Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft - Societas Europaea

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290

Um ihren umfassenden Aufgaben zu entsprechen, müssen die Vorstandsmitglieder die für die Wahrnehmung ihrer Leitungsaufgabe erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen. Sie können sich nicht darauf berufen, für die Gesellschaft erforderliche Entscheidungen mangels besonderer Kenntnisse nicht treffen zu können.[58]

291

Das Hauptproblem der Bestimmung einer Sorgfaltspflichtverletzung des Vorstands liegt in der Abgrenzung der Verletzung der Sorgfaltspflicht gegenüber bloßen Irrtümern und Fehleinschätzungen. Wegen des weiten unternehmerischen Ermessensspielraums können Irrtümer und Fehleinschätzungen gegebenenfalls zur Abberufung des Vorstands und unter Umständen auch zur fristlosen Kündigung seines Anstellungsvertrages führen. Sie müssen aber noch nicht zu seiner zivilrechtlichen Haftung führen. Eine Erfolgshaftung des Vorstands gibt es nicht.[59]

292

Der BGH hatte schon vor der Neueinfügung des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG[60] die Grenze des unternehmerischen Ermessens in Anlehnung an die im US-amerikanischen Recht geltende Business Judgement Rule in zwei grundlegenden Entscheidungen[61] konkretisiert und festgestellt, dass das unternehmerische Ermessen des Vorstands sehr weit geht und eine Haftung erst bei schlechthin unvertretbarem Vorstandshandeln eintreten darf. Wenn der Vorstand aufgrund sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen unter Ausnutzung aller Erkenntnisquellen eine am Unternehmenswohl orientierte Entscheidung trifft und diese sich dann im Nachhinein als fehlerhaft erweist, tritt keine Haftung des Vorstands ein. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG erweist sich insofern als eine Kodifikation der Rechtsprechung.[62]

293

Obwohl es für die Beurteilung des unternehmerischen Beurteilungsspielraums immer auf die Frage der konkreten Entscheidungssituation ankommt, lässt sich die allgemeine Regel aufstellen, dass es zur unternehmerischen Leitung gehört, Risiken einzugehen, dass jedoch, je höher die Risiken sind, die Vorbereitung und Überprüfung der Entscheidung durch den Vorstand umso gründlicher ausfallen muss.[63]

294

Aufgrund der Gesamtverantwortung des Vorstands haftet jedes Vorstandsmitglied nicht nur für seine eigenen unternehmerischen Entscheidungen in seinem Ressort, sondern auch für die Entscheidungen seiner Vorstandskollegen. Eine Geschäftsverteilung unter den Vorstandsmitgliedern hebt die Pflichten der unzuständigen Vorstandsmitglieder nicht auf. Deren Pflicht wandelt sich in eine Pflicht zur Überwachung der jeweils anderen Ressorts und eine Pflicht zum Einschreiten im Fall der Feststellung von Pflichtverletzungen.[64] Bei der Prüfung und Überwachung darf sich das unzuständige Vorstandsmitglied nicht darauf beschränken, gegen eine Beschlussvorlage, die aus dem Ressort eines anderen Vorstandsmitglieds stammt, zu stimmen. Wenn das Vorstandsmitglied erkennt, dass in der Maßnahme eine potenzielle Gefährdung der Gesellschaft enthalten ist, besteht die Verpflichtung, den Aufsichtsrat einzuschalten.[65]

295

Ungeklärt ist, inwieweit die Empfehlungen des DCGK den Sorgfaltsmaßstab des § 93 AktG konkretisieren. Allgemein wird davon ausgegangen, dass eine Haftungsverschärfung durch die Beachtung oder Nichtbeachtung der Empfehlungen des DCGK nicht eintreten soll. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Abs. 6 der Präambel des DCGK den Gesellschaften ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, von den Empfehlungen des Kodex abzuweichen, um branchen- oder unternehmensspezifische Bedürfnisse wahrnehmen zu können. Aus der Gesetzesbegründung[66] ergibt sich, dass der DCGK unverbindliche Verhaltensempfehlungen geben will.[67] Denkbar ist gegebenenfalls, dass der DCGK zur Auslegung aktienrechtlicher Vorschriften herangezogen werden kann.[68] Auch die Abgabe der Entsprechungserklärung gem. § 161 AktG kann nicht als rechtlich bindende Konkretisierung der Sorgfaltspflichten des Vorstands angesehen werden, denn die Entsprechungserklärung wird von den Organen abgegeben, um die von der Gesellschaft geübte Corporate Governance transparent zu machen. Eine rechtliche Bindungswirkung für oder zwischen den Organen soll dadurch nicht erreicht werden.[69]

