Gonzo

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Die Röhrs waren eine große Familie. Der Opa und die Oma väterlicherseits lebten in Frankfurt-Westhausen. Der Großvater war Zöllner gewesen. Ein Beruf, der es ihm und seiner Gattin ermöglichte, eine nagelneue Dienstwohnung zu beziehen. Auch wenn es nur drei knapp bemessene Zimmer gab, so war die Wohnung ein echter Glücksfall und in den Nachkriegsjahren keine Selbstverständlichkeit des Mittelstandes.

An den Wochenenden bewirtschafteten beide zwei Kleingärten einer Gartenkolonie. Genau dort, wo heute das Rödelheimer Autobahnkreuz entlangführt. In einem Garten gab es so ziemlich alle Früchte, die man auf heimischem Boden ernten konnte, und im anderen eine große Scheune, in der Kleinvieh untergebracht war.

Die Familie von Matthiasʼ Vater bestand neben ihm noch aus zwei weiteren Söhnen und einer Tochter. Alle vier hatten später fast zu selben Zeit geheiratet und wurden wiederum, im Abstand von wenigen Jahren, ihrerseits Eltern. Daraus entstand eine Gruppe nahezu gleichaltriger Jungen und Mädchen, die sich regelmäßig bei Oma und Opa zuhause oder im Garten trafen. Während die Frauen gemeinsam kochten, die Väter im Wohnzimmer saßen und ihr Bier tranken, spielten die Kinder zusammen nebenan. Es war ein bisschen so wie im Lied „Haus am See“ von Peter Fox.

Regelmäßiges Schlachten der herangezüchteten Karnickel gehörte genauso zum familiären Leben wie die Karnickelpfote, die Matthias von seiner Oma als „Glücksbringer“ in die Hand gedrückt bekam.

Um das familiäre Dickicht besser durchschreiten und deren Mitglieder einigermaßen auseinanderhalten zu können, hatten Matthias und seine Brüder die jeweiligen Omas und Opas nach Wohnorten unterteilt. Die „Rödelheim-Oma“ war Helena Röhr, geborene Jakubowsky. Die Großmutter mütterlicherseits wurde liebevoll „Zeilsheim-Oma“ genannt.

Eines Tages brachte es die „Zeilsheimer-Oma“ fertig, Matthias für drei Wochen zu „kidnappen“. Dass er darauf so gar keine Lust hatte, störte seine Granny herzlich wenig. Aus welchem Antrieb es geschah, weiß er bis heute nicht genau. Vermutlich mochte es die Oma gestört haben, dass der Junge, ihrer Meinung nach, nichts von seiner Mutter hatte. Oder aber ihre Motivation rührte von ganz anderen Dingen her. Vielleicht traute sie ihrem Schwiegersohn und ihrer Tochter zu wenig zu? Oder sie befand, dass die Familie mit den beiden anderen Söhnen schon schwer genug zu schuften hatte. Die Auflösung dieses Rätsels blieb jedenfalls für immer ein Geheimnis.

Matthiasʼ Vater und seine Mutter hatten große Mühe, ihren Sohn wieder mit nach Hause nehmen zu dürfen. Die Oma wollte das Kind partout nicht hergeben und lenkte nur durch jede Menge gutes Zureden ihrer Tochter ein. Das Ganze zog familiär derart große Kreise, dass das Verhältnis zwischen der „Zeilsheim-Oma“ nebst Familie und der „Rödelheim-Oma“ nebst Familie fortan zerrüttet war. Keine Entschuldigung konnte dieses Zerwürfnis wieder geradebiegen. Fortan sahen alle Röhr-Söhne ihre Großmutter nur noch sehr selten.

Matthias war in der Grundschule ein guter Schüler. Seine damaligen Zeugnisse schmückten fast ausschließlich Bestnoten. Zensuren, die darauf zurückzuführen waren, dass er die Schule noch sehr ernst nahm. Gewissenhaft und fokussiert lernte er die ersten Jahre seiner schulischen Laufbahn all das, was von ihm verlangt wurde. Und er hörte auch noch zu.

So gut, dass Matthias einst gar als einziger Schüler die Anweisungen seiner Lehrerin verstand. Eine Mitteilung, die ganz klar besagte, dass der Unterricht am darauffolgenden Tag erst um zehn, statt um acht Uhr beginnen würde. Matthias tat, wie ihm geheißen, und betrat um Punkt zehn das Klassenzimmer. Doch, und bei dem Anblick wurde ihm kurz übel, war selbiges schon bis auf den letzten Platz mit seinen Mitschülern gefüllt. Alle Augen richteten sich auf ihn. Getuschel von Klaus-Peter, hinter vorgehaltener Hand lautes Gekicher von Andrea und Daniela.

