Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft - Societas Europaea

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1 › I. Vorgeschichte

I. Vorgeschichte

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Immer schon war es eine faszinierende Idee, Unternehmen zu schaffen, die in festgefügten Formen über nationale Grenzen hinweg in verschiedenen Rechtsordnungen wirtschaftliche Tätigkeiten entfalten, um den Interessen mehrerer Staaten zu dienen. Das Zauberwort hieß „internationale Gesellschaften“: 1930 wurde die „Bank für internationalen Zahlungsausgleich“ ins Leben gerufen; 1951 gründeten drei der fünf skandinavischen Staaten (Dänemark, Norwegen und Schweden) eine gemeinsame Luftverkehrsgesellschaft, „Scandinavian Airlines Systems – SAS“; 1956 lösten Deutschland, Frankreich und Luxemburg das Problem der Schiffbarmachung der Mosel und das Betreiben der hierfür notwendigen Anlagen durch die Gründung der „Internationalen Moselgesellschaft“, um nur einige Beispiele zu nennen.

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Gemeinsam war diesen Unternehmen, dass man sie als „Gesellschaften“ sah, also zumindest in der Bezeichnung auf eine an sich privatwirtschaftliche Form partnerschaftlichen Zusammenwirkens zurückgriff, obwohl die Gesellschafter keine Privatpersonen, sondern Staaten waren, auf die sich die Teilnahme an diesen Unternehmen beschränkte. Der Gegenstand der wirtschaftlichen Tätigkeit war stets grenzüberschreitend, ihre Vorteile kamen den beteiligten Staaten gleichmäßig zugute. Rechtsgrundlage war jeweils ein völkerrechtliches Übereinkommen, so z. B. für die „Internationale Moselgesellschaft“ der Staatsvertrag zwischen den genannten Staaten vom 27.10.1956,[1] der auch die Höhe der Beteiligung festlegte: je 49 % für Deutschland und Frankreich, 2 % für das Großherzogtum. War eine Rechtsfrage in dem Staatsvertrag nicht geregelt, galt subsidiär das Gesellschaftsrecht eines der Vertragspartner. Die internationale Gesellschaft wurde ab ovo gegründet, baute also nicht auf bestehenden Unternehmen auf. Der Kreis der Gesellschafter war geschlossen, ein „Beitritt“ nur durch Änderung des Staatsvertrages möglich.

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Der Schritt hin zu einer nicht vornehmlich staatlichen Interessen dienenden, sondern auf privatwirtschaftliche Tätigkeit ausgerichteten Unternehmung wurde 1959 durch die Gründung von „SAARLOR“ getan, einer Gesellschaft zum Vertrieb der saarländischen Kohle und des lothringischen Eisenerzes. SAARLOR war eine deutsch-französische AG mit Doppelsitz in beiden beteiligten Ländern, Rechtsquelle der Staatsvertrag zwischen diesen, hilfsweise „die gemeinsamen Grundsätze des deutschen und französischen Rechts“. Auch hier wurde eine Gesellschaft neu geschaffen, die sich nicht auf bereits bestehende Unternehmen stützen konnte.[2]

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Die Idee, die wirtschaftliche Zusammenarbeit von Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten, bestehenden oder neu zu gründenden, über die Grenzen hinweg in festen Rechtsformen zu ermöglichen, wurde in dieser Zeit, wohl angeregt durch Initiativen wie SAARLOR, geboren. Auf dem 57. Kongress französischer Notare 1959 in Tours sprach sich Thibierge für eine solche Rechtsform aus, für ein „statut des sociétés étrangères“.[3] Im selben Jahr, am 22.10.1959, erregte der niederländische Professor Sanders mit seiner Antrittsvorlesung an der Wirtschaftshochschule Rotterdam und seinem Plädoyer für eine – wie er sie sprachübergreifend nannte – „societes europea“, kurz „SE“, die Aufmerksamkeit interessierter Kreise.[4] Die deutsche „Gesellschaft für Rechtsvergleichung“ stellte den Gedanken auf ihrer Trierer Tagung 1961 zur Diskussion, nachdem die Anregung in Wirtschaftskreisen bereits lebhaft erörtert wurde. Die Professoren Duden, Mannheim und Marty, Toulouse, hielten die Referate. 1962 erarbeitete der französische Industrieverband ein „Statut für Aktiengesellschaften“ mit 194 Artikeln.