296

Bindungswirkungen entfalten die Empfehlungen des DCGK jedoch dann, wenn sie zum Inhalt der Geschäftsordnung und des Anstellungsvertrages des Vorstands gemacht wurden. Eine Sorgfaltspflichtverletzung des Vorstands ist auch anzunehmen, wenn die Entsprechungserklärung gem. § 161 AktG nicht abgegeben wird, von den Empfehlungen ohne Bekanntmachung abgewichen wird oder eine von vornherein unzutreffende Entsprechungserklärung abgegeben wird.[70]

297

Eine Ersatzpflicht des Vorstands setzt voraus, dass das Vorstandsmitglied schuldhaft, d.h. vorsätzlich oder fahrlässig, die gestellten Sorgfaltsanforderungen verletzt hat. Der Verschuldensmaßstab des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG ist wie derjenige des § 276 Abs. 1 S. 2 BGB ein typisierter. D. h., es kommt darauf an, ob das Vorstandsmitglied die subjektiv an ein ordentliches und gewissenhaftes Geschäftsleitungsmitglied zu stellenden Sorgfaltsmaßstäbe beachtet hat. Aufgrund dieser typisierten Betrachtung ist bei der Feststellung eines objektiven Sorgfaltspflichtverstoßes auch die subjektive Pflichtwidrigkeit regelmäßig anzunehmen. Dies ist letztendlich darauf zurückzuführen, dass Vorstandsmitglieder die Fähigkeiten und Kenntnisse haben müssen, die für die ihnen anvertraute Leistungsaufgabe objektiv erforderlich sind. Bei mangelnden eigenen Kenntnissen und Fähigkeiten können sich die Vorstandsmitglieder daher nicht exkulpieren.[71] Dem Verschulden kommt aus diesem Grund in der Praxis nur geringe Bedeutung zu, da in der Regel die objektive und die subjektive Pflichtwidrigkeit deckungsgleich sind. Allenfalls in Fällen, in denen ein sofortiges Handeln vom Vorstand im Gesellschaftsinteresse verlangt wird und er keinen sachverständigen Rat einholen kann, ist ein Auseinanderfallen von objektivem und subjektivem Pflichtverstoß denkbar.[72]

298

Sowohl die objektive Pflichtwidrigkeit als auch die subjektive Pflichtwidrigkeit, d.h. das Verschulden des Vorstands, wären im Streitfall nach allgemeinen Beweislastregeln von der Gesellschaft als Anspruchstellerin zu beweisen. Diese Beweisführung wäre der Gesellschaft im Streitfall oft nicht möglich, weil nur der Vorstand über die entsprechenden Unterlagen und Dokumentationen seines unternehmerischen Handelns verfügt. Deshalb ordnet § 93 Abs. 2 S. 2 AktG eine Beweislastumkehr an und fordert vom Vorstand den Beweis, dass er die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt hat.[73]

299

Die Verteilung der Beweislast bei Geltendmachung eines Anspruchs gem. § 93 Abs. 2 S. 1 AktG stellt sich demnach wie folgt dar:

300

Die Gesellschaft hat die Handlung oder Unterlassung des beklagten Vorstandsmitglieds, den Eintritt eines Schadens und die adäquate Kausalität zwischen Handlung und Schaden zu beweisen. Gelingt ihr diese Darlegung und auch der erforderliche Beweis, muss der Vorstand darlegen und beweisen, dass er nicht pflichtwidrig und nicht schuldhaft gehandelt hat oder der Schaden auch bei einem pflichtgemäßen Verhalten eingetreten wäre (rechtmäßiges Alternativverhalten).[74] Die geschilderte Beweislastregelung gilt auch in den Fällen des § 93 Abs. 3 AktG: Hier kommt ergänzend zu der Beweiserleichterung zugunsten der Gesellschaft hinzu, dass bei Vorliegen einer der dort genannten Vermögensminderungen das Vorliegen eines Schadens der Gesellschaft vermutet wird.[75]