Kurz bevor Matthias im Erdboden versinken konnte, nahm ihn Fräulein Meier in den Arm und versicherte ihm, dass er offenbar der Einzige sei, der ihr richtig zugehört habe. All seine Klassenkameraden seien hingegen schon um acht Uhr erschienen. Das war ein Rampenlicht, in dem er dort stand, das ihm ganz und gar nicht schmeckte.

Nach dem Umzug seiner Eltern und dem dazugehörigen Schulwechsel von Eschborn auf die Kelkheimer Pestalozzischule in der zweiten Klasse hatte er seinen ersten großen Auftritt. Ein Umstand, den er seiner Mutter zu verdanken hatte.

Frau Röhr hatte als gelernte Schneiderin zwar ein Auge für Kleidung, verfehlte an jenem Tag jedoch den üblichen Klamottenstil der Kelkheimer Grundschule um Längen, indem sie Matthias an seinem ersten Schultag in der neuen Schule mit Anzug und Krawatte dorthin schickte. Was das für ein achtjähriges Kind bedeutete, das dringend Anschluss suchte, kann man sich mit wenig Phantasie ausmalen.

Baldo Bauer, seines Zeichens Klassenstärkster und „Leader of the pack“, kam oberlässig daher. Schulterlange Haare, Jeans und T-Shirt. Baldo überholte Matthias auf dem Weg zur Schule regelmäßig mit einem geklauten Mofa. Knatter, knatter, knatter.

Der Typ musste einem Hippie-Elternhaus entsprungen sein, so alternativ war der drauf. Auf jeden Fall beeindruckte er auf ganzer Linie. Eines Tages geriet er ins Visier Bauers. Vor der versammelten Klasse entbrannte ein ausgewachsener Ringkampf, an dessen Ende der kleine Röhr, zu seinem eigenen Erstaunen, Baldo mit einem gekonnten Fausthieb aus dem Nichts ins Tal der Tränen schlug. Der blieb kurz benommen liegen, akzeptierte ihn aber fortan, und beide wurden sogar Freunde.

Die Eichendorffschule, eine Gesamtschule in der Lorsbacher Straße in Kelkheim, auf der Matthias ab der fünften Klasse den Realschulzweig besuchte, war ein großer grauer Klotz. Hässlich, keinerlei Fröhlichkeit ausstrahlend. Vielmehr das genaue Gegenteil: morbider Bunkerstil-Charme, der wenig einladend aussah. Für damalige Verhältnisse galt das Gebäude jedoch als die Crème de la Crème unter den hessischen Schulbauten. Versehen mit elektrischen Türen und Jalousien, der modernsten Ausstattung und einem riesigen Pausenhof. Man benötigte fünfzehn Minuten bei normalem Gehen und, je nach konditioneller und körperlicher Verfassung, mindestens vier Minuten vierzig im Sprint, um ihn einmal komplett zu umrunden.

Was in Knästen Usus war, galt auch auf dem Schulhof. Es gab klare Strukturen, anhand derer man erkennten konnte, welche Schüler zu welcher Klasse gehörten, wer die schlimmsten Krawallmacher und populärsten Wortführer waren, welche Mädels begierig angehimmelt und, ganz so wie heute, welche Außenseiter von allen gehasst wurden. Rechts, am Eingang, standen die kleineren Jahrgänge. Seilchen springend, gegen Torwände schießend, kichernd. Ab der achten Klasse zog es die älteren Schüler zumeist weiter hinter das Gebäude, gut geschützt vor nervenden Blicken der Pausenaufsicht. Hier wurde gerne auch mal eine Kippe rumgereicht. Dort wurde von den Zehntklässlern gefummelt, geknutscht und gelästert. Und dort schrieb das Leben eines Teenagers ganz eigene Dramen.