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Die Wirtschaft jedoch war rascher. Sie beschritt 1964 als erste durch die wirtschaftliche Verschmelzung zweier nationaler AGs verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft den Weg hin zu einer wirklichen „Europäischen AG“. Wie so oft „schuf sie sich ihr Recht selbst“, wie Großmann-Doerth dies ehemals nannte: Die wachsende Konkurrenz der amerikanischen Firma KODAK zwang die deutsche AG AGFA, Leverkusen, zum Zusammenschluss mit der belgischen AG GEVAERT, Antwerpen. Nur durch die Bündelung der wirtschaftlichen Kräfte konnten sich die beiden, auf kleinere Märkte zugeschnittenen Unternehmen im Wettbewerb behaupten. Erleichtert wurde dieser Zusammenschluss durch den Umstand, dass sich beide Gesellschaften in ihren Produktprogrammen ergänzten: Die belgische Firma produzierte zu 65 % industrielle Photopapiere und zu 35 % Amateurphotozubehör, die deutsche im umgekehrten Verhältnis.

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Dieser Wunsch, geboren aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, bestehende Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten über die Grenzen hinweg zu neuen, den wirtschaftlichen Bedingungen angepassten, konkurrenzfähigen Einheiten zu verschmelzen, war und ist bis heute die treibende Kraft hinter den Bemühungen um die „Europäische AG“. Die grenzüberschreitende Fusion, wie sie im EWG-Vertrag von 1957 in Art. 220 3. Spiegelstrich vorgesehen war, bedeutete zwangsläufig die Übernahme einer ausländischen Gesellschaft in die eigene Rechtsordnung und umgekehrt.

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Die geniale Konstruktion der „Fusion“ AGFA/GEVAERT, unvergesslich verbunden mit dem Namen des Chefsyndikus der Bayer AG, Silcher, war Folgende: AGFA, eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Bayer AG, und GEVAERT S. A., zu 35 % in Familien-, zu 65 % in Streubesitz, gründeten jeweils in ihrem Land eine AG eigenen Rechts, an der beide fortbestehenden Gründergesellschaften zu je 50 % beteiligt wurden. Als Firma wurde für die in Belgien errichtete société anonyme die Bezeichnung GEVAERT-AGFA S. A., für die in Deutschland gegründete AG AGFA-GEVAERT AG gewählt. Sitz der belgischen Gesellschaft war Antwerpen, der der deutschen Leverkusen. Die Leitungsorgane beider Gesellschaften waren identisch: Dem belgischen „conseil d'administration“ entsprach der deutsche Vorstand. Natürlich stand neben diesem ein Aufsichtsrat, in dem die Belgier mit zwei Herren vertreten waren. Beide Führungsgremien waren paritätisch besetzt. Anfänglich arbeiteten die leitenden Herren einen Monat in Antwerpen, einen Monat in Leverkusen. Grund für diese sorgfältig austarierte Gleichheit war die Sorge, die belgische oder die deutsche Presse könnten von einem „Geschlucktwerden“ der eigenen Gesellschaft durch die des Nachbarlandes sprechen – ein psychologisches Moment, das bei dem damaligen Stand der europäischen Integration peinlich zu beachten war und das ja noch heute bei Verschmelzungen wie der der Hoechst AG mit Rhône-Poulenc S.A. in AVENTIS nicht außer Acht gelassen wurde und werden konnte. Die schlichte Übernahme von Mannesmann durch Vodafone hat einen bitteren Geschmack hinterlassen.

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Nach Jahren wirtschaftlicher Erfolge des neuen Unternehmens hob die Gesellschaft diese sorgfältige Ausbalancierung allmählich auf: Führungspersönlichkeiten wurden mehr und mehr Belgier, der Doppelname verschwand, die „fusionierte Gesellschaft“ wurde weltweit nur noch AGFA-GEVAERT genannt.