301

Die Haftung gem. § 93 Abs. 2 S. 1 AktG ist für jedes Vorstandsmitglied individuell festzustellen. Verletzen mehrere Vorstandsmitglieder ihre Sorgfaltspflichten, so haften sie der Gesellschaft für den daraus entstandenen Schaden als Gesamtschuldner. Die gesamtschuldnerische Haftung tritt dann ein, wenn die Vorstandsmitglieder eine Schädigung durch gemeinsames Handeln oder Unterlassen herbeigeführt haben, weil die Maßnahme in die Gesamtzuständigkeit des Vorstands oder mehrerer Vorstandsmitglieder gefallen ist. Denkbar ist auch der Fall, dass ein Vorstandsmitglied in seinem Ressort den Pflichtverstoß begangen hat, die anderen Vorstandsmitglieder in diesem Zusammenhang aber ihre Kontroll- und Überwachungspflichten nicht in ausreichendem Umfang ausgeübt haben.[76]

302

Eine Haftung der Vorstandsmitglieder ist gem. § 93 Abs. 4 S. 1 AktG ausgeschlossen, wenn ihre pflichtwidrige Handlung oder Unterlassung auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht. Zu beachten ist allerdings, dass nicht jeder Hauptversammlungsbeschluss zu einem Haftungsausschluss führt. Nur in den Fällen, in denen der Vorstand gem. § 83 Abs. 2 AktG an die Beschlüsse der Hauptversammlung gebunden ist, tritt auch ein Haftungsausschluss gem. § 93 Abs. 4 S. 1 AktG ein. Die bloße Ermächtigung zu einem bestimmten Handeln durch einen Hauptversammlungsbeschluss führt nicht zum Haftungsausschluss.[77] Auch die Billigung des Vorstandshandelns durch den Aufsichtsrat führt gem. § 93 Abs. 4 S. 2 AktG nicht zu einem Haftungsausschluss gegenüber dem Vorstand. Durch die Billigung kann allerdings eine zusätzliche Haftung des Aufsichtsrats gem. § 116 i.V.m. § 93 AktG eintreten.[78]

303

Auch die nachträgliche Billigung des Vorstandshandelns und ein Verzicht auf Schadensersatzansprüche sind nur unter engen Voraussetzungen möglich. Gem. § 93 Abs. 4 S. 3 AktG kann ein Verzicht oder ein Vergleich nur auf der Grundlage eines Hauptversammlungsbeschlusses nach Ablauf von drei Jahren nach Entstehen des Anspruchs abgeschlossen werden. Zusätzliche Voraussetzung ist, dass nicht eine Minderheit, die 10 % des Grundkapitals hält, Widerspruch erhebt.[79]

 

304

Die Ansprüche gegen die Vorstandsmitglieder verjähren nunmehr[80] gem. § 93 Abs. 6 AktG bei Gesellschaften, die zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung börsennotiert sind, in zehn Jahren, bei anderen Gesellschaften in fünf Jahren. Für Organe von Kreditinstituten gilt gem. § 52a Abs. 1 KWG unabhängig von der Börsennotierung die zehnjährige Verjährungsfrist. Die Verjährungsfrist kann weder im Anstellungsvertrag noch durch die Satzung verlängert oder verkürzt werden. Die Regelung in § 93 Abs. 6 AktG ist abschließend und zwingend.[81] Die Verjährungsfrist gilt für alle Ansprüche der Gesellschaft, egal ob sie von Gläubigern gem. § 93 Abs. 5 AktG geltend gemacht werden oder ob es sich um eine schwerwiegende Pflichtverletzung gem. § 93 Abs. 3 AktG handelt. Sofern neben der Haftung aus § 93 AktG Ansprüche aus einer positiven Vertragsverletzung des Anstellungsvertrages konkurrierend angenommen werden,[82] verjähren Ansprüche aus einer positiven Verletzung des Anstellungsvertrages ebenfalls gem. § 93 Abs. 6 AktG in zehn Jahren bei börsennotierten Gesellschaften und im Übrigen in fünf Jahren.[83] Alle sonstigen Schadensersatzansprüche gegen die Vorstandsmitglieder verjähren selbständig nach den für sie geltenden Verjährungsvorschriften.[84]