Unmittelbar vor der Schule befand sich die Haltestelle für den Bus, den die Röhr-Brüder tagtäglich von Liederbach aus nahmen. Für Martin war das später, als Matthias schon kurz vor seinem Rauswurf stand, eine privilegierte Situation. Begleitet von seinem drei Jahre älteren Bruder konnte ihm nichts passieren. Er war vor den großen Rüpeln der eigenen Klasse geschützt, und sollte doch mal ein Vollidiot wagen, das Wort (oder schlimmer: die Faust) gegen ihn zu erheben, konnte sich dieser Dummkopf sicher sein, dass er schon in der darauffolgenden Pause eine gepfefferte Schelle von Matthias verpasst bekommen würde. Eine sehr beruhigende Konstellation. Eine, die Martin hin und wieder schelmisch ausnutzte, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Was nicht bedeutete, dass dieser Zustand immer anhalten konnte. Irgendwann, das wusste jeder der beiden Röhrs, würden sich deren schulischen Wege trennen. Und ab da kämpfte dann Martin für sich allein.

Im Laufe der Jahre, vor allem aber gegen Ende hin, hatte sich Matthias an der Eichendorffschule einen Ruf erarbeitet. Er galt als jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte. Niemand, der auf Stress aus war, aber ganz bestimmt ein Junge, der sich zu wehren wusste, sollte es darauf ankommen.

Ihm wurde Platz gemacht, wenn er irgendwo durchwollte. Rempelte ihn jemand an, versehentlich oder provokant, genügte ein böser Blick (dessen Durchschlagskraft er ebenfalls von Joachim geerbt hatte), und schon glotzte der Rempler eingeschüchtert zu Boden. Standen er und Martin für den Bus an, ließ man die Röhrs vor. Wurde eine Gruppenarbeit verlangt, stritt sich niemand mit Matthias um sein Recht.

Da, wo andere Jugendliche in diesem Alter unter der schweren Last der Pubertät zu leiden hatten, mithin geplagt von Selbstzweifeln und Scham den Unterricht über sich ergehen ließen, war der älteste Röhr ein Musterbeispiel an Selbstvertrauen.

Familie Röhr war zur Mitte dieses Jahrzehnts, einige Jahre, bevor Matthias die Schule verließ, vom Berliner Ring in Kelkheim nach Oberliederbach gezogen. Eine Doppelhaushälfte im Fasanenweg wurde das neue Heim, das noch zum Schulbezirk gehörte. Das Haus stand auf einem kleinen Grundstück, das unmittelbar an befahrene Bahnschienen grenzte. Der Umzug nach Oberliederbach erwies sich schon als Glückstreffer, das Haus jedoch war der echte Jackpot. Hier entwickelte sich Matthias zu Gonzo – und auf dem Dachboden des Hauses wurde auch, sehr zum Leidwesen der Eltern, sein erster Gitarrenverstärker ausprobiert.

Es dauerte eineinhalb Minuten, bis jemand unten an der Tür klingelte. Frau Röhr hatte alle Hände voll zu tun, die aufgebrachte Nachbarin zu beschwichtigen.

„Was ist denn bitte in Ihren Sohn gefahren, dass er mittags solch einen Lärm macht?!“, schrie sie Matthiasʼ Mutter an. „Wenn Sie sich nicht sofort darum kümmern, dass hier Ruhe einkehrt, kann sich Ihr Sohn gern mit der Polizei unterhalten!“

 

Die Nachbarin mochte Matthiasʼ erste Gehversuche an der Gitarre nicht. Das hätte sie nicht deutlicher zum Ausdruck bringen können. Den jungen Mann, der dort oben seit ein paar Tagen mit E-Gitarren und selbstgebauten Verstärkern und Lautsprecherboxen experimentierte, kratzte das aufgeregte Spießbürgerpack aber überhaupt nicht. Im Gegenteil.

Wenn er ein paar Stunden für sich war, die Mutter zum Einkaufen fuhr und seine Brüder die einzige Gesellschaft ausmachten, drehte er gern extra laut. Auch mal gegen Mittag. Nein, besonders gegen Mittag, direkt nach der Schule.

Spätestens jetzt hatte ihn ohnehin die Rockmusik gepackt. Nicht, dass er sich nicht schon seit längerem intensiv mit ihr beschäftigte, aber nun wollte er sie auch erlernen und leben. Das Bespielen der verschiedensten Gitarren bestimmte fortan sein Denken und Handeln. Nichts und niemand konnte dem einen Strich durch die Rechnung machen. Kein Lehrer, kein Vater, erst recht keine Nachbarn von nebenan. Entwickelte Matthias Interesse an einem Thema, wollte er darüber alles wissen, schon damals. Wurde aus dem Interesse eine waschechte Leidenschaft, gab er fortan alles dafür und ordnete ihr alles unter, setzte alle Kraft und jede freie Kapazität ein, um sein Ziel zu erreichen.