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Von besonderem Interesse war natürlich die Mitbestimmung, der der deutsche Teil des Gesamtunternehmens selbstverständlich unterworfen war. Im (deutschen) Aufsichtsrat saßen Arbeitnehmervertreter der AGFA-GEVAERT AG. Die Frage, ob dieser Umstand die belgische Seite zur Zurückhaltung, insbesondere hinsichtlich der Informationsmöglichkeiten der deutschen Arbeitnehmervertreter gegenüber dem belgischen Teil des Gesamtunternehmens, veranlasst hätte, wurde bei den Gesprächen der Kommission mit den leitenden Herren lächelnd verneint. Was denn bei der ganzen Konstruktion als hinderlich empfunden wurde? Die Unterschiedlichkeit der Bilanzvorschriften und der Steuerrechte.

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Auf die politische Ebene wurde der bisher privat verfochtene Gedanke einer europäisch konzipierten Gesellschaft gehoben, als die französische Regierung am 15.3.1965 eine Note an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft richtete, in der sie zur Schaffung des „Statuts europäischer Gesellschaften“ den Abschluss eines Staatsvertrags mit integriertem Einheitsgesetz (loi uniforme) vorschlug. Die Kommission, vornehmlich in der Person des zuständigen Kommissars von der Groeben, unterstützt von ihrem Präsidenten Hallstein, griff die französische Initiative auf. Sie erarbeitete eine „Denkschrift über die Schaffung einer europäischen Handelsgesellschaft“[5], in der sie die Grundprobleme der Erstreckung der Tätigkeit von Gesellschaften auf dem gesamten Gemeinsamen Markt und der Ermöglichung der Bildung größerer Unternehmen sowie deren rechtliche Lösungsmöglichkeiten durch Schaffung einer europäischen Handelsgesellschaft erörterte. Gleichzeitig beauftragte sie Professor Sanders, Niederlande, mit der Ausarbeitung des „Vorentwurfs eines Statuts für europäische Aktiengesellschaften“ und stellte ihm eine Gruppe von Sachverständigen aus den übrigen fünf Mitgliedstaaten zur Seite: Arendt, Luxemburg, von Caemmerer, Deutschland, Dabin, Belgien, Marty, Frankreich, und Minervini, Italien. In der Kommission lag die Zuständigkeit für die Begleitung dieser Arbeit und deren sachliche wie finanzielle Unterstützung bei der Generaldirektion „Wettbewerb“, Direktion „Rechtsangleichung“, für die das Kommissionsmitglied von der Groeben politisch verantwortlich war.[6] Der Verfasser dieses Beitrags, Taschner, war einer der beiden Referenten für dieses Vorhaben sowie für die spätere Ausarbeitung des Verordnungsvorschlags von 1970. Die genannten Arbeiten wurden in weniger als Jahresfrist abgeschlossen.

 

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Der „Vorentwurf“[7] ist die Ausarbeitung eines – materiell gesehen – umfassenden Gesetzes über eine neue, eigenständige Rechtsform, die der „Europäischen AG“, zur Regelung aller für diese Gesellschaftsform auftretenden Fragen in 13 Titeln einschließlich steuer- und strafrechtlicher Skizzierungen. Dieses „Gesetz“ enthält ein sehr detailliertes Gesellschaftsrecht, beschränkt auf bereits seit drei Jahren bestehende nationale AG als Gründer mit dem Ziel, deren wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenschluss über die Grenze hinweg in der einen oder der anderen Form zu ermöglichen. Der primäre Zweck und damit auch die Rechtfertigung einer „europäischen“ Vokation war selbstverständlich die Fusion zweier oder mehrerer AG verschiedener Mitgliedstaaten, also die im EWG-Vertrag in Art. 220 3. Spiegelstrich ursprünglicher Zählung in Aussicht genommene „Möglichkeit der Verschmelzung von Gesellschaften, die den Rechtsvorschriften verschiedener Mitgliedstaaten unterstehen“.