305

§ 93 Abs. 6 AktG enthält für den Beginn und das Ende der Verjährung keine gesonderten Regelungen, sodass die allgemeinen Verjährungsvorschriften des BGB zur Anwendung kommen. Die Verjährung beginnt damit gem. § 200 BGB mit der Entstehung des Anspruchs als objektivem Umstand. Im Gegensatz zum früheren Recht ist damit für den Beginn der Verjährungsfrist nicht die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen des Anspruchsberechtigten der anspruchsbegründenden Tatsachen erforderlich. Vielmehr knüpft der Beginn der Verjährung an die erstmalige Möglichkeit der Geltendmachung des Anspruchs durch Klage an.[85] Es ist zu beachten, dass die zehnjährige Verjährungsfrist auch auf vor dem 15.12.2010 entstandene, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährte Ansprüche anzuwenden ist.[86]

6.3 Änderungen nach dem UMAG

306

Mit dem Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung (UMAG) ist am 1.11.2005 eine der bedeutendsten und systemrelevantesten Reformen in Kraft getreten.[87] Das Gesetz beruht auf Vorschlägen der Regierungskommission Corporate Governance und setzt die im TransPuG und im Spruchverfahrensneuordnungsgesetz begonnene Neuordnung des Gesellschaftsrechts fort. Ein Schwerpunkt des UMAG ist die Neugestaltung des Rechts der Innenhaftung der Verwaltungsorgane. Daneben ist das Anfechtungsrecht reformiert worden.

307

Die Schwerpunkte des Gesetzes, die Reformierung der Innenhaftung der Verwaltungsorgane und des Anfechtungsrechts, stehen in unmittelbarem Zusammenhang. Ziel war es, bei den aktienrechtlichen Schutzmechanismen eine Gewichtsverlagerung von der Anfechtungsklage zur Haftungsklage zu erreichen.[88] Dementsprechend wurde die Durchsetzung der Haftungsklage verbessert, indem es nun einer Minderheit als gesetzlicher Prozessstandschafter erlaubt ist, ein gerichtliches Zulassungsverfahren anzustrengen und im Falle der Zulassung die Klage selbst zu führen.[89]

308

Die Innenhaftung der Verwaltungsorgane wurde durch das UMAG entsprechend der von der Rechtsprechung[90] entwickelten Business Judgement Rule[91] in positives Recht gegossen.[92] Art. 1 Ziff. 1 des UMAG fügt als neuen § 93 Abs. 1 S. 2 AktG folgende Regelung ein: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung ohne grobe Fahrlässigkeit annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohl der Gesellschaft zu handeln.“

309

Gerade im Hinblick auf aufsehenerregende Prozesse in der Vergangenheit hat sich das praktische Bedürfnis für eine gesetzliche Regelung unternehmerischer Fehlentscheidungen zu einer einheitlichen und rechtssicheren Beurteilung des Organhandelns gezeigt.[93]

310

Durch die gesetzliche Einführung der Business Judgement Rule, die bereits vom BGH in der ARAG-Garmenbeck-Entscheidung[94] angewandt wurde, ist ein „sicherer Hafen“ für das Organhandeln geschaffen worden, der der gerichtlichen Überprüfung entzogen ist.[95] Klarzustellen ist, dass die Haftungsprivilegierung des neuen § 93 Abs. 1 S. 2 AktG ebenso wie die vom BGH geregelte Anwendung der Business Judgement Rule nur für Ermessensentscheidungen und nicht für Verstöße gegen das Gesetz oder die Satzung gilt.[96]

