Gonzo

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„Die härtesten Erlebnisse haben zu Punkzeiten ganz oft in besetzten Häusern stattgefunden. Das hatte so richtigen Endzeitcharakter. Ihr könnt euch die Dinger vorstellen, wie in einem Film. Dunkelgraue Gemäuer, vollgeschmiert mit Parolen. Überall roch es nach Kotze, Urin und Bier. Und das noch vor den Eingängen. Ging man rein, konnte man oft gar nichts mehr sehen, so dicht hing der Qualm in der Luft. Entweder von Kippen oder vom Kiffen. Und man durfte auf keinen Fall zu tief einatmen, sonst hätte man sich direkt übergeben müssen. Manche Punks, auf die man traf, wollten einem zur Begrüßung ins Gesicht spucken. Jedenfalls erzählte man sich das. Erlebte ich selbst aber nie. Das hätte direkt aufs Maul gegeben. In einem Haus, das eigentlich mehr einer alten Lagerhalle glich, war eine winzig kleine Bühne aufgebaut, auf der wir mit den Onkelz auch später mal spielen sollten. Meist unfreiwillig für diejenigen, die die kleinen Konzerte organisierten. Man wollte uns ja nirgendwo dabeihaben, also mussten wir uns die paar Songs, die wir live spielen wollten, erpressen. Das kam öfter vor. Jedenfalls hingen ein paar provisorische Lampen über der Bühne, hinten standen ein, zwei Couchgarnituren herum, um sich ein bisschen auszuruhen. Und nach einem Konzert, ich hatte zwischenzeitlich sehr gut getankt, wollte ich mich auf beschriebener Couch ein bisschen hinlegen. Aus dem ‚ein bisschen‘ wurde offensichtlich ein bisschen länger, denn als ich aufgewacht bin, war es bereits mitten in der Nacht. Keiner war mehr anzutreffen, alles war stockdunkel, alles war total leer. Müde und völlig dicht, wie ich war, bin ich dann so im Dunkeln durch die Gegend geklettert, habe mal ein Stockwerk höher geguckt, was da so los ist, und tastete mich da vor. Ich konnte lautes Schnarchen vernehmen und irgendwas unter meinen Füßen. Matratzen. Ein Glück. Also habe ich mich dann dort auch hingelegt. Mir war echt schwindelig vom Saufen. Und irgendwann, es muss schon die Sonne aufgegangen sein, guckte ich mit halbgeöffneten Augen einen Typen an, der mir gefährlich nahe auf die Pelle gerückt kam. Ehe der Kerl, der zu den ‚Spontis‘ gehörte, die dort immer rumlungerten, auch nur einen Mucks von sich geben konnte, zog ich mein Springmesser aus meiner Hosentasche, das ich damals immer mit mir geführt habe, und fuchtelte damit etwas unkoordiniert vor ihm herum. Ein, zwei Backpfeifen später lief er dann auch wieder dorthin zurück, von wo er herkam. Ich weiß noch, dass er mich beim Wegrennen aufs Übelste beleidigt hat.“

„Die Spontis“, so erklärt Matthias, „waren wenig zimperlich. Wenn du einem quergekommen bist, dem dein Gesicht oder deine Klamotten nicht gepasst haben, hast du direkt eins auf die Nase bekommen. Und das war ja auch nur eine von ganz vielen Gruppierungen, die gern mal Stress gesucht haben.“

Das JUZ Bockenheim beherbergte keine Haus-, Fabrik-, oder Wohnungsbesetzer. Spontis und andere radikale linke Grüppchen hielten sich dort nicht auf. Das heruntergekommene Gebäude, in fast unmittelbarer Nähe zur Messe und Festhalle, war, neben der Batschkapp, der Tempel der ansässigen Punks dort. Es mochte wenige vergleichbar einflussreiche Lokalitäten im gesamten Bundesgebiet gegeben haben – vom Ratinger Hof in Düsseldorf einmal abgesehen, der einen ähnlichen Kultstatus besaß wie diese beiden Spielstätten jugendlichen Irrsinns am Main. Speziell in der Batschkapp, die unter der Leitung des jungen, engagierten Ralf Scheffler stand, spielten schon früh in den Achtzigern die Besten ihrer Szene.