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Jede der 208 Vorschriften ist eingehend und mit zahlreichen rechtsvergleichenden Hinweisen auf nicht nur die Rechte der Mitglied-, sondern auch von Drittstaaten sorgfältig kommentiert. Allgemeinen Vorschriften (Firma, Rechtspersönlichkeit, Kapital, Sitz, Zuständigkeit des EuGH) in Titel I folgen Regeln über Gründung (Titel II), Kapital, Kapitalerhöhung und -herabsetzung sowie Schuldverschreibungen (Titel III), Struktur (Titel IV), Rechnungslegung (Titel VI), Sitzverlegung (Titel VIII) und Auflösung (Titel IX), dazu Regelungen über „die Vertretung der Arbeitnehmer in den Organen der SE“ (Titel V) und konzernrechtliche Vorschriften (Titel VII). Bestimmungen über Umwandlung (Titel X) und Fusion (Titel XI) runden das umfassende Bild ab.

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Mit Recht betont Sanders,[8] dass es das Ziel der Arbeiten war, eine „neue Gesellschaftsform aus einem Guss zu entwerfen“, die „den Bedürfnissen der Wirtschaft auf europäischer Ebene zu dienen“ habe. Keinesfalls sei der „Vorentwurf“ eine „Ansammlung aller denkbaren, in den nationalen Rechten geltenden Lösungen“. Mutig stellte sich der Entwurf auch Problemen, die auf europäischer Ebene außerordentlich umstritten waren und es noch sind, deren Lösung aber für das Vorhaben als unerlässlich betrachtet wurde: die in der Gemeinschaft der sechs Gründerstaaten nur in Deutschland bestehende Mitbestimmung als die Mitverantwortung der Arbeitnehmer einer Großgesellschaft bei der Aufsicht über die Unternehmensführung und das Konzernrecht als die Summe der Beziehungen zwischen herrschendem und abhängigen Unternehmen, die Publizitätserfordernisse sowie der Schutz der Minderheitsaktionäre und der Gläubiger der abhängigen Gesellschaften – Regelungen, die sich bis heute in der Europäischen Union nicht haben durchsetzen können, obwohl ihre Verwirklichung als gerechter Ausgleich zwischen den beteiligten Interessen dringend geboten ist.

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Dass der „Vorentwurf“ die parallel laufenden Arbeiten zur Harmonisierung der nationalen Gesellschaftsrechte, insbesondere der Aktienrechte nach Art. 54 Abs. 3 g EGV (heute Art. 50 Abs. 2 g AEUV) berücksichtigte, verstand sich von selbst.

Anmerkungen

[1]

BGBl II 1956, 1791.

[2]

An der Gründung von SAARLOR war Bärmann maßgeblich beteiligt, der schon 1957 einen Artikel über „Supranationale Aktiengesellschaften?“ – bezeichnenderweise mit Fragezeichen – im Archiv für die civilistische Praxis (AcP) 156, 156-211, veröffentlicht hatte.

[3]

Thibierge Le statut des sociétés étrangères, in: Le statut de l'étranger et le Marché Commun, 1959, 270 ff., 352, 360 ff.

[4]

Bericht im AWD 1960, 1.

[5]

Dok. SEK/1966/1250 v. 24.4.1966, Sonderbeilage zum Bulletin 9/10 – 1966 der EWG.

[6]

V der Groeben AG 1967, 1; s. auch Gessler BB 1967, 381; v. Caemmerer S. 54 ff.; Hauschild S. 81 ff.

[7]

Veröffentlicht durch die Kommission in der Kollektion Studien, Reihe Wettbewerb Nr. 6, 1967.

[8]

Kollektion Studien, Reihe Wettbewerb Nr. 6, 1967, 15.