311

Die gesetzliche Regelung ist allerdings über die vom BGH entwickelte Anwendung der Business Judgement Rule hinausgegangen, da eine Befreiung von der Organhaftung auch für den Fall der Verletzung grundlegender Sorgfaltspflichten bei der Informationsbeschaffung normiert wurde. Denn im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung reicht es nach der gesetzlichen Neuregelung in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG aus, dass das Organ annehmen durfte, seine Entscheidung auf der Basis angemessener Informationen getroffen zu haben. In der Literatur wird bezweifelt, ob damit nicht der Haftungsfreiraum der Organe zu stark erweitert wurde und ob eine Organhaftung für die Verletzung von Sorgfaltspflichten bei der Informationsbeschaffung ohne grobe Fahrlässigkeit notwendig ist.[97]

312

Das Argument, der Unternehmensleiter sei auch dann ausreichend geschützt, wenn seine Entscheidung auf der Basis einer objektiv angemessenen Informationsgrundlage erfolge,[98] verkennt, dass auch die Beschaffung der erforderlichen Informationen bzw. die Sicherstellung einer ausreichenden Informationsgrundlage zur unternehmerischen Leitung gehört und damit selbst dem unternehmerischen Ermessen unterliegt. Konsequenterweise sollte das Haftungsprivileg daher auch für die Informationsbeschaffung gelten. Dafür spricht auch, dass die Abgrenzung dahingehend, ob die unternehmerische Entscheidung selbst oder die ihr zugrunde liegende Informationsgrundlage bereits fehlerhaft waren, im Einzelfall schwer vorzunehmen sein wird.[99]

313

Teilweise wird angenommen, dass die Haftungsprivilegierung in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG im Widerspruch zur Beweislastumkehr in § 93 Abs. 2 S. 2 AktG steht. Begründet wird dies damit, dass Ausgangspunkt der jetzt in das Gesetz übernommenen Business Judgement Rule die Vermutung eines rechtmäßigen Handelns des Vorstandsmitglieds sei. Demnach obliege es nicht mehr dem Vorstand, darzulegen, dass eine Pflichtverletzung nicht vorliegt, sondern die Gesellschaft werde im Zulassungsverfahren gem. § 147a AktG das Vorliegen einer Sorgfaltspflichtverletzung nachweisen müssen.[100] Diese Betrachtungsweise entspricht nicht der Gesetzessystematik. Die Beweislastverteilung in § 93 Abs. 2 S. 2 AktG[101] wird durch die gesetzliche Neuregelung nicht modifiziert. Auch weiterhin muss der Vorstand nachweisen, dass er ohne grobe Fahrlässigkeit im Rahmen seines unternehmerischen Ermessens auf der Basis angemessener Information seine Entscheidung getroffen hat.[102] Durch die gesetzliche Neuregelung wird lediglich der Haftungsmaßstab im Sinne der Schaffung eines unternehmerischen Freiraums vergrößert. Ob sich die Entscheidung im Rahmen dieses unternehmerischen Freiraums befindet, muss weiterhin der Vorstand darlegen und beweisen. Teilweise wird dies auch unter der gesetzlichen Neuregelung als erhebliche Gefahrerhöhung hin zu einer persönlichen Haftung des Organs eingeordnet und den Organmitgliedern eine entsprechende Beweissicherung im Vorfeld empfohlen.[103]

5 › IV › 7. Corporate Governance

7. Corporate Governance

314

Corporate Governance bezeichnet allgemein definiert den rechtlichen und faktischen Ordnungsrahmen für die Leitung und Überwachung eines Unternehmens.[104]

315

Als Bausteine eines Systems der Unternehmensüberwachung im Sinne der Corporate Governance werden allgemein unterschieden: der Vorstand und der Aufsichtsrat bzw. der Verwaltungsrat und die geschäftsführenden Direktoren im monistischen System, die Arbeitnehmer und ihre Mitbestimmung, die Banken, die Börse und der Kapitalmarkt, der Markt für Unternehmenskontrolle, die Publizität und die Wirtschaftsprüfung.[105]

316

Corporate Governance soll die Unternehmensüberwachung in diesem Sinne nicht nur beschreiben, sondern den am System der Unternehmensüberwachung Beteiligten eine Richtlinie geben, wie die Unternehmensüberwachung gut funktionieren kann. Dies dient letztendlich dazu, die Aktionäre und die zukünftigen Investoren davon zu überzeugen, dass ihr Kapital bei Befolgung eines bewährten Corporate Governance Kodex gut angelegt ist.[106]