Matthias und Heiko waren auf einer Mission. Eine Station nach der Messe stiegen die beiden aus. Exakt so, wie es ihnen von diesem Stephan und seinem schweigsamen, hart nach Assi-Punk aussehenden Freund erklärt wurde. Und tatsächlich: Direkt auf der anderen Straßenseite konnte man laute Musik, tosendes Gelächter, frenetisches Gebrüll und ekstatisches Geschrei vernehmen. Sie waren richtig!

Dass ihnen diese Bastion der Narretei bislang verborgen geblieben war, verstanden die zwei Jungs nicht. Hier, im Jugendzentrum Bockenheim, war alles so viel echter und lebendiger als in Sachsenhausen. Es gab keine Regeln. Nichts, was einer Integration junger, motivierter Punks im Wege stand. Und als Matthias und Heiko ein paar Bierleichen umschifften, die nur noch vor sich hin sabbern konnten, klatschten sie zur Begrüßung mit wildfremden Bunthaarigen ab, währenddessen drinnen Kreppelkaffee spielte. Eine von zwei unvorstellbar ranzig schlechten Bands des Abends (die andere hieß Mutation und hatte ihr Set bereits beendet), die so mies waren, dass man praktisch ohne Umwege und Nachdenken direkt zum Bier griff, um sich diesen Krach schönzusaufen.

Überall stank es. Nach Urin und Erbrochenem. Nach Bier und Schweiß. Was unmittelbar auffiel, war die geile Beschaffenheit des Gebäudes. Eigentlich, so war es jedenfalls ursprünglich mal angedacht, hätten hier Beamte ihren Dienst verrichten sollen. Irgendwo im angrenzenden Altbau sollten Akten gewälzt und Papiere sortiert werden. Ein Altbau, der langsam vor sich hin schimmelte, dessen Bausubstanz immer poröser wurde und um den ganz sicher jeder Staatsdiener aus ganz Frankfurt einen großen Bogen machte, sobald er ihn sah.

Das eigentliche Jugendzentrum befand sich im ersten Stock dieses Gebäudeteils, nur interessierte das niemanden. Jeder nahm sich das Stück des Hauses, das ihm am besten gefiel. Und so glich das JUZ schon 1981 eher einer dieser Ruinen aus den vielen Endzeit-Streifen, die zu jener Zeit total populär waren. Es hätte niemanden gewundert, wenn irgendwann Mel „Mad Max“ Gibson einmarschiert wäre, um sich ein bisschen vom Straßen- und Häuserkampf zu regenerieren.

Es war Winter, daher hatte der kleine Vorhof des Jugendzentrums Bockenheim nicht die Anziehungskraft auf seine Gäste, die er sonst ab den ersten milderen Temperaturen im frühen Frühling ausübte. Dennoch blieb er Matthias schon bei dessen erstem Besuch nicht verborgen. Vor seinem inneren Auge konnte er förmlich sehen, wie dort, sobald die Luft wärmer wurde, gegrillt und gegrölt wurde. Wie sehr das die Anwohner und Fußgänger nerven und wie wenig das die Punks hier kratzen würde. Matthias grinste. Das war genau der Platz, an dem er sein wollte.

Jesus, endlich zuhause.

Heiko fühlte sich ebenfalls sofort wohl. Zusammen gingen sie an die Theke, bestellten zwei große Bier (Eine Mark zwanzig!) und schauten dem Treiben gespannt zu.

„Das hier ist geil“, sagte Heiko.

Matthias nickte. Das war nicht nur geil, das war verdammt noch mal das Obergeilste, das er bislang zu Gesicht bekommen hatte, und er hatte schon in verdammt teuren Villen auf verdammt teure Teppiche gekotzt.

Das JUZ toppte alles. Schon nach fünfzehn Minuten des Umherlaufens, Abcheckens und Rumguckens konnte er das festhalten. Hier, so war er sich fast umgehend sicher, würden sie endlich das finden, wonach sie die ganzen letzten Monate gesucht hatten.

Während auf der Bühne, die kleinere Ausmaße als manch Wohnzimmer besaß, gerade ein „Line-up“-Wechsel im Gange war und man alles für die nächste „Band“ vorbereitete, ließ er seine Blicke durch die Räumlichkeiten schweifen. Er sah viele Parolen, gesprüht auf alle Wände.

No Futur!!!! Fickt das Systehm!!! Alle Bullen raus! Nazis: Umlegen! Hippie-Schweine!

Mal mit vielen Fehlern, mal mit wenigen, selten ohne. Bizarre meterhohe Kunstwerke aus der Spraydose buhlten um die Aufmerksamkeit des Betrachters. Ein Strichmännchen mit einem Hodensack, so groß und prall, dass er den Boden berührte. Durchgestrichene Swastika, Phallussymbole und Mittelfinger.