1 › II. Der Verordnungsvorschlag der Kommission 1970

II. Der Verordnungsvorschlag der Kommission 1970

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Im März 1969 beschloss die Kommission auf Vorschlag von der Groebens die Ausarbeitung eines umfassenden Textes. Als Rechtsgrundlage hierfür hatte man zunächst an das klassische Mittel eines völkerrechtlichen Übereinkommen mit integriertem Einheitsgesetz (loi uniforme) gedacht, wie sich dies durch Art. 220 3. Spiegelstrich EGV (nicht in den AEUV übernommen) anbot, der ein solches Übereinkommen zur Ermöglichung der grenzüberschreitenden Fusion von Gesellschaften vorsah. Das Problem der bei dieser Rechtsform an sich mangelnden einheitlichen Gerichtsbarkeit hätte sich durch die Begründung einer solchen für den EuGH mithilfe eines Protokolls herbeiführen lassen, wie dies bereits bei dem Brüsseler Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen von 1968 geschehen war. Auf Initiative eines engen Mitarbeiters von der Groebens, Schwartz, setzte sich jedoch die Auffassung durch, dass ein solches großes Gemeinschaftsvorhaben, wie es die „Europäische AG“ darstellte, nur auf Gemeinschafts- und nicht auf Völkerrecht gegründet werden könne. So entschied sich die Kommission für die Heranziehung des bislang wenig beachteten Art. 235 EGV (jetzt Art. 352 AEUV), dessen Anwendbarkeit seiner Tatbestandsmäßigkeit nach nicht zweifelhaft sein konnte, aber kühn war, und schlug dem Rat als gemeinschaftsrechtliche Rechtsform eine „Verordnung“ i. S. d. Art. 189 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 288 Abs. 2 AEUV) vor.

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Grundlage der nunmehr in den Händen der Dienststellen der Kommission liegenden Arbeiten mit Sanders als Berater war selbstverständlich dessen „Vorentwurf“ – mit einer Ausnahme: Hatte Sanders zwar einen Titel über die Mitbestimmung aufgenommen, so hatte er sich doch darin für eine territorial begrenzte, nur am jeweiligen Sitz der SE geltende Regelung ausgesprochen. Dies betraf ausschließlich Deutschland, da nur dieser Mitgliedstaat eine solche kannte, während in Frankreich seit 1945 die sehr viel eingeschränktere Form der Entsendung von zwei Arbeitnehmervertretern in den „conseil d'administration“ ohne Stimmrecht galt.

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Die Kommission entschloss sich für den Vorschlag einer umfassenden Regelung dieses Problems, wie dies dem Charakter der „Europäischen AG“ als Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung entsprach, und verpflichtete den damaligen Rektor der Ruhr-Universität und Vorsitzenden der Reformkommission zur Mitbestimmung Biedenkopf als Sachverständigen. Biedenkopf erarbeitete ein vorzügliches Konzept einer europäischen Mitbestimmung, das in vier sehr unterschiedlichen Alternativen den Unternehmen zur Wahl gestellt werden sollte. Die hier niedergelegten Überlegungen, insbesondere die Alternative einer Vereinbarung von Ad-hoc-Lösungen zwischen den beteiligten Interessen, haben noch heute Gültigkeit.

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Am 24.6.1970 nahm die Kommission den so erarbeiteten Verordnungsentwurf an und legte ihn dem Rat am 30.6.1970 vor.[1]

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Der Vorschlag gliederte sich in 15 Titel: In ihnen wurden nicht nur alle gesellschaftsrechtlichen Probleme von der Gründung bis hin zur Auflösung der Gesellschaft, sondern auch darüber hinausgreifende Vorschriften steuer- und strafrechtlicher Art geregelt. Er umfasste 284 Artikel. Die Kommission folgte der Sandersschen Grundidee, die neue Rechtsform für die grenzüberschreitenden Unternehmensverbindungen der Verschmelzung, der Errichtung einer Holdinggesellschaft über aktiven Unternehmen oder einer gemeinsamen Tochtergesellschaft (joint venture) zu öffnen, ließ aber auch die Gründung einer Tochtergesellschaft durch eine SE allein in Form einer SE zu. Die im „Vorentwurf“ noch vorgesehene Möglichkeit der Umwandlung einer einzelstaatlichen AG in eine SE wurde ausgeschieden. Wie im „Vorentwurf“ beschränkte sie die Gründergesellschaften auf AGs unter Ausschluss von Unternehmen in anderen Rechtsformen, insbesondere von GmbHs. Solchen Unternehmen stand nach Ansicht der Kommission ja der Weg einer vorherigen Umwandlung in eine AG nach nationalem Recht offen.

