Tod im Bankenviertel

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7

Im Dibbegucker waren zu dieser Tageszeit alle Tische besetzt. Selbst vorne am Buffet, wie in Sachsenhäuser Kneipen der Ausschank an der Theke heißt, war es schwer, einen freien Quadratmeter zu finden. Aber der Wirt des Dibbeguckers, den sie hier alle nur den Dicken Heiner nannten, hatte natürlich immer noch ein paar Plätzchen in Reserve für Stammkunden und gute Freunde des Hauses. Und zu dieser privilegierten Gruppe zählte schon seit Ewigkeiten Carl Stolberg, der Chefredakteur des Finanzblatts. Er konnte auch ohne Voranmeldung mit einem Sitzplatz rechnen – erst recht, wenn er gemeinsam mit Frankfurts neuem Polizeipräsidenten auftauchte.

Christian Herzog, ein großer und kräftiger Mann mit Locken, dessen Stirn im Sommer ständig nass von Schweiß glänzte, hatte eine beeindruckende Karriere vorzuweisen. Er war mit 44 Jahren der mit Abstand jüngste Polizeipräsident, den Frankfurt je gesehen hatte. Das lag sicherlich auch an seinem forschen Auftritt. Herzog vermittelte den Eindruck, dass er die Probleme beherzt anpackte, dass er den Mut auch zu schwierigen Entscheidungen hatte. Und dass er ungewöhnlichen Methoden gegenüber durchaus aufgeschlossen war, solange sich niemand über das Recht stellte.

„Da kommt halt grad mit dorsch hinner ins Kaminzimmer“, lotste der Dicke Heiner den Journalisten und den Polizeichef durch die Menge – und fand für sie tatsächlich noch zwei Sitzplätze im schönsten Gastraum der Apfelwein-Schänke.

„Eigentlich hätte ich ja allen guten Grund, auf Sie sauer zu sein, Stolberg“, eröffnete der Polizeichef, kaum dass er Platz genommen hatte, das Gespräch gewohnt offensiv und hielt sich nicht lang mit Freundlichkeiten auf. „Ihr verdammter Leitartikel über die Pannen beim polizeilichen Personenschutz hat im Präsidium für ziemlichen Wirbel gesorgt“, schimpfte Herzog.

Stolberg reagierte darauf mit unschuldiger Miene: „Mal ehrlich, Herr Herzog, Sie können mir doch nicht ernsthaft böse sein wegen dieses Kommentars? Oder habe ich Ihren Beamten darin unrecht getan?“

Der Polizeichef musterte sein Gegenüber, nahm sein Rautenglas und leerte es mit einem kräftigen Schluck. „Nein, natürlich nicht. Meinetwegen hätten Sie sogar noch fester draufhauen können auf die Kollegen. Was mich ärgert, ist, dass Sie damals besser darüber informiert waren, was bei uns so alles schiefgelaufen ist, als ich.“ Herzog nahm den Bembel und füllte das Rautenglas neu auf. „Und was zur Hölle wollen Sie nun noch von mir wissen? Sie haben doch schon alles geschrieben, was es zu schreiben gibt.“

„Da haben Sie recht“, entgegnete der alte Mann des Finanzjournalismus freundlich. „Ich interessiere mich im Moment auch gar nicht für Ihre Behörde. Sondern nur für einen ganz besonderen Fall, mit dem Sie aktuell zu tun haben. Präzise gesagt, für einen Fall aus dem 47. Stockwerk des Hypo-Union-Towers.“

Mit dieser Anfrage hatte Herzog nicht gerechnet. Er lehnte sich zurück, atmete tief durch und fuhr sich mit der Hand ins Gesicht, um sich den Schweiß von der Nase zu wischen und die Augen zu massieren. Man merkte ihm an, dass er sich konzentrierte, um ja nichts zu sagen, was er schon in wenigen Minuten bereuen würde. Nach einer kurzen Denkpause hatte er seine Gedanken geordnet.

„Am liebsten, Stolberg, würde ich Ihnen überhaupt nichts sagen. Ich meine: Wir sprechen immerhin über eine Tat, die gerade mal ein paar Stunden zurückliegt. Wir wissen bislang nicht viel. Und das Wenige, was wir wissen, ist so verwirrend, dass noch kein klares Bild entsteht … Aber ich fürchte, dass wir Ihre Hilfe noch gut werden brauchen können – und deshalb packe ich die Gelegenheit beim Schopfe und schlage Ihnen einen Deal vor.“

Der alte Journalist traute seinen Ohren nicht. Immerhin hatte er ja um diese Unterredung gebeten und war nun doppelt überrascht, dass Herzog etwas von ihm wollte. „Sie glauben, dass ausgerechnet ich Ihnen bei Ihren Ermittlungen helfen kann?“, fragte er erstaunt zurück.