Witziger noch als die vielen Schmierereien und als die tobende Meute waren die Sozialarbeiter, die man nun wirklich direkt auf den ersten Blick erkennen konnte. Das waren die einzigen Personen im JUZ, die offenkundig so überhaupt keinen Spaß hatten. Sie hielten nach minderjährigen Kids Ausschau, auf die sie unter der Woche ein Auge hatten. Jugendliche, die sich jetzt, am Wochenende, allen guten Vorsätzen, Bewährungsauflagen und sonstigen Ratschlägen zum Trotz benahmen wie die Axt im Walde. Hastig taumelten dann die langhaarigen, Jeanshosen und Flanellhemden tragenden „Sozis“ mit schweißnasser Stirn und panischem Gesichtsausdruck durch die Reihen des jugendlichen Treibens, um die Teens vor noch größeren Dummheiten zu bewahren.

Matthias und Heiko hatten unfassbar viel Spaß an dieser ganzen Kulisse. Hier, im JUZ an der Varrentrappstraße in Frankfurt Bockenheim, waren alle aus einem Holz geschnitzt. Es musste niemand Angst haben, aufs Maul zu bekommen. Außer, es gehörte zum Spaß dazu, dass man sich gegenseitig schlug. Aber es gab keine Gangs, die den Punks hier ans Leder wollten. Keine Türken- oder Marokkanerbanden, von denen sie immer wieder in freier Wildbahn gejagt wurden. Keine Hippies, Spontis oder Popper. Hier waren alle gleich.

Gleich vorlaut.

Gleich asozial.

Gleichermaßen wertvoll und wertlos.

Gleich punk.

Eine kleine Gruppe aus fünf bis sechs Gästen versammelte sich neben ihnen. Sie bestellten jeweils zwei Bier, die sie fast in einem Zug weggossen, und standen dann einfach in der Gegend rum. Offenbar warteten sie auf die nächste Band, die sich anschickte, den Laden zu unterhalten. Es war inzwischen fast 23 Uhr. Konzerte im JUZ durften nicht länger gehen als bis Mitternacht. Danach musste unweigerlich die letzte Gruppe ihre Instrumente zusammengepackt und der letzte Punk sein Getränk ausgetrunken haben, so verlangte es das Jugendschutzgesetz. Allein bei diesem sich schwer nach deutscher Bürokratie anhörenden Wort bekamen die Kids der Stadt Pickel und Pusteln.

Die kleine Punkergruppe bemerkte Matthias und Heiko relativ schnell, prostete ihnen zu und gestikulierte in ihre Richtung schnell etwas, das wohl nur: Gleich geht’s los, macht euch bereit bedeuten konnte. Röhr tippte einem der Jungs auf die Schulter.

 

„Was ʼn los?“

„Wer spielt als Nächstes?“, fragte Matthias.

„Dein Ernst?“

Erst jetzt sah Matthias, dass der Punk, mit dem er sich gerade „unterhielt“, sehr jung aussah. Deutlich jünger als der Rest.

„Wir sind das erste Mal hier“, sagte Matthias.

„Oukay! Verstehe. Gleich kommen die ‚Bösen Onkels‘. Haben heute ihre Feuertaufe, scheißen sich bestimmt schon ihre Hosen voll. Das wird lustig.“

Um kurz nach 23 Uhr betraten dann diese drei Typen die Bühne, die sich selbst also „Böse Onkels“ nannten und auf dem Plakat als „Böhze Onkelzs“ angekündigt waren. Sie warfen zur Begrüßung volle Becks-Dosen in die Meute, schüttelten Hände, und dann zählte der Drummer den Takt an.

Es ging los.

Himmel, es war grauenhaft. Das war Krach.

Krach, dessen Ursprung in ganz viel Wut liegen musste. Jener Lärm aber erzeugte direkt Energie. Kraft, die von den drei Jungs dort oben ausging und die direkt auf Matthias und Heiko übersprang.

Und, heiliger Strohsack – aber bei dem Gitarristen und dem Bassisten, der auch gleichzeitig „sang“ (das Instrument war anscheinend nur Staffage, spielen konnte er damit nicht), handelte es sich um genau die beiden Punks, die Heiko und Matthias noch vor einigen Stunden an der Straßenbahnhaltestelle getroffen hatten: Stephan „Pennermantel“ (Gitarre) und der andere Typ da (Gesang und Bass) mit seinen grünen Haaren und der Lederjacke voller selbstgebastelter Einschusslöcher und Patches. Matthias wurde klar, dass sie die beste aller Entscheidungen getroffen hatten.