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Hinsichtlich des erforderlichen Grundkapitals der SE erweiterte die Kommission allerdings den Zugang: Anstelle der im „Vorentwurf“ vorgeschlagenen einen Million Rechnungseinheiten (RE)[2] für die beiden Hauptformen der Unternehmenszusammenführung schlug sie die Hälfte vor. Für die Errichtung einer gemeinsamen Tochtergesellschaft behielt sie das Grundkapital von einer Viertelmillion RE bei. Differenzierung und Höhe des Grundkapitals sollten die neue Rechtsform größeren, um nicht zu sagen Großgesellschaften vorbehalten, wenn dies auch für Deutschland bei einem Durchschnittsaktienkapital, das seinerzeit bei 14,5 Mio. DM lag, nicht sehr ins Gewicht fallen konnte. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Form der AG in den anderen Mitgliedstaaten im Gegensatz zur teilweise unbekannten GmbH weit verbreitet war und ihre Gründung nur ein sehr geringes Grundkapital erforderte.

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Wie beim „Vorentwurf“ verstand sich der Gleichklang mit den durchgeführten und in Aussicht genommenen Arbeiten zur Gesellschaftsrechtsharmonisierung von selbst. In gewisser Weise skizzierte der Verordnungsvorschlag die Richtung jener Arbeiten.

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Der Vorschlag bestimmte autonom seinen Anwendungsbereich in Art. 7: Die von ihm behandelten Gegenstände sollten hinsichtlich der Rechtsfragen, die nicht ausdrücklich geregelt waren, der Anwendung des Rechts der Mitgliedstaaten entzogen sein. Der Richter wurde aufgefordert, „nach den allgemeinen Grundsätzen der Verordnung“ – sie spricht von „diesem Statut“ – und, wenn diese keine Lösung böten, „nach den allgemeinen Regeln oder den gemeinsamen allgemeinen Grundsätzen der Rechte der Mitgliedstaaten“ zu entscheiden. Nur die „nicht behandelten Gegenstände“ – angesichts der sehr detaillierten Regelung die große Ausnahme – sollten nach dem „im Einzelfall anwendbaren Recht der Mitgliedstaaten“ beurteilt werden.[3]

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Hinsichtlich der Gründung der SE folgte der Vorschlag dem deutschen System der Normativbestimmungen: Bei Erfüllung der gesetzlich geforderten Voraussetzungen hatten die Gründer einen Anspruch auf die erforderliche richterliche Mitwirkung, ohne dass es – wie im niederländischen Gründungsverfahren – auf eine Prüfung der Wirtschaftlichkeit des geplanten Unternehmens ankommen sollte.

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Zu Recht folgte die Kommission für den inneren Aufbau der SE dem deutschen dualistischen System, der Trennung von Geschäftsführung und Kontrolle durch zwei unabhängige Organe, wobei – auch hier deutscher Rechtstradition folgend – die Geschäftsführung durch einen Vorstand in den Vordergrund gestellt wurde. In Frankreich war seinerzeit bereits das dualistische System dem monistischen eines einzigen „conseil d'administration“ an die Seite gestellt worden; in Großbritannien entsprach und entspricht die Rechtswirklichkeit mit der funktionellen Aufteilung des „board of management“ in „executive directors“ und „non-executive directors“[4] diesem sachlich ohne Zweifel besseren Verwaltungssystem.

25

Aufmerksam zu machen ist auf Art. 82, den 3. Abschnitt „Besondere Verpflichtungen der Mitglieder des Vorstands, des Aufsichtsrats, der Abschlussprüfer und der Großaktionäre“: Alle diese Personengruppen sollten durch diesen Artikel verpflichtet werden, die von ihnen gehaltenen börsennotierten Aktien der eigenen Gesellschaft in Namensaktien umzutauschen, sie im europäischen Handelsregister registrieren zu lassen, Käufe und Verkäufe für jedes Trimester anzumelden und Gewinne aus Kauf und Wiederverkauf oder Verkauf und Wiederkauf an die Gesellschaft abzuführen. Dem Zweck dieser „Insider-Regelung ist nichts hinzuzufügen.