„Ja, denn meine Leute und die Fahnder von der Staatsanwaltschaft kennen Banken nur vom Geldabheben. Es würde Tage dauern, bis die kapieren, was der Unterschied zwischen einem Treasurer, einem Liquiditätsmanager und einem Geldhändler ist. Und Wochen, um daraus etwas für die Ermittlungen abzuleiten. Sie hingegen kennen die Banken besser als jeder andere hier in der Stadt. Sie wissen, wer welche Partner braucht, um irgendein Ding drehen zu können. Und Sie können viel schneller als meine Leute eins und eins zusammenzählen und verstehen, wer aus welchem Grund Geschäfte vereinbart. Deshalb, Stolberg, biete ich Ihnen folgenden Pakt an: Ich halte Sie auf dem Laufenden und liefere Ihnen Informationen über den Fall – natürlich nur in den Grenzen dessen, was mein Amtseid zulässt. Dafür versprechen Sie mir erstens hoch und heilig, mich niemals zu zitieren und auch keine Andeutungen zu machen, die auf mich als Quelle schließen lassen. Und zweitens helfen Sie mir, indem Sie mich an allen Ihren Vermutungen und Spekulationen teilhaben lassen, die Ihnen zu dieser Sache einfallen – und zwar bevor Sie sie Ihren Lesern mitteilen.“ Und mit staatstragender Stimme fügte er hinzu: „Wir brauchen Sie, Stolberg, wir brauchen jeden noch so kleinen Hinweis und jede Gedankenspielerei. Denn ich habe im Blut, dass es hier um eine verdammt ernste Sache geht.“

Der Chefredakteur willigte stumm ein, indem er nickte und seine rechte Hand wie zum Schwur erhob. Dann aber hakte er sofort nach: „Ich hatte also recht mit meiner Vermutung, dass irgendjemand das Opfer aus dem 47. Stock in den Tod gestoßen hat?“

Der Polizeipräsident schüttelte den Kopf: „Nein.“

Verwirrt fragte Stolberg: „Wie? Also war es doch ein Selbstmord?“

„Nein“, antwortete Herzog erneut. „Es ist komplizierter.“ Der Polizeichef rückte etwas nach vorne, lehnte sich zu seinem Gesprächspartner hinüber und sprach so leise, dass die Tischnachbarn garantiert nichts aufschnappen konnten: „Wir gehen nach der ersten Obduktion davon aus, dass das Opfer bereits tot war, als man es in das Hypo-Hochhaus verfrachtete und vom Dach herunterwarf. Und das, mein lieber Stolberg, bedeutet nichts Gutes. Wahrscheinlich haben wir es mit dem zu tun, was unsere Kriminalisten ein Zeigedelikt nennen. Irgendwer will wohl irgendwen erschrecken. Oder warnen. Oder rächen. Oder was auch immer. Auf jeden Fall sieht es danach aus, dass wir gerade erst den Auftakt zu einer ganzen Serie von Kriminaltaten erlebt haben.“

Stolberg nickte und erinnerte sich daran, dass sein junger Redaktionskollege Oskar Willemer beim Gespräch nach der Blattmacherkonferenz am Vormittag bereits ähnliche Vermutungen geäußert hatte.

„Sie haben völlig recht, Herr Herzog“, sagte Stolberg schließlich. „Das bedeutet wirklich nichts Gutes. Wahrscheinlich haben Sie es mit einem Täter zu tun, der ebenso systematisch wie kaltblütig vorgeht.“

8

Nur wenige wussten, wie der Schatzmeister mit richtigem Namen hieß. Alle sagten zu ihm Schatzmeister, so wie sie Nowitzki ungefragt Nowitzki nannten und Vito eben Vito. Es konnte nur von Vorteil sein, wenn jeder gerade das Nötigste über den anderen wusste. Der Schatzmeister freilich war die Ausnahme. Er war der Einzige, der alle Beteiligten auch mit ihren echten Namen kannte – oder zumindest alle, die zur eigentlichen Mannschaft zählten. Bei ihm liefen die Fäden zusammen, er koordinierte das Projekt. Und er gab die Anweisungen.