An diesem Abend Sachsenhausen den Rücken zu kehren und nach Bockenheim zu fahren, war goldrichtig. Spätestens, als er die „Böhzen Onkelzs“ dort stehen und „spielen“ sah, hoffte er, dass dies der erste von weiteren, nie enden wollenden Spaßabenden würde.

Das Publikum ging ab. Keiner kannte auch nur einen Song dieser jungen, gerade flügge gewordenen Punkband, aber deren Rohheit und Aggressionen übertrugen sich fast synchron auf die (inzwischen reichlich besoffenen) Punks des JUZ.

Matthias verstand nicht viel Text. Er bekam flüchtig mit, dass es bei dem ersten „Lied“, das eigentlich nur aus einer schnell herausgeschrienen Zeile bestand, um Türken ging. Und darum, dass sie sich gefälligst aus Deutschland verpissen sollten. Warum, blieb vorerst noch im Verborgenen.

Dann wurde noch „Mehr Pogo!“ gefordert, aber ob das eine Ansage inmitten eines anderen Songs war oder ob der Song „Mehr Pogo!“ hieß, blieb das Geheimnis der drei Jungs auf der Bühne.

Die Fünfergruppe vor Matthias pogte jedenfalls auf Geheiß der Band während aller Lieder, als ginge es um deren Seelen. Während der Pausen machten Stephan und der Sänger „Ansagen“, dass doch bitte alle Besucher Spaß haben sollten. Dass alle saufen und besoffen sein sollten.

Die fünf Punks stellten sich Gonzo und Heiko vor. Einer klatschte ab und nannte sich „Sittenstrolch“, ein andere war „Kuchen“. Der, der am krassesten aussah, gab sich den vielversprechenden Namen „Körperfresser“, und der junge Typ, dem Matthias kurz vorher auf die Schulter getippt hatte, war „Kid“. Dann wurde weiter gepogt.

Stephan „Pennermantel“ würgte die schrägsten Klänge aus seiner Gitarre. Matthias verzog hin und wieder eine Augenbraue. Immer dann, wenn der gespielte Ton beinahe drauf und dran war, die Biergläser zerspringen zu lassen. Anschließend grinste er.

Der grünhaarige Sänger, der Kevin hieß (so viel hatten sie inzwischen selbst herausgefunden), würgte zuerst die Liedtexte hervor, deren Worte er tief aus den Innereien seines Körpers nach oben holte und an die Luft ließ, und erbrach sie dann buchstäblich auf der Bühne. Mit hochrotem Kopf schrie er um sein gottverdammtes Leben.

Er quälte sich, malträtierte seine Stimmbänder und rülpste die übelsten Laute, zu denen ein junger Mann im Stande war. Entweder, so dachte Matthias, war er extrem nervös und versuchte, seine Aufregung durch viel Lamento zu überspielen, oder er war verrückt.

Die Show war nach einer guten Dreiviertelstunde beendet. Das Set war gespielt, die Meute glücklich. Doch niemand hatte ernsthaftes Interesse daran, die Heimreise anzutreten. Im Gegenteil.

Matthias, Heiko, Kevin, Stephan und der Schlagzeuger Pe standen noch, zusammen mit einer kleinen Zahl weiterer Punks, gemeinsam draußen in der klirrenden Kälte und teilten sich Kippen, Dosenbier und ihre Gedanken über den gelaufenen Abend. Das Eis zwischen Matthias Röhr und den drei Onkelz brach relativ schnell.

„Wir haben uns heute an der Haltestelle gesehen, ich erinnere mich an dich“, sagte Stephan, und Matthias nickte.

Man unterhielt sich lange und ausgedehnt über das JUZ und über die Szene. Über die besten Bands und die besten Platten. Man trank und trank, man trat Straßenlaternen aus, zog weiter, soff weiter, und ehe man sich versah, war es mitten in der Nacht.

Alles an Matthias weigerte sich, zurück nach Bonames zu fahren. Er wäre am liebsten hiergeblieben, im JUZ, mit Heiko und den ganzen anderen Typen und Mädels, die er heute kennengelernt hatte, aber es gab keine andere Wahl. Im nächsten Jahr würde er zwanzig, und die Lehre als Universalfräser, die er nach dem Rausschmiss aus der Eichendorffschule begonnen hatte, war noch nicht beendet.