Matthias, Helmuth T., Oliver und Sebastian W. (den alle nur „Graf Porno“ nannten) waren seit der neunten Klasse gute Freunde. Graf Pornos liebstes Hobby und schulischer Zeitvertreib war es, eine gut sortierte, frivole Sammlung feinster Wichsheftchen zu besitzen, die er immer dann aus dem Ranzen fischte, sobald Algebra oder Englisch auf dem Stundenplan standen.

Zusammen teilten die fünf nicht nur die Liebe zum RockʼnʼRoll, sondern auch das Schicksal, allesamt in der Neunten sitzengeblieben zu sein. Die fünf waren zu der Zeit echte Mofa-Rocker. Man konnte sie schon von weitem mit ihren Zweitaktern hören, noch bevor sie am Horizont in Erscheinung traten. Fuchsschwanz, Jeans, oben eng und unten weit, lange Haare und alles weitere verschafften auf der einen Seite Respekt und weckten auf der anderen Seite die Aufmerksamkeit der Mädchen.

Sebastian, dessen Eltern bei der Höchst AG arbeiteten und nach Australien versetzt wurden, sollte noch die Realschule fertigmachen, bevor er ebenfalls zu den Eltern umzog. Er lebte in der Zeit bis zu seinem Abschluss in einem Wohnheim der Höchst AG, in dem die Auszubildenden der Firma untergebracht waren.

Als Matthias von der Schule geflogen war (was seine Eltern erst etwas später mitbekamen, da er die entsprechenden Briefe der Schule abgefangen hatte), verließ er morgens sein Elternhaus zur gewohnten Uhrzeit, begab sich aber nicht zum Schulbus, sondern in das Wohnheim zu Sebastian und dessen Bruder, wo er sich erst noch einmal gemütlich hinlegte.

Gegen zehn verließen Matthias und Sebastians Bruder dann gemeinsam die Herberge und trafen sich mit Helmuth, Oliver und den anderen von der Schule Geflogenen sowie „Graf Porno“ im Elternhaus Helmuths. Dort probte die Bande den ganzen Tag im Keller, was wiederum die dortigen Nachbarn alarmierte und auf den Plan rief.

Das Ende des Nachkriegsbooms war auch gleichzeitig das Ende der Selbstständigkeit von Joachim Röhr. Die Industrie in und um Frankfurt zog sich zurück und reduzierte sich auf das Wesentlichste. Das hatte unmittelbar zur Folge, dass kaum noch Gäste in die von Röhr Senior geführte Gaststätte kamen, die er einige Jahre zuvor übernommen hatte.

Wegen der plötzlich einbrechenden Einnahmen sah er sich gezwungen, sein Lebenswerk zu verkaufen. Deutlich unter Wert, von dem ideellen ganz zu schweigen. Der Familie fehlten fortan die Einnahmen des Vaters. Von diesem Zeitpunkt an war die schöne Doppelhaushälfte im Fasanenweg finanziell nicht mehr zu stemmen, und ein Umzug stand an. Nach einigen Überlegungen fiel die Wahl Anfang des Jahres 1981 schließlich auf Bonames, einen berüchtigten Stadtteil im Norden Frankfurts.

Der Name des Viertels ging auf das alte Rom zurück und bedeutete, dass dort, an der Nidda, eine „bona mansio“ („Gute Gaststätte“) gewesen sein musste. Die Struktur des Stadtteils wandelte sich damals entsprechend der generellen Stimmung im Land.

Nun war schon allein die Idee, aus dem beschaulichen Oberliederbach nach Frankfurt-Bonames zu ziehen, wenig vielversprechend. Als sich herauskristallisierte, dass Bonames immer wahrscheinlicher und irgendwann unausweichlich wurde, ging ein großes Raunen durch die Familie.

Dieser Unmut war allerdings nichts im Vergleich zum Gefühl der Trostlosigkeit, das Matthias und seine Brüder verspürten, als feststand, dass sie – von allen beschissenen Ecken dieser beschissenen Gegend – ausgerechnet in die allerbeschissenste Straße ziehen mussten. Der Ben-Gurion-Ring, eine Hochhaussiedlung mit absurd hohem Migrantenanteil, der bis heute für seine weitreichenden sozialen Probleme bekannt ist, wurde das neue „traute Heim“ der Röhrs.