Zur Mannschaft im engeren Sinne gehörten auch Nowitzki und Vito. Sie konzentrierten sich auf Botendienste und Spezialaufgaben – der Schatzmeister sprach von ihnen als den „Handwerkern“. Ihre Arbeit war allerdings strikt auf Aufträge beschränkt, die jeder Kleinkriminelle ausführen konnte. Dass sich der Schatzmeister gerade für den großen Blonden und den kleinen, pummeligen Portugiesen entschieden hatte, lag daran, dass er die beiden schon seit Ewigkeiten kannte. Sie waren zwar nicht brillant, aber hundertprozentig loyal – und sie hatten noch etwas gut, weil Nowitzki vor einigen Jahren zu Falschaussagen vor Gericht bereit gewesen war, um ein Alibi zu decken. Insofern waren sie in den Augen des Schatzmeisters durchaus die Richtigen für alle Dienste, die nicht allzu große Geschicklichkeit und Kaltblütigkeit verlangten.

Für alles, was darüber hinausreichte, gab es einen Profi namens Mikail, mit dem selbst der Schatzmeister nur telefonisch in Kontakt trat – sozusagen ein externer Partner für das grobe Geschäft. Der Schatzmeister vermutete aufgrund des starken slawischen Akzents, dass er es bei Mikail mit einem in Deutschland untergetauchten Russen, Weißrussen oder Ukrainer zu tun hatte. Er war gleichzeitig froh, dass er es nicht mit Gewissheit sagen konnte. Denn das gab ihm das Gefühl, dass Mikail seinerseits auch keine Ahnung hatte, von wem er Instruktionen und Geld erhielt – und das war dem Schatzmeister ausgesprochen recht. Denn ihm war unwohl dabei, mit einem kriminellen Söldner zusammenzuarbeiten. Mehr noch: Er hatte schlichtweg Angst vor diesem Mann am anderen Ende der Leitung, der kaltschnäuziger war als er selbst und deshalb unheimlich und bedrohlich. Andererseits blieb ihm keine andere Wahl, als auf Mikails Dienste zurückzugreifen, wollte er nicht auch die schmutzigen Aufgaben selbst erledigen, die das Projekt nun einmal mit sich brachte.

Neben Nowitzki und Vito gehörten ein halbes Dutzend Software-Fachleute zum Team – allen voran Hakan, ein begnadeter Hacker, dem es bereits gelungen war, in viele geschützte Systeme einzudringen. Hakan war in Belgrad geboren, seine Familie siedelte ins Rhein-Main-Gebiet um, als er gerade einmal drei Jahre alt war. Trotzdem hatte er bis heute engen Kontakt mit Serben, Kroaten, Montenegrinern und insbesondere Albanern. Zwei albanische Freunde waren es auch, die ihn dazu brachten, sich bereits als Teenager intensiv mit Software, Programmierung und Ausflügen ins Netz zu beschäftigen.

 

Schließlich waren da noch insgesamt acht Händler und Aktienstrategen aus sechs verschiedenen Banken, die sich um die Finanzen kümmerten. Und um die Verwaltung des eingesetzten Kapitals – selbstverständlich unter strenger Kontrolle des Schatzmeisters, der den Bankern genaue Anweisungen erteilte. Sie waren für den operativen Teil zuständig und mussten möglichst unauffällig und kursschonend Wertpapiere zusammenkaufen. Eigentlich waren es ja neun gewesen. Aber einer von ihnen war heute Morgen aus dem Hypo-Union-Tower gefallen und lag nun tot auf dem Obduktionstisch der Gerichtsmedizin.

Der Schatzmeister gab nicht nur die Aufträge. Er war es auch, der die Gehälter überwies – natürlich über Umwege auf Drittkonten, um es im Fall der Fälle Ermittlern so gut wie unmöglich zu machen, der Spur des Geldes zu folgen. Keiner konnte sich beschweren – weder die Banker noch die Software-Truppe, ganz zu schweigen von Vito und Nowitzki. Die monatlichen Zahlungen an sie lagen um ein Vielfaches über den Einkommen, die alle Beteiligten mit ehrlicher Arbeit hätten einstreichen können. Die Risikoprämie war also durchaus üppig und das Geld leicht verdient. Allerdings gab es keine Kündigungsmöglichkeit. Das zumindest war allen Beteiligten klar, spätestens seit sie heute die Tickermeldungen über den Toten im Bankenviertel gelesen hatten.