Er konnte jetzt nicht einfach mitten in dieser Metropole herumlungern und sich irgendwie verdingen. Er musste „nach Hause“. Und dafür bedurfte es wohl leider auch des Umstandes, sein neues Zuhause vorübergehend zu verlassen.

Heiko erging es ähnlich. Auch wenn er in Schwalbach am Taunus wohnte, das nun sicher nicht als problematischer Vorort galt, war es ihm ein Leichtes, die Wut seines Arbeitskollegen und Freundes Matthias Röhr nachzuvollziehen.

„Wir gründen eine Band“, sagte Matthias auf dem Rückweg zu Heiko. „Du und ich. Und mit Frankie. Gott ist mein Zeuge: Wir werden dort im JUZ auftreten. Und wenn die Assis dort dachten, sie hätten heute mit diesen Onkelz ihre krasseste Erfahrung gemacht, dann werden sie sich wundern. Hast du verstanden?“

Heiko nickte und war praktisch vom Fleck weg Feuer und Flamme für die Idee.

Sinner gab es zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. Der große Erfolg blieb aus, ebenso eine generelle Wahrnehmung in der Punk-Szene, zu der die Band im Kern eigentlich auch nie gehört hatte. Eine neue Band(e) musste her. Eine, die es in Sachen Authentizität mit jeder Punk-Gruppe aufnehmen konnte, die es in Frankfurt und Umgebung gab. Kreppelkaffee? Haha, guter Witz. Mutation? Hör bloß auf. Böhze Onkelzs? Okay, gut. Die waren zwar schlecht, aber besaßen immerhin ein sehr gesundes Maß an Wahnsinn, das Matthias schon am ersten Abend beeindruckte. Nein, spielerisches Können sollte der Attitüde und Glaubwürdigkeit nicht im Wege stehen, lautete sein Credo.

Noch während Matthias „Gonzo“ Röhr in der Bahn saß, die ihn zurück zum Ben-Gurion-Ring brachte (und bei dessen Anblick es ihm – besonders spät nachts – wieder einmal eiskalt den Rücken herunterlief), hatte er nicht nur das Line-up der neuen Band zusammengestellt, sondern auch einen Namen. Der kam einfach angeflogen, genauso wie damals, als er die Band mit Norbert und ihm Headliner nannte, und als der neue Name in seinen Schaltkreis eindrang, war es klar, dass er seine Band so nennen musste.

Ladys and Gentlemen, verehrte Gäste: Bitte applaudieren sie für die Punk-Sensation der Stunde; für die vielleicht beste Nachwuchsband aus Frankfurt: Antikörper!

Antikörper waren eine ganz junge Gruppe. Ein Trio Infernale, dessen Bestreben es war, ernst genommen zu werden. Neue Bands aber hatten es nicht immer leicht in Frankfurt. Wollte man zu viel auf einmal, konnte man auch böse auf die Fresse fallen. Gab man sich zu selbstbewusst, wurde einem das schnell als Übermut, oder schlimmer, als Arroganz ausgelegt.

Ein Kardinalfehler. Überheblichkeit war innerhalb der Punk-Szene extrem verpönt. In anderen Städten noch viel krasser. In Düsseldorf und im Ruhrgebiet gab es Bands, deren größter Albtraum darin bestand, „Rockstars“ zu werden.

Punk war laut deren Auffassung die Begegnung mit dem Publikum auf Augenhöhe. Sonnenbrillen gingen nicht, und exzentrische Verhaltensweisen gingen noch weniger. In Frankfurt war man etwas lockerer. Man sagt dem gemeinen Hessen ja nun auch nicht komplett grundlos eine gewisse „genetische“ Arroganz und Übellaunigkeit nach. Ein Klischee, das natürlich Quatsch, aber irgendwie auch nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Jedenfalls dann nicht, wenn man sich länger als einen Augenblick lang mit der Szene am Main beschäftigte.

Insofern begegnete man Matthias, Heiko und Frankie Frosch auch erst mal mit dem üblichen Naserümpfen, als die Punks im JUZ Wind von Antikörper bekamen.

