Tod im Bankenviertel

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Im zweiten Anlauf war alles glatt gegangen mit der Akkreditierung. Oskar hatte in der Eingangshalle der Alten Oper einen Haken um den Meldeschalter geschlagen, an dem er zuvor gescheitert war. Schließlich wollte er auf gar keinen Fall der Hostess in Gelb in die Arme laufen, die ihn beim ersten Versuch abgewiesen hatte. An einem der Anmeldeschalter auf der anderen Seite hatte er sich als Tim O’Bowman von der Nachrichtenagentur

Worldnews

 ausgegeben und sofort dessen Einlasskarte bekommen, ohne einen Ausweis vorzeigen zu müssen. Keine zwei Minuten später war er durch alle Kontrollen durch und endlich im Foyer der Alten Oper, wo sein Rugby-Kollege Benjamin auf ihn wartete.



„Du bist dir hoffentlich sicher“, fragte Oskar nach, während er sich die Einlasskarte mit dem fettgedruckten Namensschild am Revers seines Sakkos feststeckte, „dass dein Kollege O’Bowman nicht doch noch hier auftaucht und sich darüber wundert, dass ich seinen Namen spazieren führe?“



Benjamin schüttelte den Kopf: „Nein, nein, das kann nicht passieren. Ich bin mir ganz sicher. Er ist heim in die Staaten, nach Atlanta. Ich selbst habe ihn in seinem Wagen zum Terminal rausgefahren, und zwar in einem schwarzen Alfa Bertone. Verstehst du, Oz, was das bedeutet: Ich habe für eine Woche einen Alfa Bertone!“, jubelte Benjamin und sah Oskar mit großen, funkelnden Augen an. „Na sag schon, Oz, ist das Leben nicht herrlich! Wenn du willst, dann kurven wir gleich noch ein wenig mit dem Bertone durch die Stadt und pfeifen fremden Mädchen hinterher – yup! Jedenfalls sobald dieser ganze Unfug hier in der Oper vorbei ist und wir endlich Feierabend machen können.“ Benjamin Beckmann grinste über das ganze Gesicht. Er schien wirklich beneidenswert gute Laune zu haben.



Im Vorbeigehen begrüßte Ben ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank und den Finanzchef der Landesbank Hessen, gerade so als wären sie zwei Rugby-Spieler aus einem gegnerischen Sturm oder der eigenen Dreiviertelreihe. Das war typisch für Agenturleute. Während die Zeitungsjournalisten einen betont höflichen Umgangston mit Bankern und Managern pflegten, gingen die rasenden Reporter der Agenturen geradezu kumpelhaft mit der Finanzmarktprominenz um. Aber das rabaukenhafte Benehmen und ihre hemdsärmelige Art wurde ihnen nachgesehen. Ständig herumzupoltern und alle anzuquatschen, die in der Finanzbranche einen Namen hatten, gehörte einfach zu ihrem Geschäft dazu. Schließlich war es die Aufgabe dieses journalistischen Fußvolks, mit der Tür ins Haus zu fallen. Keine langen Einleitungen, keine umständlichen Fragen, keine langatmige Konversation. Kein ausholendes ‚Ja, das sind tatsächlich spannende Zeiten‘ und kein fachsimpelndes ‚Neulich habe ich etwas ganz Interessantes gelesen‘. Viel eher ein kerzengerades ‚Was werden Sie jetzt tun?‘ oder ein verhörerisches ‚Macht Ihnen der Wechselkurs Sorgen?‘, wenn nicht sogar ein provokatives ‚Denken Sie über einen Rücktritt nach?‘. Weder der Deutsche-Banker noch der Helaba-Manager hatten an diesem Tag irgendetwas zu berichten, was für Benjamin Beckmann von Interesse war. Über die NordwestLB wollte ihm der Landesbanker aus Hessen nichts sagen – und konnte es wahrscheinlich auch nicht. Und sonst gab es derzeit ja wenig, worüber es Informationen einzusammeln lohnte.