317

Anfang der 90er Jahre setzte eine intensive Corporate Governance-Diskussion ein. Ergebnis dieser Corporate Governance-Diskussion waren Corporate Governance-Kodizes in zahlreichen Ländern. In den verschiedenen Ländern wurden Corporate Governance-Regeln auf Initiative der unterschiedlichsten staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen und supranationalen Organisationen geschaffen. Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat OECD-Richtlinien zur Corporate Governance entworfen, die im Mai 2004 noch einmal angepasst und verschärft wurden.[107] In Großbritannien wurden die Corporate Governance-Regelungen im Combined Code als Standardkodex festgehalten, in Frankreich im sog. Vienot-Bericht. In den USA wurde kein allgemein anerkannter Corporate Governance Kodex geschaffen. Die Gesellschaften haben in den USA ihre individuellen Kodizes entwickelt und veröffentlicht. Dabei haben die Kodizes von General Motors, Campbell Soups oder Calpers besondere Bekanntheit erlangt.[108]

318

Anders als diese internationale Entwicklung hat die Kodex-Diskussion zur Corporate Governance in Deutschland relativ spät eingesetzt. Erst Ende der 90er Jahre, im ausklingenden Börsenboom, wurde es zunehmend als Mangel empfunden, dass es in Deutschland keinen Corporate Governance Kodex gab, der insbesondere für ausländische Investoren die Funktionsweise einer deutschen börsennotierten AG transparent machen sollte.

319

Im Jahr 2000 wurden auf der Grundlage zweier privater Initiativen zwei Corporate Governance Kodizes entworfen. Es handelte sich dabei zum einen um die von der Grundsatzkommission Corporate Governance aufgestellten „Corporate Governance Grundsätze“ für börsennotierte Gesellschaften, die sog. Frankfurter Grundsätze,[109] zum anderen um den vom Berliner Initiativkreis „German Code of Corporate Governance“ („GCCG“) vorgelegten Kodexentwurf.[110] Die beiden Kodexentwürfe standen in einem gewissen Wettbewerb zueinander[111] und hatten eine unterschiedliche Konzeption. Die Frankfurter Grundsätze waren eher juristisch geprägt, während die Berliner GCCG eine stärker betriebswirtschaftliche Prägung hatten.[112]

320

Obwohl die Anregungen der Frankfurter und Berliner Initiativen auf positive Resonanz stießen, wurde es allgemein als problematisch angesehen, auf Dauer zwei unterschiedliche Kodizes in Deutschland zu haben.[113] Deshalb wurde auf Initiative der Bundesregierung eine amtliche Kommission unter Leitung von Baums berufen (sog. Baums-Kommission), die Empfehlungen zu einem noch zu erstellenden einheitlichen Corporate Governance Kodex gab und entsprechende Veränderungen und Anpassungen des Aktiengesetzes in ihrem Abschlussbericht empfahl.[114]

321

Auf der Grundlage des Baums-Berichts berief das Justizministerium im Herbst 2001 eine zunächst 12-, später 13-köpfige Kommission unter Leitung des damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden der ThyssenKrupp AG, Gerhard Cromme (Kodex-Kommission). Die Mitglieder der vom Bundesjustizministerium berufenen Kodex-Kommission wurden in dem Bestreben ausgewählt, alle interessierten und von dem Kodex später angesprochenen gesellschaftlichen Gruppierungen in die Kodex-Arbeit einzubeziehen. Bei den Mitgliedern handelte es sich um Vertreter der Wirtschaft, der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens.[115]

 

322

Entsprechend ihrem Auftrag hat die Kodex-Kommission auf der Basis des geltenden deutschen Rechts einen deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) entwickelt und in seiner Sitzung am 23.1.2002 verabschiedet. Der Kodex wurde am 26.2.2002 auf der Website der Kodex-Kommission veröffentlicht.[116] Da die Kodex-Kommission eine ständige Einrichtung ist, wird der DCGK von ihr ständig überprüft und bei Bedarf den geänderten Verhältnissen entsprechend angepasst. Die erste Novellierung des DCGK erfolgte in der Plenarsitzung am 21.5.2003.[117]