Hier, Alter … Warum denn noch eine Band, die nix kann? Diese Art der Ablehnung war aber schneller passé, als man gucken konnte. Nachdem auch die letzte Leder- und Nietenjacke begriff, dass Antikörper was konnten, und als der letzte Irokese erkannt hatte, welchen absurd guten Gitarristen sie da in den eigenen Reihen begrüßen durften, stand der Integration Röhrs als ernst zu nehmendem Punk mit Instrument und eigener Band überhaupt nichts mehr im Wege.

Gonzo packte der Ehrgeiz. Jetzt wollte er es wissen. Die Leidenschaft an den Saiten, sein Können und das Wissen über den musikalischen und menschlichen Background von Hunderten Musikern, die er verehrte, machten ihn schnell zu einer gefragten Figur innerhalb der Frankfurter Szene. Eine Subkultur, die nun vollends an den Lippen der großen englischen Bands und ihrer lokalen Helden hing. Dennoch sollten die Idee und der Traum, Antikörper über die Kaschemmen Frankfurts hinaus bekannt zu machen, nur wenige Woche anhalten.

Matthias selbst begann ab Mitte des Jahres 1981 immer mehr, wie Sid ­Vicious auszusehen. Ähnliche Stiefel, ähnliche Frisur, und, natürlich, ein ähnliches Fahrradschloss um den Hals. Außerdem trug er mindestens die gleiche Liebe zum Punk im Herzen wie das große Vorbild aus dem Königreich, das eigentlich kein richtiges Idol sein wollte.

Es dauerte nur ein paar Tage, da hatte Matthias das Dachgeschoss des JUZ für sich und seine Jungs klargemacht.

„Ah, du willst hier üben? Na gut, also von mir aus …“, sagte die Hausleitung.

Ein alter, aber im Herzen recht unangepasster Typ aus dem „Management“ des JUZ hatte Röhrs Wunsch abgenickt. Schon einen Tag später fuhr Matthias nach der Fräsarbeit zum Jugendzentrum.

Als er den Schlüssel für das Dachgeschoss erhielt, musste er sich kurz kneifen. Das fühlte sich fast zu schön an, um wahr zu sein. Dort oben stand noch ein bisschen Gerümpel. Eine alte Couch, abgesessen und vermutlich stiller Zeuge von allerlei merkwürdigen Dingen, die auf ihr passiert waren, ein paar Regale mit alten Schallplatten und Dekorationen, die das Wort Kitsch nicht verdient hatten, so scheußlich und altbacken war der Plunder dort drin, und viele Kisten mit, nun ja, Zeug.

Ein Teppichboden dämpfte die Schritte ab, die man oben tat, hatte aber seine besten Zeiten ebenfalls schon lange hinter sich. Egal, das störte Matthias nicht. Im Gegenteil. Er hing ein paar Poster auf (Sex Pistols, Mad Max, The Clash und das Plakat des JUZ zum ersten Auftritt der Onkelz) und dekorierte, zusammen mit Heiko und Frankie, den Dachboden.

Da stand anschließend eine alte, schwerstens abgeblätterte Piraten-Schatzkiste aus Holz mit gusseisernen Beschlägen. Eine Truhe von der Sorte, die damals völlig aus der Mode geraten war und heute, aufgrund ihres schicken Vintage-Styles, vermutlich eine ganze Stange Geld kosten würde. In ihr wurden die besten Platten des Universums verstaut. Darauf wartend, irgendwann auf den Plattenspieler gelegt zu werden.

Stereoboxen, die gut klangen, und solide Amps rundeten das Bild ab, das bei genauerem Hinsehen immer mehr wie der Probe- und Abhängraum von Antikörper aussah.

Gäste ausdrücklich willkommen und Lärmschutz tragen! Hier gibt’s Krach konnte man auf DIN A3, in riesengroßen Lettern geschrieben, mit fetten roten Ausrufezeichen verstärkt, an der Zimmerdecke lesen.

Wandteppiche, ein kleiner roter Reisekühlschrank, in dem immer nur Bier und sonst nichts zu finden war, eine alte Kaffeemaschine und ein Sparschwein, mit dem man gemeinsam für neues Equipment sparte. Das war alles. Und es reichte mindestens für ein Leben.

Schon am ersten Abend stöpselte Matthias seine Gitarre in den Verstärker, den er in die Ecke des etwa dreißig Quadratmeter großen Dachbodens stellte, und spielte die ersten Töne im neuen „Zuhause“.