Dort standen Hochhäuser, die schweigend Zeugnis vom Größenwahn der Städteplaner abgaben. Bis zu zwanzig Stockwerke hoch, grau in graue Tristesse. Mini-Balkone, die, mit einem kleinen Grill und einem Wäscheständer verstellt, keinen weiteren Platz mehr boten.

Der größte Irrsinn war jedoch die zutiefst fragwürdige architektonische Bauweise der Plattenbauten. Alle Häuser wurden zu einem fast geschlossenen Kreis angeordnet, dessen Mitte ein nur aus Beton bestehender Innenhof bildete. Wegen Anordnung und Höhe der Häuser fiel nur sehr wenig Licht in die Durchgänge. Hier herrschte an 365 Tagen im Jahr das Regiment der Schatten.

Selbst dann, wenn es über zwanzig Grad warm war, fror man dort. Die soziale Kälte, die durch diese Wohnungen kroch, spürte jeder Besucher oder Anwohner direkt am ganzen Leib. Man musste sich nur lange genug in dieser Gegend aufhalten, um den schleichenden Wahnsinn zu teilen, der dort von Hochhaus zu Hochhaus zog und den Menschen ins Hirn krabbelte.

Wen die Hoffnung endgültig verließ, konnte durch einen Sprung über die viel zu klein gehaltene Brüstung seinem Dasein ein Ende setzen. Das passierte immer wieder. Der Aufschlag der Selbstmörder hinterließ sodann, wenn auch nur für kurze Zeit, etwas Farbe in den Innenhöfen.

Retrospektiv betrachtet war die Entscheidung seiner Eltern, nach Bonames zu ziehen, aus vielerlei Hinsicht eine folgenschwere. Sah man von dem Kontrast zwischen der Reihenhaus-Idylle im Fasanenweg und dem brutalen, einem Ghetto nicht unähnlichen Leben am Ben-Gurion-Ring mal ab, war die Frage, ob es überhaupt eine andere Wahl gegeben hatte, nicht leicht zu beantworten. Bonames schien der unausweichliche Kompromiss aus finanzieller Machbarkeit und räumlicher Notwendigkeit zu sein.

Matthias sah man kaum noch zuhause. Wenn überhaupt, dann nur zum Schlafen. Er hielt es nicht lange dort aus. Er musste raus. Raus aus diesem Moloch, in dem man sich nur oberflächlich umzugucken brauchte, um zu verstehen, dass es eigentlich ziemlich schlecht um die Mittelschicht in Deutschland bestellt war. Dass dieses Land – wenn man weiter so wirtschaftete und den Menschen ins Gesicht spuckte – irgendwann nur noch zwischen zwei Kasten unterscheiden würde: bettelarm und superreich.

Röhr nutzte jede freie Minute, um auszureißen. Frankfurt war nicht nur Bonames oder der Frankfurter Berg, sondern eben auch Sachsenhausen, das West- und Nordend. Gegenden, in denen man sich deutlich besser aufhalten konnte und die über ein stattliches Nachtleben verfügten.

Der Rausschmiss von der Eichendorffschule und das damit einhergehende Verfehlen des Realschulabschlusses war für Matthias indes gut zu verkraften, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits einen Lehrvertrag in der Tasche hatte.

Es zog ihn damals immer mehr in die Nacht und damit auf die Konzerte, die es rund um Frankfurt zu erleben gab. Die bessere Mobilität hatte den Vorteil, dass sein Erlebnisradius nicht mehr nur auf Kelkheim beschränkt war, sondern Frankfurt und das gesamte Main-Taunus-Gebiet einschloss.

Karsten, sein kleinster Bruder, geriet in Bonames zunehmend, und schon sehr früh, in die falschen Kreise. Dort machte er schon mit dreizehn Jahren erste Erfahrungen mit Alkohol und Drogen. Die Krallen der Sucht packten ihn von Tag zu Tag mehr und rissen ihn in einen Strudel aus Rausch und Depression, denen er trotz aller Hilfe viele Jahre später, 2016, erliegen sollte.

Es war bei ihm genauso wie bei vielen anderen Menschen, deren Weg durch Drogen fremdbestimmt wurde. Das große Ziel am Ende der Rauschmittelkarriere schien unaufhaltsam auf ihn zu warten, er musste nur schnell genug laufen, um es pünktlich zu erreichen. Doch es waren keine Jubelschreie, keine Gratulanten und Medaillen, die auf der Ziellinie warteten, sondern ein knochiger Typ mit schwarzem Umhang und Sense. Karsten Röhrs Abstieg in die Sucht- und Drogenhölle begann mit dem Umzug der Familie nach Bonames.