Nach einer kurzen Unterhaltung verabschiedete sich Benjamin deshalb von den Bankmanagern und wandte sich wieder Oskar zu. „Eigentlich bin ich ganz froh drum, dass es heute wenig Neuigkeiten gibt“, erklärte Ben, „denn ohne O’Bowman – also ich meine ohne den

echten

 O’Bowman – muss ich alle Meldungen selbst schreiben. Zumal ich mich ja auch noch um diesen blöden Selbstmörder bei der Hypo-Union kümmern muss.“



„Ach, du meinst den Toten, den sie vor dem Hypo-Union-Hochhaus gefunden haben? Ich bin noch längst nicht überzeugt, dass das ein Selbstmörder war – ich habe da eine ganz andere Vermutung“, entgegnete Oskar.



„Von der musst du mir später erzählen, Oz“, brach Benjamin die Plauderei mit ihm jäh ab, denn auf der Gegenseite des Foyers gaben ihm die Kollegen von apx und Realtime gerade das Signal, dass er sich sputen müsse. „Verdammt, ich habe mich sowieso schon verquatscht. Es ist fast Viertel nach elf, ich muss runter zum VIP-Eingang. Berenbrink ist im Anflug und wir müssen ihn gleich am Eingang abfangen, sonst kriegen wir heute keine vernünftige Zeile mehr von Mister Bundesbank“, verabschiedete er sich von Oskar. „Oben im zweiten Stock findest du einen Presse-Arbeitsraum für die Agenturen, da wird alles auf Leinwand übertragen, was dich interessiert“, rief er Oskar noch rasch zu. „Und außerdem gibt es da oben eiskalte Cola, belegte Brötchen und Redemanuskripte. Und keine Hostessen in Gelb, die einen rausschmeißen wollen.“ Mit diesen Worten war Benjamin in der Menge der Banker verschwunden.



Oskar drehte sich um, schritt zu den Aufzügen und machte sich auf den Weg in die zweite Etage.




5



Und Sie glauben wirklich, dass sich irgendjemand für diese staubtrockenen Themen interessiert?“, fragte Franz Berenbrink seinen Pressesprecher Tobias Heinen ungläubig.



Die beiden saßen nebeneinander auf der Rückbank des silbernen Daimlers mit den Panzerglasscheiben, in dem der Bundesbankchef zu seinen Terminen gefahren wurde. Berenbrink blickte mit miesepetriger Miene auf den 18-seitigen Text der Rede, die er in wenigen Minuten halten sollte. „Downside-Risk, Volatilität, Barwert – kein normaler Mensch hat bei 29 Grad im Schatten Nerven für solch einen Mumpitz“, schimpfte Berenbrink.



„Herr Präsident, Sie sprechen ja auch nicht vor normalen Menschen“, entgegnete ihm sein Sprecher, der es gewohnt war, dass sein Chef vor Pflichtauftritten auf Bankkongressen oder bei Hearings maulig war.



Von seinem Äußeren her passte Berenbrink durchaus in die Rolle des Notenbankers. Sein schlankes, strenges Gesicht und sein gescheiteltes graues Haar verliehen dem immer noch athletisch wirkenden 65-Jährigen Würde und Autorität. Auch brachte Berenbrink die nötige Kondition mit, um selbst schwierige Verhandlungen zu überstehen. Allerdings passten sein lebhaftes Temperament und sein direkter und manchmal frecher Umgangston so gar nicht zur landläufigen Vorstellung eines staatsmännischen Bundesbankers. Als lästige Pflicht empfand er zudem die vielen gesellschaftlichen Auftritte. Berenbrink war ein Mann wahlweise für den Poker im Hinterzimmer oder für das schnelle Bier an der Theke. Aber garantiert nicht für die Gala im Ballsaal. Und ganz sicher passte sein Arbeitsstil nicht zu dem von Behördengesichtern wie Pressesprecher Tobias Heinen, dem die Krawatte regelrecht an den Hals gewachsen war.