Was für ein grandioses Gefühl! Endlich nicht nur eine Herberge für die eigenen Träume, Sehnsüchte, Wünsche, sondern auch noch einen eigenen Raum zum Proben, Saufen und Rumhängen zu haben. Eine eigene kreative Schaltzentrale. Von hier aus, dessen war er sich sicher, würde erst Frankfurt und danach die ganze Welt von Antikörper überrannt werden.

 

Keine zwölf Wochen später war er Bassist bei den Onkelz!

Der Leitung des Jugendzentrums war es im Grunde genommen mittlerweile scheißegal, was sich in diesen vier Wänden dort allabendlich abspielte. Lief es gut und es fanden keine Konzerte statt, wurden von den dortigen Punks nur der Kicker oder die Theke in Beschlag genommen. Wurde es aber ernst und eine oder mehrere Bands traten auf, dann war die einzige Frage, die Relevanz besaß: Wie schlimm würde es diesmal?

Und spielten noch zu allem Überfluss die „Big 2“ im JUZ, dann konnte die Antwort auf die Frage eigentlich nur „maximal vorstellbare Zerstörung“ lauten.

Die „Big 2“ des Jugendzentrums Bockenheim waren Böhze Onkelzs und – am wichtigsten – Middle Class Fantasies.

Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass MCF die absolute Pflichtband der Frankfurter Punkbewegung war. Glaubwürdigkeit, Härte, Asozialität. Das alles kombinierten die Jungs um Sänger Christoph Schnee zu einem einzigartigen Punk-Brei.

Doch neben ihrer Straßen-Kredibilität und musikalischen Qualität gab es auch noch ein anderes Alleinstellungsmerkmal, das auch Matthias an den „Mittelstands-Fantasien“ faszinierte: Deren Texte besaßen Anspruch, waren intelligent und doppelzüngig. Und die Instrumentierung der Songs war auf einem Niveau, an das keine andere Band aus Frankfurt, selbst mit ausgestreckten Armen und geballten Fäusten, heranreichte.

Ein weiterer Punkt, der Middle Class Fantasies so populär machte, war die Tatsache, dass die Band praktisch im JUZ ein Konzert nach dem anderen abzog. Fast jedes Wochenende standen Christoph Schnee, sein Bruder Markus (Bass), Sören Todt (Gitarre) und Topsy GI (Drums) auf der Bühne in Bockenheim und spielten, spielten, spielten. Ihre Stücke waren schnell, oft mit treibender Gitarre oder fettem Basslauf am Anfang, ehe Christophs hohe Stimme zu klagen begann. Zeitkritisch, provokant, das Establishment ablehnend, und immer mindestens fünf Finger in die Wunde des sich selbst in den Arsch beißenden Nachkriegsdeutschlands legend, avancierten Middle Class Fantasies binnen weniger Monate zum Geheimtipp in Frankfurt. Und wenig später zum „Shooting Star“ des punkigen Undergrounds in ganz Westdeutschland.

Dein Dienst fürs Vaterland

Dein Dienst für Vater Staat

Sie geben dir die Waffen

Dein Mord erhält sie an der Macht.

Das Volk verlangt nach Härte

Ihre kleinen Hirne voller Kacke

Sagen nur, was man ihnen sagt

Sie wollen Blut, sie wollen Rache.

Helden in blutigen Uniformen

Helden zum Töten geboren …

(Middle Class Fantasies – „Helden“)

Die Kirche schreit – der Papst gibt Segen,

nur ein Christ hat das Recht zu leben.

Dein Reich, mein Reich, drittes Reich –

Für Kreuz und Vaterland da wolln sie sterben.

Christ-Soldat und Hitlers Erben,

die Suppe stinkt nach alter Scheiße …

(Middle Class Fantasies – „Tradition“)

Überall begegnete man der Band mit Respekt und Anerkennung für das, was sie musikalisch und inhaltlich zustande brachte. Ihr Ruf, feinsten Punk zu spielen, eilte MCF voraus und brachte die Gebrüder Schnee schnell mit wichtigen Personen der Underground-Plattenszene in Kontakt, von denen nicht wenige die Band auf ihren Labels wollten.

Ein gewisser Karl-Ulrich Walterbach sicherte sich „Helden“ und „Publikum“ für den ersten Soundtracks zum Untergang- Sampler, der wenig später genau wegen „Helden“ und eines Songs der Hamburger Band Slime indiziert werden sollte.