Martin erinnert sich heute noch sehr gut an die vielen Verstrickungen, die damals zu den immer seltener werdenden Kontakten zwischen ihm und seinem großen Bruder geführt hatten. Und er resümiert: „Es ist schon ein krasser Umstand, ihn auch so deutlich noch mal vor Augen geführt zu bekommen, aber man kann sehr klar und nüchtern festhalten: Wäre meine Familie damals nicht nach Bonames gezogen, was wir Kinder als furchtbar und unverständlich empfunden haben, so hätte es vermutlich keinen Gonzo bei den Böhsen Onkelz gegeben, weil Matthias dann viel von der Wut und Umtriebigkeit, die ihn nach Frankfurt geführt haben, gefehlt hätte.

Unser kleiner Bruder Karsten hingegen wäre vermutlich noch am Leben.“


Denn das Ka ist ein Rad, und solange es nicht zerbrochen ist, wird es sich immer weiterdrehen

(Stephen King)

Der großartige Stephen King beschreibt in den Bänden des Dunklen Turms die Zusammenkunft verschiedenster Charaktere, die dasselbe Ziel verfolgen, und deren Freundschaft, Wirken und Zusammenhalt als Ka-Tet. Eine Gemeinschaft (Tet), die durch kosmische und irdische Verkettungen (Ka) miteinander verbunden war. Deren Auflösung nicht von innen heraus passieren, sondern allerhöchstens von außen (durch Gott, wenn es beliebt) erfolgen durfte.

Und es war schon ein ziemlich besonderes Band, das dort geknüpft wurde, im Frühjahr des Jahres 1981.

Der Abend in Alt-Sachsenhausen wurde zu einem von diesen, bei denen man schon zu Beginn weiß, dass sie nicht besonders viel zu bieten haben. Ganz gleich, wie viel Alkohol die Kehle runterfließt, wie viele Frauen man abschleppt oder in wie viele Gesichter man schlägt, irgendwas fehlt.

Matthias und Heiko hatten die Begegnung an der Straßenbahnhaltestelle noch bestens im Gedächtnis. Die Erinnerung an diese beiden Typen, Stephan und den anderen, sie war noch ganz frisch. Erst ein paar Stunden alt. Gott, was sahen die zwei nach alldem aus, wonach Heiko und Matthias eigentlich gesucht hatten. Hier, in den alten Kneipen dieses Stadtteils, kannten sich die beiden Punk-Rock-Pendler gut aus.

Hier waren sie bekannt, aber ganz sicher nicht beliebt. Im Gegenteil. Die ersten Ausflüge nach Sachsenhausen prägten noch wahnsinnige Neugier und Aufregung (schließlich besaß Frankfurt auch in den angrenzenden Ortschaften ein bisschen die Magie eines Manhattans), während sie in den darauffolgenden Wochen immer langweiliger und vorhersehbarer wurden. Es gab schlichtweg keine Punks, die nicht schnell rafften, dass sie dort nicht auf viel Gegenliebe stießen.

Eigentlich kein Grund, um wegzugehen. Nicht für Matthias oder Heiko. Die gingen sowieso keinem Konflikt aus dem Weg, aber irgendwann wurde das Gegenanrennen und Provozieren der Wochenend-Rebellen, Popper, Spießer und Geschäftsleute aus dem Umland, die sich in Alt-Sachsenhausen herumtrieben, zur blanken Lachnummer.

An diesem Abend fiel besonders auf, wie eigenartig dort alles auf sie wirkte. Sie waren der Fremdkörper in dieser Gesellschaft, zu der sie eigentlich gar nicht gehören wollten. Die Jungs und Mädels, mit denen sich die zwei immer hier trafen, glänzten mit Abwesenheit. In allen Kneipen, die sie besuchten, bildeten sie die einzige Punk-Gruppe weit und breit. Das wiederum führte vermehrt zu komischen Blicken, mitunter auch zu Pöbeleien. Und je weiter der Abend fortschritt, desto öfter musste Matthias wieder an diese beiden Punks denken, die ihnen vom JUZ Bockenheim erzählt hatten.

Gegen 21 Uhr stellte er sein Bierglas auf die Theke, drückte seine Kippe im hoffnungslos überfüllten Aschenbecher aus, drehte sich zu Heiko, gab ihm ein Zeichen, und die beiden verließen wortlos die Schenke.