323

Der DCGK enthält drei Kategorien von Verhaltensregeln. Es handelt sich dabei um die Wiedergabe des ohnehin schon geltenden Rechts, die Formulierung von Regeln, deren Einhaltung empfohlen wird, und solchen, deren Einhaltung angeregt wird.[118]

324

Im rechtsbeschreibenden Teil des DCGK wird das Ziel verfolgt, kurz und prägnant mit für den Leser des DCGK leicht verständlichen Formulierungen einen möglichst objektiven, umfassendenden Überblick des geltenden Rechts zu schaffen.[119] Die Anregungen werden durch die Hilfsverben „sollte“ oder „kann“ kenntlich gemacht, um ihre Unverbindlichkeit deutlich zu machen. Die Empfehlungen werden durch das Hilfsverb „soll“ gekennzeichnet, um ihren verbindlicheren Charakter deutlich zu machen.[120]

325

Da die Kodex-Kommission kein Gesetzgebungsorgan ist, hat der DCGK keine Normqualität.[121] Durch das am 1.7.2002 in Kraft getretene TransPuG wurde ein gesetzlicher Anknüpfungspunkt für den Corporate Governance Kodex in § 161 AktG eingeführt. Danach sind der Vorstand und der Aufsichtsrat einer börsennotierten Gesellschaft verpflichtet, für jedes Geschäftsjahr eine sog. Entsprechenserklärung abzugeben, durch die veröffentlicht wird, ob die Empfehlungen des DCGK von der Gesellschaft beachtet werden.[122] Die Abgabe der Entsprechenserklärung ist eine gesetzliche Pflicht des Organs. Die Entsprechenserklärung bezieht sich nur auf die Empfehlungen und nicht auf die Anregungen des Kodex.[123] Die Entsprechenserklärung muss lediglich klarstellen, ob die Empfehlungen des Kodex eingehalten werden. Diese Erklärung muss wahrheitsgemäß erfolgen. Eine Verpflichtung, den DCGK zu erfüllen, besteht dagegen nicht. Gefordert ist allein das Herstellen von Transparenz.[124]

326

Die Organe müssen in der Entsprechenserklärung konkret darlegen, welche Empfehlungen sie nicht beachten. Sie müssen weiter erklären, ob von der betreffenden Empfehlung generell abgewichen werden soll oder ob sich die Abweichung auf einen oder mehrere Einzelfälle beschränkt.[125] Die Entsprechenserklärung kann danach auch sehr knapp ausfallen. Es reicht, wenn die Gesellschaft erklärt, dass sie den Empfehlungen des DCGK generell entspricht oder insgesamt nicht entspricht. Bisher bedurfte es bei der Nichtbefolgung keiner Begründung. Es wurde in Ziffer 3.10 des DCGK dem Vorstand und dem Aufsichtsrat demgemäß auch nur empfohlen, eine Abweichung zu begründen. Dies hat sich mittlerweile durch die Umsetzung der Richtlinie 2006/46/EG vom 14.6.2006 im Rahmen des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG) vom 25.5.2009[126] geändert. Nunmehr wird die Begründung von Kodexabweichungen in § 161 AktG gesetzlich vorgeschrieben.[127]

327

Die Entsprechenserklärung ist den Aktionären der Gesellschaft und allen Kapitalmarktteilnehmern dauerhaft zugänglich zu machen. Sie muss jährlich, d.h. einmal im Kalenderjahr abgegeben werden. Solange die Erklärung den Aktionären dauerhaft zugänglich gemacht wird, gilt was in der Erklärung steht. Die Erklärung wirkt somit für die Vergangenheit und die Gegenwart. Wird von der Entsprechenserklärung während des Jahres abgewichen, so ist eine entsprechende Berichtigung vorzunehmen.[128] Durch das BilMoG wurde zudem der Anwendungsbereich des § 161 AktG erweitert. Er gilt jetzt auch für nicht börsennotierte Aktiengesellschaft, die andere Wertpapiere zum Handel an einem organisierten Markt ausgegeben haben.[129]