Dass der Schatzmeister in der Schaltzentrale des Projekts die entscheidenden Hebel bediente, hieß allerdings nicht, dass er der Chef des Projekts war. Alle zwei Wochen kam er mit vier Anwälten zusammen, die den „Aufsichtsrat“ bildeten und dort die Interessen ihrer Mandanten vertraten – einem Dutzend anonymer vermögender Privatpersonen, die das Kapital für die ganze Unternehmung zur Verfügung stellten und sich vollkommen im Hintergrund hielten.

Der Schatzmeister kannte nur einen von ihnen – Gregor Corvinius, einen Kronberger Investmentbanker, der sich in den späten neunziger Jahren drei Millionen Euro in die eigene Tasche geschaufelt hatte. Corvinius war reich geworden, indem er seine Position als Händler im Auftrag von Versicherungen und Fonds ausgenutzt hatte. Er hatte sich unmittelbar vor großvolumigen Geschäften seiner Kunden auf private Rechnung mit den entsprechenden Wertpapieren eingedeckt und sie wenige Stunden später gewinnbringend wieder abgestoßen. Dieses Frontrunning war nie aufgefallen, denn die Summen, mit denen Corvinius in die eigene Kasse wirtschaftete, waren maximal fünfstellig – und damit zu klein, um die Aufmerksamkeit der Marktaufsicht auf sich zu lenken.

Anders als der Schatzmeister war Corvinius immer nach oben gefallen. Und man hatte ihm niemals irgendein Fehlverhalten im Handel mit Wertpapieren nachgewiesen, obwohl er sich aller möglicher unlauterer Praktiken bedient hatte. Gerade wegen dieses ausgeprägten Talents, sich nie erwischen zu lassen, war Corvinius von vornherein der Wunschpartner des Schatzmeisters gewesen. Deshalb hatte er vor acht Monaten schrittweise den Kontakt zu ihm aufgebaut und ihm schließlich im März, als er vertraut genug mit ihm war, den kompletten Plan vorgetragen.

Die Kalkulation war voll aufgegangen. Corvinius war sofort von dem Vorhaben begeistert und stieg ein. Er brauchte anschließend gerade einmal zehn Tage, um die nötigen anderen Geldgeber an Land zu ziehen. Bereits im Mai landete die erste Überweisung auf dem Konto des Schatzmeisters, sodass er sich unverzüglich an die konkrete Umsetzung des Projekts machen konnte. Über jeden einzelnen Schritt wachte allerdings der „Aufsichtsrat“, um dessen Geheimhaltung viel Aufhebens gemacht wurde. Eigentlich kein Wunder, schließlich waren dort Anwälte mit von der Partie. Und denen ging genau jene Risikofreude und Unverfrorenheit völlig ab, die Investmentbanker wie Corvinius auszeichneten.

Der Schatzmeister setzte sich vor einen der sechs Bildschirme in der Zentrale, steckte sich eine filterlose Zigarette an und klickte sich durch die Meldungen der Nachrichtenagenturen. Alle hatten sie über den Toten im Bankenviertel berichtet – Realtime, Worldnews, apx und die Mediendienste sowieso. Der Schatzmeister nahm den Meldungsstand mit Genugtuung zur Kenntnis. Es war so gut wie ausgeschlossen, dass irgendjemand aus der Mannschaft nicht davon erfahren hatte. Saßen doch Banker und Softwareentwickler, so wie alle anderen im Bankenviertel, zehn Stunden am Tag vor einem Bildschirm mit Nachrichtenticker. Realtime, Worldnews & Co. waren hier im Zentrum der Stadt die entscheidende Verbindung zur realen Welt. Und der wichtigste Kanal zu all dem, was jenseits der Bankentürme geschah. Ein Ereignis wurde erst zum Ereignis, wenn es über die Ticker lief. Was nicht gemeldet wurde, war sozusagen nie geschehen. Und andersherum: Was irgendwann einmal über die Agentur verbreitet wurde, konnte niemand wieder ungeschehen machen, selbst wenn es in Wirklichkeit nie so passiert war.