 

26

Besondere Bedeutung kommt dem Titel V „Die Vertretung der Arbeitnehmer in der SE“ zu. Dieser Titel sah einen Europäischen Betriebsrat als überbetriebliche Repräsentanz der Arbeitnehmerinteressen (1. Abschnitt) sowie einen Konzern-Betriebsrat (2. Abschnitt) vor. Diese Vorschläge wurden später durch die entsprechenden Richtlinien verwirklicht. Als große Neuerung war der Vorschlag zu nennen, die deutsche Form der Mitbestimmung, die Vertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat, vorzusehen (3. Abschnitt). Diese politisch außerordentlich heikle Frage, bei der es keineswegs nur um den Widerstand der europäischen Arbeitgeber, sondern auch um den der europäischen Gewerkschaften ging, die sich nicht in „das kapitalistische System“ einspannen lassen wollten, wurde elegant gelöst: Grundsätzlich sollten die Arbeitnehmer das Recht haben, ein Drittel der Aufsichtsratsmitglieder zu stellen; die Satzung der SE sollte jedoch im Einzelfall eine höhere Anzahl festlegen können. Grundsätzlich sollten die Arbeitnehmervertreter in einem Betrieb der SE beschäftigt sein. Bei drei Vertretern sollte einer „außerhalb eines solchen Beschäftigungsverhältnisses“ stehen können. Damit sollte die außerbetriebliche Mitbestimmung gesichert werden. Mit diesen Vorschlägen wäre den deutschen Interessen Genüge getan gewesen. Auf der anderen Seite sollte es keine Arbeitnehmervertretung geben, wenn mindestens zwei Drittel aller Arbeitnehmer einer SE eine solche ablehnen würden. Dies entsprach den Interessen jener Mitgliedstaaten und deren Gewerkschaften, die die Mitbestimmung als solche ablehnten.

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Ebenfalls neu war die Aufnahme eines Titels VII „Konzernrecht“. Die Kommission hatte den Mut, die Probleme dieses in vielen Mitgliedstaaten unbekannten Rechtsgebiets aufzugreifen und Lösungen vorzuschlagen. Begriffe wie „herrschendes und abhängiges Unternehmen“, „einheitliche Leitung“, „Weisungsgebundenheit“ waren den Rechten anderer Mitgliedstaaten fremd. Der Vorschlag vertraute in erster Linie dem Mittel der Publizität. Aktionäre und Gläubiger sollten sich bewusst werden können, dass sie es mit konzernverbundenen Unternehmen zu tun hätten. Die Interessen der freien Aktionäre abhängiger Konzernunternehmen sollten durch Barabfindung oder Aktientausch befriedigt werden. Für den Gläubigerschutz sah der Vorschlag die einzig richtige Lösung einer gesamtschuldnerischen Haftung des herrschenden Unternehmens für die Verbindlichkeiten des abhängigen Unternehmens vor.

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Vorschriften über Satzungsänderung, Auflösung, Abwicklung, Konkurs, Umwandlung und Fusion rundeten die gesellschaftsrechtlichen Regeln ab. Für das Steuerrecht wurden Vorschriften vorgeschlagen, für das Strafrecht die Mitgliedstaaten aufgefordert, Bestimmungen zu erlassen, die zwölf ausdrücklich formulierte Verhaltensweisen mit Strafe oder Geldbuße bedrohen sollten.[5]

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Mag sein, dass dieses europäische Aktiengesetz sehr ambitiös, zu ambitiös, war. Es wäre in der Lage gewesen, die sich – auch heute noch – stellenden Probleme der gleichberechtigten Unternehmensverflechtungen über die Grenzen der Gemeinschaft sozusagen auf „einer höheren Ebene“, der der Gemeinschaft bzw. Union, zu lösen. Die psychologischen Schwierigkeiten bestehen nach wie vor, wie die Entwicklung zeigt. Ohne Zweifel wäre die Ausstrahlung auf die Entwicklung der nationalen Aktienrechte groß gewesen, was manche Mitgliedstaaten vielleicht fürchteten. Das gilt insbesondere für das Konzernrecht. Die Konzernierung mit einer nationalen Spitze und zahlreichen hundertprozentigen Tochtergesellschaften in allen Mitgliedstaaten, die sich dann entwickelte – keine europäische Lösung –, wäre vermieden worden. Zur Verwirklichung eines solchen Gesetzes hätte es allerdings Mut gebraucht. Den hatten die Mitgliedstaaten jedoch nicht.