328

Ob die gesetzliche Entsprechenserklärung gem. § 161 AktG vom Vorstand und Aufsichtsrat abgegeben wurde, prüft der Abschlussprüfer der Gesellschaft. Im Anhang zum Jahresabschluss ist gem. § 285 Ziff. 16 HGB anzugeben, dass die Entsprechenserklärung gem. § 161 AktG abgegeben wurde und den Aktionären zugänglich gemacht worden ist. Eine Prüfung, ob die Erklärung richtig ist, wird vom Abschlussprüfer nicht vorgenommen.[130]

329

Da es keinen Zwang gibt, den Empfehlungen und Anregungen des DCGK zu entsprechen, kann die Nichtbefolgung auch keine rechtlichen Sanktionen auslösen. Eine Bindungswirkung kann nur dann eintreten, wenn Empfehlungen oder Anregungen des Kodex in die Satzung aufgenommen werden.[131] Da eine, wenn auch nunmehr zu begründende, Abweichung vom DCGK (sog. Opting-out) möglich ist und damit kein Zwang zur Befolgung des DCGK besteht, sind die gelegentlich erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 161 AktG, wonach ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Demokratieprinzip und den Gesetzesvorbehalt angenommen wird,[132] im Ergebnis nicht zutreffend.[133]

330

Die Nichtabgabe der Entsprechenserklärung oder eine falsche Entsprechenserklärung kann allerdings zu Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen den Vorstand und/oder den Aufsichtsrat führen. Bei der Nichtabgabe der Entsprechenserklärung kann sich der Schadensersatz gegen Vorstand und Aufsichtsrat aus §§ 93, 116 AktG ergeben, weil durch die Nichtabgabe das Ansehen und der Wert der Gesellschaft am Kapitalmarkt sinken kann. Zu beachten ist dabei allerdings, dass dieser Anspruch nur der Gesellschaft und nicht den Anlegern zusteht. § 161 AktG ist kein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB.[134]

331

Auch für die börsennotierte SE gilt über Art. 9 SE-VO und § 161 AktG der DCGK. Dementsprechend hat die Regierungskommission am 14.6.2007 in die Präambel zwei neue Absätze aufgenommen.[135] Den Vorgaben des deutschen Aktienrechts entsprechend, bezieht sich der DCGK bisher ausschließlich auf das duale System. Insofern wirft die Anwendung des DCGK auf die dualistische SE keine prinzipiellen Fragen auf.[136] Es ist aber festzustellen, dass es weiterhin in jedem Fall einer Anpassung des DCGK an das monistische System bedarf.[137] Bislang hat die Regierungskommission von einer weitergehenden Behandlung der SE Abstand genommen, da man erst abwarten wolle, welche Bedeutung die monistisch verfasste SE in Deutschland erhält.[138]Demzufolge bleibt nichts anderes übrig, als den DCGK auf die monistische SE analog anzuwenden.[139] In den DCGK müssten für die SE in jedem Fall Empfehlungen über das Zusammenwirken der geschäftsführenden Direktoren mit dem Verwaltungsrat aufgenommen werden. Klargestellt werden müsste auch, in welchen Fällen der Verwaltungsrat seine Gesamtverantwortung wahrnehmen muss und die Aufgaben nicht an die geschäftsführenden Direktoren delegieren darf. Die bereits ausführlich dargestellten[140] Probleme, die bei einer Personenidentität des Vorsitzenden des Verwaltungsrats und Vorsitzenden der geschäftsführenden Direktoren auftreten können, sollten ebenfalls im DCGK geregelt werden.[141] Gänzlich neu überdacht werden sollte in diesem Zusammenhang das im DCGK bereits angelegte Spannungsfeld zwischen der kollegialen Führungsstruktur, die dem deutschen Aktienrecht zugrunde liegt, und der Empfehlung des Kodex in Ziff. 4. 2. 1 zur Hierarchisierung des Vorstands.[142]

332

Die gesamte Anpassungsdiskussion wird sich vor dem Hintergrund der zunehmenden europarechtlichen Vereinheitlichungsbestrebungen der Corporate Governance Kodizes bewegen.

[143]