Sturz vom Dach des Hypo-Union-Towers gibt Rätsel auf, lautete die Schlagzeile über dem Korrespondentenbericht von afx. Noch sei die Identität des Toten ungeklärt, hieß es in dem Bericht, der allerlei Sprecher von Staatsanwaltschaft und Banken zitierte, die aber allesamt nichts Erwähnenswertes zu berichten hatten. Trotzdem war sich der Schatzmeister sicher, dass die Warnung von allen verstanden wurde, die wieder auf Spur gebracht werden mussten, um das Projekt nicht zu gefährden.

Ihn selbst ließ die ganze Sache übrigens längst nicht so kalt, wie er es nach außen zu demonstrieren versuchte. Auch für den Schatzmeister war es die erste direkte Erfahrung mit einem Kapitalverbrechen. Bisher kannte er echte und brutale Gewalt allenfalls aus Spielfilmen. Er selbst war nicht einmal im Knast gewesen. Und er entstammte einem Zuhause, das viel zu geordnet war, als dass sich in ihm jene Verachtung gegenüber bürgerlichen Karrieren und jene Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer hätte aufstauen können, die im Volksmund recht zutreffend als kriminelle Energie beschrieben wird. Nein, der Schatzmeister war eben nur Schatzmeister und kein Pate. Dazu fehlte ihm die nötige Abgeschmacktheit.

Vor allem heute war der Schatzmeister sichtbar nervös. Immerhin war in den vergangenen Tagen viel schiefgelaufen. Dass einer der eigenen Leute ausscheren könnte, darüber hatten sie zwar immer mal wieder gesprochen. Aber eigentlich waren sie sich sicher gewesen, dass das nie geschehen würde. Nun war es doch passiert – und hatte so schnell für Irritationen bei allen Beteiligten gesorgt, dass das gesamte Projekt in Gefahr geraten war. Der Aufsichtsrat war deshalb zu einer Sondersitzung einberufen worden, drei der vier Anwälte hatten letztlich im Auftrag ihrer Hintermänner für eine schnelle und unmissverständliche Reaktion votiert. Daraufhin hatten sie Mikail verständigt, der die Angelegenheit innerhalb von 72 Stunden erledigte.

So allein in der Schaltzentrale erforderte das Warten noch mehr Geduld. Der Schatzmeister versuchte sich deshalb abzulenken. Er zündete sich eine neue Zigarette an und betrachtete sein Spiegelbild in einem abgeschalteten Computer-Bildschirm. Es war kein schöner Anblick – und der Schatzmeister wusste das nur zu gut. Er musterte die vielen pockigen Narben, die sich von den Schläfen über die Wangen bis zu den Lippen hinzogen und sein Gesicht entstellten. Schon in der Schule hatten sie ihn verspottet, weil er wie kaum ein anderer mit Ausschlägen zu kämpfen hatte. Hautärzte hatten ihm alle möglichen Salben und Tinkturen verschrieben, aber die halfen wenig gegen die Pickel und Bläschen in seinem Gesicht, auf den Schultern und quer über den Rücken. Jahrelang war er von seinen Kumpeln aufgezogen worden, was in ihm wiederum zunächst Abwehr provozierte, später sogar Abkehr – er isolierte sich zusehends von den Menschen um ihn herum. Beides sorgte dafür, dass die Mädchen einen Bogen um ihn machten – sein entstellter Körper und sein eigenbrötlerisches Wesen. Erst mit 22 Jahren, als die Pein der Ausschläge nachließ, hatte er eine erste Freundin. Denn auf einmal drehte sich nicht mehr alles um süße Grübchen. Plötzlich wurden die Jungs von den Mädchen danach taxiert, wie sie sich in einer erwachsenen Welt zurechtfanden. Und auf einmal spielte sogar Geld eine Rolle. Ja, Geld entfaltete eine geradezu magnetische Wirkung. Eine schicke Altbauwohnung in Bornheim, mit dem offenen Auto über die Berger oder die Schweizer Straße und nachts in die Lounges auf der Hanauer: Wer sich das aus eigener Tasche finanzieren konnte, musste das Spiel begriffen haben – und stand deshalb plötzlich hoch im Kurs.