„Schwer zu sagen, mit welchen Fragen Sie die Nachrichtenagenturen heute bombardieren werden“, lenkte Heinen das Gespräch auf das, was seinen Chef bei der Ankunft an der Alten Oper erwartete. Wie bei jedem öffentlichen Auftritt Berenbrinks würden ihn auch an diesem Tag die üblichen Verdächtigen bei der Ankunft abfangen: die Reporter der Nachrichtenagenturen.

Realtime, Worldnews, apx, dpx

 und wie sie sonst alle hießen. Viele waren es ja nicht mehr, denn in Zeiten massenweiser, kostenloser Informationen im Internet war es immer schwieriger geworden, mit Nachrichten Geld zu verdienen. Weltbekannte, traditionsreiche Branchengrößen wie

Reuters,


Bloomberg

 oder

Dow Jones

 waren unter diesem wirtschaftlichen Druck gezwungen gewesen, Kräfte zu bündeln und Korrespondentenplätze zusammenzufassen. Das Nachrichtengeschäft von

Reuters

 und

Dow Jones

 war schließlich unter dem neuen Markennamen

Realtime

 gebündelt worden, während der Newsticker von

Bloomberg

 in Kombination mit einigen lokalen Anbietern in der Agentur

Worldnews

 aufgegangen war. Die beiden Marktführer –

Realtime

 und

Worldnews

 – waren die mit weitem Abstand größten Anbieter. In mehr als 80 Prozent aller Handelsräume in London, Frankfurt oder Mailand waren ihre Ticker-Bildschirme die wichtigste, häufig sogar die einzige Informationsquelle für die Wertpapierhändler, die sich an den Nachrichten der beiden Großen orientierten.



In der alltäglichen Praxis – wie etwa heute in der Alten Oper – hieß das für die Reporter der zwei großen Finanz-Nachrichtenagenturen, dass sie Ministern, Notenbankern oder Vorstandschefs ständig aufs Neue Zitate aus den Rippen zu leiern hatten. Zitate, in denen möglichst Wörter wie

Zinsen

,

Wechselkurse

 oder

Inflation

 vorkommen sollten. Oder die aus irgendeinem anderen Grund als Futter für Spekulationen taugten, um Aktienkurse, Anleihenotierungen, Geldmarktsätze oder Devisen in Bewegung zu versetzen. Schließlich leben Banken und Börsen vom ständigen Auf und Ab der Kurse, von Provisionen und Transaktionsgebühren. Ein öffentlicher Satz eines hochrangigen Managers oder eines Notenbankers war da allemal gut genug, um in den Handelsräumen der Profi-Investoren Spekulationen und Gerüchte auszulösen – und damit Käufe und Verkäufe von Wertpapieren. Selbst wenn Berenbrink sich nur wiederholte, konnte das den Euro am Devisenmarkt einen halben Cent nach oben schieben. Oder die Aktienkurse der Bank- und Versicherungstitel in den Keller rasseln lassen. Die Kunst eines Notenbank-Präsidenten bestand deshalb darin, stets so unverbindlich wie möglich zu bleiben, um ja keine turbulenten Kursbewegungen anzustoßen. Oder wie es der Altmeister des Fachs, der frühere US-Notenbankchef Alan Greenspan, einst auf den Punkt brachte: „Ich hoffe, ich habe mich zweideutig genug ausgedrückt.“



„Eigentlich, Herr Präsident“, fuhr Pressesprecher Heinen fort, „gibt es im Moment so gut wie nichts, worauf die Wertpapier-Profis spekulieren können. Keine Zinsfantasien, keine außergewöhnlichen Konjunkturdaten. Ich tippe mal, dass man Sie deshalb auf die angeblichen Liquiditätsprobleme der NordwestLB ansprechen wird.“

 



„Na, dann raus mit der Sprache, Heinen. Sie wollen doch bestimmt wieder, dass ich irgendeinen blöden Satz sage, über den heute früh ihre halbe Abteilung gebrütet hat?“, fragte der Bundesbankchef.