 

Und während sich hinter ihnen, gut überdeckt von einer dichten Rauchschwade und exzessiven Rauschlage, das gesellige Leben der Sorglosen und Angepassten abspielte, machten sich diese beiden lumpig aussehenden Vorstadt-Punks klammheimlich auf den Weg zu diesem ominösen Jugendzentrum. Dort, so versprach ihnen Stephan „Pennermantel“, verpassten sie die gottverdammte Party ihres Lebens, würden sie nicht unverzüglich ihre Ärsche dorthin bewegen. Zeit zu gehʼn und zu überprüfen, ob dieser Kerl recht hatte.

Matthias erinnert sich: „Aus meinem Gedächtnis heraus war es schon genau so, wie ich es dir eben gesagt habe. Eigentlich hatten Heiko und ich anfangs, kurz nachdem wir Stephan und Kevin dort flüchtig kennenlernten, gar keine Lust, zum Jugendzentrum zu fahren. Wir kannten das gar nicht. Dass das später mal zu unserem Domizil werden würde, hätte ich im Leben nicht gedacht. Es gab da, zu dieser Zeit, eigentlich nur Sachsenhausen. Auch wenn das immer uncooler wurde. Aber Gott sei Dank sind wir später ja noch mit der Straßenbahn nach Bockenheim gefahren.“

Die Linie 18, mit der sie fuhren, war zu dieser Uhrzeit (es war schon weit nach 21 Uhr) noch gut gefüllt. Hektische Menschen, hektische Blicke, immer wieder gefühlte Anflüge unverhohlener Verachtung, die Heiko und Matthias auf ihrem Weg ins angepriesene Paradies entgegenschlugen.

Zwei Frauen, beide noch keine 50, die sich mit angeekelten Blicken ins Ohr tuschelten. Wenig darum bemüht, leise zu sein. „Wenn das meine beiden Söhne wären, Marlene, was glaubst du? Ich sagʼs dir: Die dürften das Haus nicht eher verlassen, bis sie sich gewaschen und vernünftig angezogen hätten. Darauf kannst du Gift nehmen!“

Eine kleine Gruppe Popper befand sich gerade auf dem Weg aus dem Stadtinneren raus. Und die drei, vier jungen Männer sahen verdächtig so aus, als hätten sie schon lange keine zünftige Schlägerei mehr gehabt. Wäre es nach Matthias gegangen, hätte sich das noch an Ort und Stelle mit großer Freude ändern lassen. Er wartete nur auf ein falsches Wort …

Auch vor den zugestiegenen Marokkanern und Türken (große Typen, breite Schultern, gebrochenes Deutsch), die ebenfalls mit Blicken und Sprüchen zu provozieren versuchten (Hab isch Titten im Gesischt oder was? Hä? Was guckst du so schäbig, du Hund?), duckte er sich nicht weg. Glück für die Gangmitglieder, dass sie auf halbem Wege ausstiegen. Aber natürlich nicht, ohne sich vorher von Matthias noch ein paar aggressive Blicke einzufangen, die ihren eigenen an Angriffslust in nichts nachstanden.

Matthias ging schon damals, 1981, keiner Provokation aus dem Weg. Er war fast neunzehn, und das war immer ein schwieriges Alter. Noch viel mehr, als es vierzehn je sein konnte. Erwachsen fühlte man sich noch nicht, aber auch nicht mehr als Jugendlicher. Testosteron wurde im Übermaß produziert, viele besuchten in dem Alter erstmals das Fitnessstudio oder den Puff und ließen die Muskeln spielen. Das Gefühl grenzenloser Stärke gesellte sich direkt zu Ahnungslosigkeit und Übermut. Und bevor man sich das Wiederaufstehen in die Vita schreiben konnte, gehörte das Hinfallen erst mal zum ausdrücklich erwünschten Lebenskonzept.

Heute beschreibt Matthias diese Zeit so: „Es gab damals einfach keine Grenze, die in den Köpfen der Leute verankert war. Das Lebensgefühl, das bei mir – und den Punks, die wir kannten – vorherrschend war, hatte ganz viel mit RockʼnʼRoll, Rebellion und mit einer völligen Ablehnung zu tun. Aber eben nicht nur von den Dingen, die ein Punk heute ablehnt, weil er politisch gesteuert ist, nein. Wir lehnten alles ab. Wirklich alles! Das totale Anti-Tum. Politik? Interessierte nicht. Religion? Genau, hau bloß ab!