Der Schatzmeister war direkt den Weg des Geldes gegangen. Nach dem Abitur hatte er bei einer Wertpapierhandelsfirma angeheuert und dafür auf ein Studium verzichtet. Es war die Zeit der großen Illusion, der vielversprechende Begriff der New Economy machte die Runde – und mit ihm der naive Glaube, eine Ära des dauerhaften Aufschwungs sei angebrochen. Der Neue Markt stand in voller Blüte, jede Woche kamen drei neue Firmen auf den Börsenzettel und ein Kurssprung von 20, 30 oder sogar 50 Prozent über Ausgabepreis am ersten Handelstag gehörte fast schon zum guten Ton für Neuemissionen. Mit etwas Mut und einem glücklichen Händchen konnte man ein kleines Vermögen machen. Für ein großes Vermögen indes brauchte es etwas mehr: Man musste in einer Bank oder bei einem Broker arbeiten, die richtigen Leute kennen, brauchte Zugang zu reichlich fremdem Kapital und durfte keine Gewissensbisse haben, schmutzige Tricks anzuwenden. Hier eine geschickte Kursmanipulation in einem Nebenwert, dort eine erkaufte Insider-Information, da eine bevorzugte Zuteilung als Gegengeschäft für eine positive Aktienanalyse. Das Risiko, damit aufzufliegen, war über einige Jahre hinweg gering. Erst als die Blase platzte, die Kurse sanken und viele Anleger merkten, dass sie echtes Geld verloren, begann die Jagd auf all jene Profiteure, Trittbrettfahrer und Betrüger, die sich behaglich eingerichtet hatten in den Nischen des Börsengeschäfts, und die zuvor in der Zeit der großen Party niemand wirklich gestört hatten.

Gregor Corvinius, der Kronberger Investmentbanker, war noch rechtzeitig der Absprung gelungen, er brachte sein Geld in Sicherheit und wechselte den Job, aus dem Handelsraum einer Großbank zu einem renommierten Vermögensverwalter. Seine vielen unerlaubten Geschäfte konnten Monate später von Controllern, Betriebsprüfern und schließlich sogar der Wertpapieraufsicht nicht mehr präzise zugeordnet werden. Die Verfahren gegen seine ehemalige Abteilung wurden deshalb eingestellt.

Den Schatzmeister hingegen erwischte es seinerzeit volle Kante. Zwei seiner damaligen Partner bekamen es mit der Angst zu tun, als die Wertpapieraufsicht auf ihre Firma aufmerksam wurde. Sie stellten sich den Behörden und lieferten ihnen umfangreiches belastendes Material, darunter E-Mails des Schatzmeisters, die ihn eindeutig als einen der Drahtzieher manipulierter Aktien- und Termingeschäfte überführten. Die Ermittler konnten ihm daraufhin die persönliche Beteiligung an einer in Internet-Anlegerforen lancierten Kampagne nachweisen, mit dem der Kurs ausgewählter MDAX-Unternehmen künstlich in die Höhe getrieben worden war. Da er sich zudem an Kundengeld vergriffen hatte, um damit eine Brückenfinanzierung für eigene Aktienkäufe zu organisieren, verlor er binnen weniger Tage nicht nur seinen Job und sein Vermögen. Als nunmehr vorbestrafter und nur durch die Bewährung vor einer Haft verschonter Endzwanziger hatte er zudem wenig Aussicht, auf legalem und rechtschaffenem Weg noch einmal einen schnellen Aufstieg zu schaffen. Er war wieder ganz unten gelandet, zurück auf Los. Und ohne die Bärbeißigkeit, die er sich in Reaktion auf den Spott, die Verachtung und die Boshaftigkeiten der Menschen um ihn herum angeeignet hatte, hätte er gewiss nicht die Ausdauer und Geduld für einen erneuten Anlauf gehabt, an das große Geld zu gelangen – an genug Geld, um selbst als Mensch mit einem derart unansehnlichen Gesicht ein seiner Vorstellung nach entsprechend attraktives Leben führen zu können.

Der Schatzmeister blickte sich selbst tief in die Augen, die sich auf dem Bildschirm des Computers vor ihm spiegelten. Dieses Mal, das schwor er sich, werde er sich von nichts und niemandem aufhalten lassen – vor allem nicht von irgendwem, der plötzlich Fracksausen bekommt und aussteigen will. Wenn es nicht anders ginge, würden die Wackelkandidaten noch brutaler eingeschüchtert. Und wenn es sein müsste, würde Mikail eben weitere Aufträge erhalten. „Nur noch gottverdammte acht Tage lang müssen alle durchhalten“, sagte er sich selbst in beschwörendem Ton – bevor er im nächsten Augenblick jäh aus seinem Selbstgespräch gerissen wurde. Es klingelte, Nowitzki und Vito waren endlich da.

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