„Tja. Ja. Ja, das stimmt. Die Kollegen von der Bankenaufsicht haben sich gestern an uns gewandt und uns um den Gefallen gebeten, die Märkte zu massieren“, antwortete Heinen. Die Märkte massieren bedeutete, der Notenbankchef sollte ein paar beschwichtigende Sätze loswerden, um Aufgeregtheit aus dem Markt zu nehmen und die Investoren zu beruhigen.



„Und was genau würden die von der Bankenaufsicht gerne hören?“, fragte der Präsident nach.



„Ich glaube, Herr Präsident, man würde es als hilfreich empfinden, wenn Sie in der aktuellen Lage eine Unbedenklichkeitserklärung für die deutschen Banken abgeben würden. So etwas wie: Kein Anlass zur Sorge. Oder: Unbegründete Spekulationen. Halt irgendetwas, was Vertrauen stiftet.“



„Na gut, Heinen,“ seufzte der Präsident, „wenn es irgendjemanden nutzt, dann stelle ich mich auch auf den Kopf, wackle mit den Beinen und sage, dass es keinen Grund zur Besorgnis gibt“, versicherte Berenbrink.



Sie passierten den Rothschildpark und der Bundesbankchef blickte hinüber zum Hypo-Union-Tower: „Was ist eigentlich heute bei denen los gewesen?“



„Ein Selbstmörder hat sich aus dem obersten Stockwerk gestürzt“, antwortete ihm Heinen, „und bisher weiß man noch nicht viel. Ich glaube sogar nicht einmal den Namen des Opfers.“



Berenbrink blickte dem Bankenturm einen Moment nach. Er stellte sich vor, wie es wohl sei, aus dieser gigantischen Höhe nach unten zu stürzen. Ob es ein lautes Geräusch geben würde, wenn man unten aufschlug? Aus diesen Gedanken wurde er jedoch jäh herausgerissen, weil sie die Vorfahrt zum VIP-Eingang der Alten Oper erreicht hatten.



„Nun denn, auf in den Kampf“, munterte ihn Heinen auf.



Gleich neben der großen Holztür lungerten bereits die Reporter von

Worldnews

 und

Realtime

 sowie einiger Spezialagenturen wie

Bondmarket, ETF, afx

 und

dpx

. Berenbrink kannte ihre Gesichter auswendig, weil sie ihm zu allen offiziellen Terminen folgten – immer auf der Jagd nach einem Zitat. Berenbrink pflegte einen herzlichen, mitunter sogar lausbubenhaften Umgang mit der „Meute“, wie sich die Agenturreporter selbst nannten.



„Na, ihr alten Blutegel, was zur Hölle soll ich euch denn sagen, was ich nicht schon gesagt habe?“, fragte er in die kleine Runde, nachdem er die Limousine verlassen hatte.



Berenbrink lächelte das halbe Dutzend Presseleute freundlich an und reichte den Reportern nacheinander die Hand zur Begrüßung – eine höfliche Geste, die die Agenturleute längst nicht von allen Prominenten gewohnt waren. „Auf jeden Fall ziehe ich den Hut vor euch, Leute. Ihr schreckt ja wirklich vor gar nichts zurück.“ Der Bundesbankchef setzte eine mitleidsvolle Miene auf und fuhr fort: „Wenn ich das richtig im Kopf habe, dann musstet ihr Bedauernswerten bei diesem Schwimmbad-Wetter ein Grußwort des Oberbürgermeisters ertragen – womöglich sogar in seinem eigenwilligen Englisch … uff.“



„Stimmt“, entgegnete ihm ein breitschultriger Typ mit frecher Stimme. „Aber der eigentliche Härtetest steht noch aus: ein Berenbrink-Vortrag über standardisierte Risikomessung in Banken.“ Es war der

Worldnews

-Reporter Benjamin Beckmann.



„Vorsicht, Beckmann“, warnte ihn der Bundesbankchef mit gespielter Entrüstung, allerdings mit einem breiten Lächeln. „Vorsicht. Nicht so vorlaut. Und vor allem: nicht so voreilig. Das mit den Standardrisikomaßen mag langweilig klingen. Aber natürlich ist es ungemein wichtig, dass Banken ihre Positionen vernünftig und angemessen bewerten, damit ihnen diese Risiken nicht aus dem Ruder laufen.“



„So wie der NordwestLB?“, hakte Beckmann rasch ein.



„Es gibt keinen Grund für argwöhnische Spekulationen über irgendeine deutsche Bank“, versicherte der Bundesbankchef. „Es gibt nicht den geringsten Zweifel an der Solidität der deutschen Banken.“ Berenbrink blickte seinen Pressesprecher Heinen an, der anerkennend nickte. Der Bundesbankpräsident hatte seine Sätze ordnungsgemäß abgeliefert, sein Pressesprecher war zufrieden – und die Meute war es auch. Die Agenturreporter hatten ihren Stoff. „Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte“, sagte der Notenbanker, „denn ich sehe gerade meinen österreichischen Kollegen – und es wäre unhöflich, ihn nicht zu begrüßen.“



Die Agenturreporter ließen Berenbrink fürs Erste gewähren. Er hatte ihnen genug geliefert, und so wählten sie bereits hastig per Handy ihre Redaktionen an und gaben ihre Eilmeldungen durch.




6



Ein paar Minuten war Oskar orientierungslos durch Foyers und Gänge der Alten Oper geirrt. Dann aber hatte er doch den Agentur-Arbeitsraum gefunden. Er war leer, alle Reporter saßen wahlweise unten im Mozartsaal und lauschten den Vorträgen oder warteten am VIP-Eingang, um Bundesbankchef Berenbrink abzufangen. Oskar schlich durch die Reihen und lunste auf die Bildschirme der aufgeklappten Laptops. Überall blinkten Schlagzeilen und Zahlenkolonnen. Schreibfelder warteten darauf, mit neuen Nachrichten ausgefüllt zu werden. Oskar entdeckte vorformulierte Meldungen auf den Bildschirmen und schnüffelte in den handschriftlichen Zetteln herum, die überall auf den Tischen lagen.



Es ist schon ein abgeschmacktes Leben, das die Agenturleute führen, dachte er für sich. Irgendwo ankommen, die Computer anschließen, alle möglichen Quellen anzapfen, um sich so schnell wie möglich auf den aktuellen Stand zu bringen. Dann herumlungern, Prominente abfangen – eine Meldung rausdonnern, vielleicht auch zwei oder drei. Und danach sofort wieder abbauen und abhauen. Journalistische Nomaden, Wegelagerer, deren einzige Verwurzelung in einer kabellosen Verbindung zur Heimatredaktion bestand.



Oskar blieb vor einem Laptop stehen, der augenscheinlich seinem Rugby-Kollegen Benjamin Beckmann gehören musste. Denn erstens lief auf ihm das Programm der Agentur

Worldnews,

 bei der Ben arbeitete. Und zweitens lag daneben ein Adressbuch, auf dem ein Aufkleber der Eintracht-Abteilung prangte:

Spende Blut, spiele Rugby!



Auf dem Bildschirm des Laptops blinkten die aktuellen Meldungen der vergangenen Minute, darunter eine Eilmeldung in roter Schrift:

Berenbrink: „Ke

in Zweifel an der Solidität deutscher Banken“

. Oskar schüttelte den Kopf. Was für eine überdrehte Welt, was für ein irrer Wettlauf mit der Zeit!



Durch das geschlossene Fenster hatte er den Opernvorplatz im Blick und konnte dort die Limousine des Bundesbankchefs erkennen. Wenige Meter davon entfernt schüttelten sich Menschen die Hände, die wichtig aussahen und von anderen umringt wurden. Oskar erkannte unter ihnen den Präsidenten der Österreichischen Nationalbank. Und ihm gegenüber stand … na klar, das war Berenbrink – jetzt, wo sich der Bundesbankchef drehte, konnte Oskar ihn einwandfrei identifizieren. Mein Gott, da unten, in Rufweite, stand der oberste deutsche Währungsmanager und hatte noch nicht einmal das Foyer betreten. Aber das, was er vor wenigen Sekunden gesagt hatte, als er aus seinem Auto ausstieg, war durch schnellen Zuruf per Handy an die Newsdesks in den Agenturen übermittelt und von dort aus in alle Welt verbreitet worden – und deshalb nun bereits auf jedem Nachrichtenticker in den Börsenhandelsräumen zwischen New York und Singapur zu lesen, also auch hier auf den Laptops in der zweiten Etage der Alten Oper.



Benjamin hatte ihm neulich nach dem Rugbytraining unter der Dusche erzählt, dass sie bei

Worldnews

 und

Realtime

 mittlerweile daran arbeiteten, Nachrichten von Computern schreiben zu lassen, die sie wiederum so formulierten, dass andere Computer sie fehlerfrei lesen konnten. Denn viele Kunden nutzten Programme, die automatische Börsenaufträge in Tausendstelsekunden aufgeben konnten. Mit ihnen war es möglich, um den Bruchteil einer Sekunde eher im Orderbuch der elektronischen Handelssysteme aufzuschlagen und die Gebote auf der Gegenseite schneller abzuräumen, als das selbst dem schnellsten Händler mit manueller Auftragseingabe gelingen konnte. Völlig losgelöst von der realen Wirtschaft, in einer jenseits der Wahrnehmungsgrenze beschleunigten Welt, wechselten milliardenschwere Wertpapier-Pakete ihre Besitzer – und die Nachrichten verkümmerten in diesem entrückten Handelssystem zur Verdichtung von Kauf- und Verkaufsignalen, zu einem Sammelsurium von positiven und negativen Codes, die von Maschinen mit pawlowschen Reflexen formuliert und übersetzt wurden.



Oskar stand am Fenster und beobachtete, wie sich die kleine Menschentraube auf dem Opernvorplatz auf den Eingang zubewegte. Er kippte das Fenster, der leichte Luftzug tat gut. Er drehte sich noch einmal zu Benjamins Laptop um. Dort war der Name Berenbrink bereits vom Bildschirm verschwunden. Die Eilmeldung über die Banken war längst verdrängt durch Rohstoffmeldungen aus Lateinamerika und Schlagzeilen über das Quartalsergebnis einer Schweizer Versicherung. Was vor zwei Minuten noch den DAX bewegte, war jetzt schon Geschichte.



Oskar richtete sich in der letzten Reihe des Arbeitsraums ein. Hier oben war es nicht nur frischer als unten im stickigen Mozartsaal, es gab auch Verpflegung. Außerdem würde er hier inmitten der Agenturen wohl kaum etwas Wichtiges verpassen. Einzig ärgerlich war, dass beim aufgestellten Großbild-Fernseher, der die Reden aus dem Mozartsaal übertrug, der Ton abgeschaltet war. Na gut, dachte sich Oskar, da muss ich mich wohl selbst drum kümmern, das Gerät auch akustisch wieder zum Laufen zu bringen.



Er öffnete eine Colaflasche an der Stahlkante des Serviertischs, trank sie halb leer und krabbelte dann unter den mit einer großen weißen Decke abgehängten Tisch, auf dem der Großbildschirm stand. Hier unten war es ein wenig muffig, der Teppichboden roch leicht säuerlich. Außerdem war es duster, weil die Tischdecke nach vorne hin abdunkelte.



Es gab so viele Kabel und Stecker, dass Oskar einige Momente brauchte, um sich zu orientieren. Er robbte noch ein Stück nach vorne, sodass auch seine Beine und Füße komplett unter dem Tisch und der Tischdecke verschwanden. Dann drehte er sich leicht seitwärts, um besser in die eigene Hosentasche greifen zu können, kramte sein Handy hervor und nutzte es als Taschenlampe, um die Kabel genauer zu inspizieren. Er musste nicht lange suchen, um das Problem zu entdecken. Der Ton konnte gar nicht übertragen werden, denn die Audiokabel waren durchgeschnitten.



„Was soll das denn?“, wunderte sich Oskar. Er versicherte sich noch einmal, dass er die Leitungen nicht verwechselt hatte, aber es gab nicht den geringsten Zweifel: Die Ton-Übertragungskabel waren mit einem scharfen Schnitt durchtrennt – ein Umstand, auf den sich Oskar auch nach einigem Überlegen keinen Reim machen konnte. Ergebnislos brach er seinen Reparaturversuch ab, verstaute das Mobiltelefon wieder in seiner Hosentasche und begann, sich rückwärts zu bewegen, um unter dem Tisch hervorzukriechen.



Er hielt allerdings sofort inne, als er nur wenige Meter hinter sich Schritte hörte. Und eine Stimme, die etwas flüsterte.



„Nowitzki, ich hab unseren Laptop gefunden. Bleib du vorne an der Tür, solange ich hier umbaue.“



Oskar erstarrte unter dem Tisch. Für einige Sekunden stellte er sogar das Atmen ein, aus Angst, das Geräusch könnte ihn verraten. Er hatte jahrelang als Gerichtsreporter gearbeitet. Er kannte Hunderte Berichte von Zeugen – und erstaunlich viele fingen mit den Worten an:

Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hatte ich das Gefühl: Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu.

 Genau dieses Gefühl umschlich in diesem Moment auch Oskar. Er konzentrierte sich auf alles, was er hören konnte. Kabel wurden aus Steckdosen gezogen, technisches Gerät ein- und ausgepackt. Plötzlich klingelte ein Handy. Erschrocken und hektisch griff Oskar in seine Hosentasche, um es auszuschalten. Erst im nächsten Augenblick stellte er erleichtert fest, dass es gar nicht sein Handy war, das da läutete. Eigentlich hätte er es sofort am Klingelton erkennen müssen, denn der spielte nicht seine Telekom-Melodie, sondern die Rocky-Balboa-Hymne

Eye of the Tiger

 –

bammm … bamm-bamm-bamm

.



Oskar drehte sich leise um die eigene Achse und schob vorsichtig die Tischdecke einen Spalt nach oben. Nur zwei Schritte entfernt vor ihm stand ein kleingewachsener Südländer im weißen Anzug und schwarzen Schuhen, schätzungsweise höchstens Größe 38. Er machte einen nervösen Eindruck und war sichtlich verärgert darüber, dass man ihn gerade jetzt störte.



„Was zur Hölle ist denn los?“, zischte er ins Mobiltelefon. „Ja, da bin ich doch gerade bei – also warte doch verdammt nochmal fünf Minuten, ich melde mich dann schon.“ Danach legte der Mann auf. „Der Schatzmeister ist doch ein verdammter Scheißkerl. Geht mir total auf die Nerven mit seinen ständigen Kontrollanrufen und Anweisungen“, schimpfte er vor sich hin. Dabei packte er einen mitgebrachten Laptop aus, der exakt so aussah wie der von

Realtime

, den er gerade eben abgebaut und entkabelt hatte.

 



„Vorsicht, Vito, da kommt einer“, rief ihm sein Kumpel an der Tür zu. Oskar schob die Decke noch etwas höher und konnte nun auch den Mann erkennen, der am Eingang zu