Hippies, Polizisten, Türken … praktisch jeder, der einem am Wochenende dumm gekommen ist, war erst mal dein Gegner. Links und rechts gab es für uns nichts, was interessant war, nur Mitläufer und Jasager. Wenn du ein Arschloch warst, durftest du mich nicht ansprechen. Wenn du ein Guter warst, gern – hier ist das nächste Bier. Im Grunde genommen war es so ähnlich, wie mit den Rockabillys und Teddyboys in den Fünfzigerjahren: Du gehst raus aus deinem Job, ziehst dir deine Lederjacke über, machst dir Zeug in die Haare, sodass die wild abstehen, ziehst deine kaputte Jeans und die Doc Martens oder andere Stiefel an (aber bitte keine dieser neumodischen Dinger, die damals angesagt waren) und gehst feiern. Guter Stil war wichtig. Es fand innerhalb der Szene immer eine schnelle, geheime Art der Überprüfung statt, wenn Neue kamen und dazugehören wollten. Glaubwürdigkeit konnte man nicht spielen. Entweder man besaß sie, oder man war eines der ‚angepunkten‘ Kids, die keiner so richtig ernst genommen hat. Neben dem Musikgeschmack war auch deine Mode wichtig. Nicht, dass man offen darüber gesprochen hätte, aber wenn du als Punk schnell ausgesehen hast, wie ein Christbaum zu Weihnachten, oder wenn du dir deine Bondage-Hose im Laden gekauft hast, warst du schneller als ‚Mode-Punk‘ verschrien, als du gucken konntest. Sozusagen die stillen, unausgesprochenen Regeln für die korrekte, antiautoritär-rebellische Seele. Das war schon sehr engmaschig damals. Aber eben nicht politisch.“

Und er ergänzt: „Das, was die Großen in Bonn oder im Rest der Welt machten, hat uns einfach nicht gekratzt. Die einzigen Dinge, die zählten und die sich auch zur Skinhead-Zeit nicht ändern sollten, waren: Wochenende, auf die Kacke hauen, Spaß haben, sich prügeln und nach dem Wochenende wieder arbeiten gehen. Aber sonst? Es wurde nicht demonstriert. Es kam nicht mal jemand auf die Idee, irgendein Schild hochzuhalten. Ich erinnere mich, dass zu dieser Zeit ein gewisser Joschka Fischer noch in einem Buchladen im Frankfurter Nordend aushalf. Und da trafen wir uns auch hin und wieder, um zu gucken, was der Typ da vertickt. Aber das Angebot war jetzt nicht so interessant, dass wir uns da öfter hin verlaufen haben.“

Frankfurt, zu Beginn der Achtzigerjahre, war ein krasses Pflaster. Hochmut und Fall wohnten – buchstäblich – nur einen Steinwurf weit voneinander entfernt. Es gab die ersten Punks, zu denen sich Matthias „Gonzo“ Röhr stolz zählte, die allerersten Skins, Hooligans der Adlerfront, Rocker und Jugendgangs, gewaltbereite Bullen und gewaltbereite Studenten.

Die sogenannte Sponti-Bewegung zählte zu letzterer Kategorie. Die Mitglieder der Szene glaubten an die „Spontaneität der Massen“, weniger an eine autoritär-angelehnte Umerziehung des Volkes hin zu einem sozialistischen Staat im Sinne Mao Zedongs, wie ihn beispielsweise die „K-Gruppen“ mit Hilfe avantgardistischer Parteien erreichen wollten.

Nichtsdestotrotz waren die „Spontis“ nicht weniger organisiert als andere linksextreme Strömungen. Sie gaben dem Kind einen anderen Namen und operierten bevorzugt unter dem gemeinsamen Banner des antiautoritären Geistes, der die Massen durch fantasievolle Aktionen, Straßenkampf und Charme begeistern sollte. In West-Berlin, Hamburg, Münster und Frankfurt am Main schossen die Nachkömmlinge des 68er-Movements aus dem Boden und schoben sich – praktisch über Nacht – nach ganz Linksaußen hinüber. Dort wuchs und gedieh, was eh schon fast undurchdringlich war.

Das Dickicht des subkulturellen Breis der Mainmetropole und aller anderen Städte der Republik, es wurde immer wilder. In Hessen an vorderster Front für die Sache kämpfend: Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit. Es gab Haus- und Fabrikbesetzungen, es gab kuriose Szenen innerhalb der Szene. Und Matthias war der Regisseur einiger davon. An eine spezielle erinnert er sich heute noch sehr genau: