbindet, und wahrscheinlich hilft die Aneignung dieses Gedankens dabei, sich nicht mehr ganz so schnell für beliebige Moden zu begeistern. Die persönlichen, liebgewonnen Utopien bleiben ebenfalls nicht davon verschont, und was das Beste daran ist: Es fühlt sich nicht schlecht an, ideologischen Ballast abzuwerfen.

Dennoch sitzt uns der absolute Anspruch der Liebe hartnäckig im Genick und konterkariert das eben Behauptete. Der Stoff ist wirksamer als jede durchdringende Erkenntnis. An der Liebe und an anderen Wiederholungen scheitert Grays Kritik der utopischen Unvernunft. Es ist mit der Liebe wie in der Mode und im Sport: Immer wieder dasselbe und dennoch wirkt die Suggestion, die kommende Saison werde besser als die letzte ausfallen, das nächste Mal werde es gelingen.

Mit der Liebe ist es aber in Wahrheit noch viel schlimmer. Sie wirkt nicht nur wie eine natürliche Droge oder Trance, die willfährig und ohnmächtig zugleich macht, sie wirkt sogar auf uns zurück, wenn wir uns ihr nicht überlassen. Ein Leben ohne die Liebe bleibt grau. Wenn also schon kein aufklärendes Kraut dagegen gewachsen ist, dann sollten wir wenigstens den Ehrgeiz besitzen, das Spiel gut, das heißt mit Leidenschaft und Bedacht, zu spielen. So bietet es wenigstens der Soziologe Peter Fuchs an, wenn er hinsichtlich der Liebe von dem entscheidenden Elixier spricht, das zur Konstruktion moderner Intimsysteme beiträgt. (Fuchs 2003) So denn: Faites vos jeux!

Leseempfehlung

Fuchs, P. (2003): Liebe, Sex und solche Sachen. UVK, Konstanz

Goethe, J. W. von (1998): Goethe Werke. Bd. 3, Insel, Frankfurt/M.

Gray, J. (2007): Politik der Apokalypse. Klett Cotta, Stuttgart

Smith, A. (2004): Theorie der ethischen Gefühle, Meiner, Hamburg

Leidenschaft, Zwiespalt und Krise

Some day you can have the Blues because your wife left you.

The other day you can get the Blues because your wife came back to you.

Willie Dixon4

Die Seele ist von Natur aus vielschichtig. Das alleine garantiert genügend Verwirrungen und Ambivalenzen, bei einem selbst, bei anderen wie in zwischenmenschlichen Beziehungen. Bereits die alten, vornehmlich auf Bewahrung ihrer Überlieferungen ausgerichteten Kulturen ahnten, wie schwer das Seelische zu kontrollieren ist, weshalb sie der ungreifbaren Seele eine natürliche Fluchttendenz unterstellten. Da eine Seele nach der historischen Vorstellung frei ist, muss sie von ihrem vorübergehenden Besitzer und der Gemeinschaft besonders gepflegt werden. Sonst droht der Verlust derselben. Wen also Umstände zwingen, sich in Gefahr zu begeben, und wer angehalten ist, sein Leben zu ändern, der gerät in eine psychische Notlage. Der ist in seinem angegriffenen Zustand kein guter Ort für eine ungefestigte Seele.

Jede Umwandlung des Selbst, jeder Entwicklungsschritt eines Menschen bedeutet in traditionalen Kulturen daher, die Grenze des bisher Bekannten zu überschreiten und seelisches Neuland zu betreten, sich aufzugeben, um neu entstehen zu können. Davon berichten die unzähligen Initiationsriten der Völker. Zwischendrin ist man, nicht mehr der gewohnte Mensch und noch nicht der zu werdende, vorübergehend seelenlos. Ist die Übergangskrise gemeistert, findet die Seele normalerweise zurück. Wenn nicht, müssen sich mächtige Heiler auf die Suche begeben und sie wieder einfangen.

So weit die schamanische Entwicklungsperspektive alter Kulturen. Was daran bis heute Geltung beansprucht, ist die existenzielle Erkenntnis, dass der Mensch nicht um Entwicklung herum kommt und seelische Krisen daher eine Begleiterscheinung des Lebens sind. Einerseits ist ein Organismus aus Gründen des Überlebens gezwungen, sich weiter zu entwickeln und an ein veränderliches Umfeld anzupassen. Andererseits aber, das macht den ambivalenten Hintergrund der Persönlichkeit aus, ist ein Organismus ebenso davon abhängig, möglichst viel Energie zu sparen und seine Struktur zu erhalten. Das erreicht er, indem er Bewährtes und Erfolgreiches wiederholt und Routinen entwickelt.

Ein junger Mann geht für zwei Jahre zum Studieren in die USA. Zweck des Auslandsaufenthaltes ist es, fließend Englisch zu lernen und später den Abschluss einer renommierten Universität vorweisen zu können. Seine Freundin bleibt derweil in Deutschland. Es ist vorgesehen, nach der Rückkehr zu heiraten. Beiden ist diese Aussicht, die Trennung durchzuhalten, der zukünftige Lohn. Anfänglich hat der junge Mann erhebliches Heimweh und stürzt sich daher umso intensiver in sein Studium. Das fällt ihm leicht und so plätschern die Tage dahin. Er freut sich auf Zuhause. Wenige Wochen vor dem Ende seines Aufenthaltes verliebt er sich in eine amerikanische Kommilitonin. Es ist viel Gefühl im Spiel und nach etlichem Hin und Her entscheidet er, sich von seiner deutschen Freundin zu trennen und in den USA zu bleiben. Beruflich klappt das wunderbar. Was bald nicht mehr funktioniert, ist seine neue Beziehung. Seine amerikanische Freundin wird ihm von Tag zu Tag fremder und er fühlt sich einsam neben ihr. Darauf war er nicht vorbereitet. Obwohl er verliebt ist, fühlt er sich bald außen vor. Sie sei so ›anders‹. Langsam wird ihm klar, dass sein neues Leben einen hohen Preis erfordert. Er muss bereit sein, Vertrautes aufzugeben in der Hoffnung, sich auf Dauer an das Neue und Irritierende zu gewöhnen. Er wird darüber depressiv. Nach einigen Monaten bricht er die Beziehung ab, kündigt seinen Job und geht wieder nach Deutschland. Zu Hause dauert es nur wenige Tage und er fühlt sich jetzt zwar alleine, aber wieder ›eins mit sich‹.