Jedenfalls gab es kaum ein Konzert von Middle Class Fantasies, das sich Matthias entgehen ließ. Und oft wurde vorher noch zusammen mit Christoph, Markus und Sören von MCF, Kevin, Stephan und Pe von den Onkelz und dem ganzen anderen „Gesindel“ der Szene, mit Hofnarr, Kuchen, Sittenstrolch, Monoton und Körperfresser, gesoffen und gewetteifert. Darüber, wer die bessere Band war und warum. Darüber, welche Pornodarstellerin die geilsten Titten hatte, und überhaupt, welches Mädchen zuletzt gebumst wurde.

Es wurde gelacht, es wurden derbe und noch derbere Witze gerissen, und es bildeten sich schon nach kurzer Zeit enge Freundschaften.

Speziell angetan hatten es Matthias die drei Onkelz. Stephan, Kevin und Peter besaßen verdammt viel Ausstrahlung. Jeder auf seine ureigene Art und Weise. So viel, dass er sich insgesamt nicht nur einmal wünschte, seine Band hätte eine ähnlich wahnsinnige Aura wie diese drei Jungs.

Drei Jungs aus Hösbach bei Aschaffenburg. So viel hatte er mitbekommen. Und auch, dass die Gründung der Böhzen Onkelzs nicht mal ein Jahr zurücklag.

War das zu glauben? Diese frechen Assis spielten gerade erst ein paar Monate in der Band und hatten schon den Punk derart verinnerlicht, dass es fast unheimlich wirken konnte. Seine neuen Freunde waren Gold wert. Das spürte Matthias sehr gut.

Die unbeschwerte Zeit brach an!

Natürlich, immer dann, wenn genügend Bier oder Schnaps flossen und ausreichend Kippen geraucht wurden, erfüllte das Dachgeschoss des JUZ seine eigentliche Bestimmung: Antikörper begannen zu proben.

Hatte sich Matthias beim Kennenlernen von Stephan, Peter und Kevin noch gefühlt, als träfe er hier die geilsten Figuren des Planeten, waren es jetzt die drei Ur-Onkelz, die sich wunderten und die bunthaarigen Köpfe kratzten.

Gütiger Gott im Himmel, konnte dieser Gonzo-Typ Gitarre spielen! Dieser krasse Matthias Röhr, gerade mal neunzehn Jahre jung, beherrschte nahezu alle Sex-Pistols-Songs fehlerfrei.

Und nicht nur nachspielen konnte er sie, heilige Scheiße, er interpretierte die Lieder auch noch frei nach „Gonzo-Art“. Matthias baute Soli ein, machte hier ein Riff geiler, schob die Tonleiter da rauf und hier wieder runter und spielte die anwesenden Punks mit seinen Versionen der größten Pistols-Hits spürbar schwindelig.

Matthias erinnert sich: „Ach ja, der Dachboden des JUZ. Was für eine geile, unbeschwerte Zeit. Überhaupt, alles, was generell im JUZ passiert ist, sorgt auch heute noch dafür, dass mir ein wohliger Schauer über den Rücken läuft, sobald ich daran denke. Auch die, naja, ich nenne sie jetzt mal ‚Bands‘, die dort aufgetreten sind, waren irgendwie geil. Kreppelkaffee und Konsorten. Hofnarr war bei denen der Boss. Der hatte das Sagen. Aber es war eigentlich die völlige Bühnen-Anarchie. Das hatte ja weniger mit einer richtigen Konzert-Performance zu tun, das war ja schon fast eher Comedy. Die haben zwischendurch mal ein Lied gespielt, dann gab es eine Pause, dann wurde das Lied einfach wieder von vorne angefangen. Es wurden mittendrin Witze gemacht, man hat ins Publikum gespuckt, auf die Bühne gerotzt. Der berühmteste Kreppelkaffee-Song war das ‚Meisterwerk‘ ‚Teppich runter!‘. Das war einfach nur das – in ein paar schlechte Noten gekleidete – Runterreißen des Flokatis, der als Backdrop der Band gedient hatte. Fast schon eine Kunstperformance. Heute wäre es das ganz sicher.

Middle Class Fantasies waren anders. Die konnten was, fast alle anderen konnten nichts. Ich erinnere mich auch gut daran, dass wir mit Christoph und Markus Reisen nach Berlin unternommen haben, wenn die dort einen Auftritt hatten. Oder dass unser Stephan gern mal bei ihren Auftritten die Bühne geentert und deren Songs mitgesungen hat.

Ganz egal, ob die das wollten. Das war Spaß. Das hat sich so richtig nach Leben angefühlt. Wir mochten die Jungs sehr. Super sympathisch.

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