Gonzo

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Für Matthias nicht. Es war erträglich, weil sein Gehör, einmal in Gang gesetzt, alles herausfiltern konnte, bis nur noch die Musik übrig blieb.

Und dann folgte die Erleuchtung. Diese englischen Bands hatten etwas, das er nicht beschreiben, sondern nur fühlen konnte. Die britischen Medien, hysterisch und panisch, wie sie immer waren, wenn eine neue Subkultur die Monarchie schockierte, brauchten dringend ein Wort, um den Krach der Instrumente und die Impertinenz der Texte zu beschreiben, die sie hörten: Punk!

Die Etymologie des Begriffes war eigentlich viel älter. Erste Aufzeichnungen gingen sogar auf das Jahr 1596 zurück, in denen man altes, faulendes Holz als „Punk“, als etwas Wertloses, bezeichnete. Den heute gebräuchlichen Sinn des Wortes rechnete man der Musikjournalistin Carolin Coon zu. Coon liebte viele Jahre Paul Simonon, den Bassisten von The Clash. Und als man sie fragte, wie sie denn den Musikstil ihres Freundes und seiner Freunde bezeichnen würde, fiel ihr dieses alte Wort ein.

„Well, I guess, this is Punk Rock.“

Die Tatsache, dass es Coon war, die den Begriff etablierte, interessierte in den Massenmedien kaum jemanden. Die waren noch viel zu sehr damit beschäftigt, laut zu mosern oder angeekelt zu kotzen. Punk. Rock. Punk Rock.

Oh Jesses.

Das war sie also, die Zukunft der Musik. So viel Energie, so viel Wut und so viel Authentizität hatte Gonzo nie zuvor gehört. Und das trotz oder gerade wegen des Umstands, dass die Mucker der Punkbands nicht gerade die Talentiertesten ihrer Zunft waren. Bei genauerem Hinhören und Hinsehen jedoch war das eigentlich wiederum geil. Nichts oder nur wenig an den Instrumenten zu können, schien urplötzlich kein Hemmnis für Erfolg zu sein. Und das war noch nicht alles.

Jetzt schien es sogar en vogue, derbe Texte zu schreiben, über die sich die alten, zerknitterten, ungevögelten Frauen und aristokratischen Männer aufregen konnten. Und wie genüsslich und inbrünstig sich das Establishment zu echauffieren vermochte, wusste man spätestens, wenn man die schockierten Kommentare des Feuilletons über den Pistols-Hit „God Save The Queen“ las.

Doch trotz aller Aufreger platzierte man diese Bands im Fernsehen. Und dort ließ man sie vor einem Millionenpublikum auftreten. In den Charts landen. Und ab da regnete es für die populärsten Punk-Rock-Bands tausendfach britische Pfund.

Also, wenn das nicht krass war, wusste Matthias auch nicht weiter. Hier wurde den Bands der Busen gereicht, nach dessen Milch sich die Jugend die Finger leckte und an der die Medien, Manipulatoren, Politiker und Monarchen ersticken sollten.

Von nun an liebte Matthias „Gonzo“ Röhr den Punk. Er stieg in die Rakete, nahm Platz und ließ sich auf einen neuen musikalischen Planeten schießen. Ein unbekannter Ort im bekannten Sonnensystem. Dasselbe, in dessen planetarischen Umlaufbahnen er Jahre zuvor noch Chuck Berry, Elvis, die Stones, Nugent und alle anderen großen Künstler entdeckt hatte, kannte ab diesem Moment vorerst nur noch die drei dicken P: Punk, Pogo und Provokation.

Fragt man Gonzo heute nach den ersten Tagen in der Subkultur, nach dem „Wie alles begann“, gerät er nicht selten ins Schwärmen: „Für mich war das plötzlich wie das Eintauchen in eine neue Blase. Man hat diese Bands im Fernsehen gesehen, The Stranglers, The Damned und alle anderen, und ja, das war mit einem Mal etwas völlig Neues. Es gab vorher ja größtenteils nur diese ganzen ‚Superstar‘-Bands. Also Genesis, Emerson, Lake and Palmer, die Stones. Alles Bands, die mit riesigen Produktionen durch die Lande zogen und für die Jugend aber immer uninteressanter wurden. Da vermisste man irgendwann den RockʼnʼRoll in der Rockmusik, die im Begriff war, zu einem Kunstprodukt zu werden. Das war schon großes Business, an dem sich Hunderte Manager, Veranstalter und Künstler sattaßen. Und mit den englischen Punkbands gab es plötzlich – aus dem Off – eine völlig neue, krass inspirierende Form des musikalischen Ausdrucks. Wild abstehende Haare, so neue Frisuren, wie sie damals Eddie Cochran oder Link Wray in den Fünfzigern trugen. Manche kurzrasiert, manche gefärbt. Dazu eine Lederjacke, die Gitarre tiefhängend, drei Akkorde spielend. Das hat gereicht, die haben abgerockt und gute Songs geschrieben. Das hat mich natürlich vom Fleck weg begeistert. Also bin ich losgezogen, ein paar Tage, nachdem ich die Bands im Fernsehen für mich entdeckt hatte, und habe mir im Schallplattenladen von Olivers Bruder einen Punk-Sampler gekauft. Frisch aus dem Königreich importiert. Und plötzlich sah man da auch auf einmal Freunde und Bekannte, denen es ganz ähnlich ging wie mir. Mit diesem neuen Schwung an Energie kamen auf einmal Mädels an und hatten sich die Haare abrasiert oder grün gefärbt. Dazu noch gern eine kaputte Jeans und die Ersten, die Doc Martens trugen. Manche Mädchen, von denen man bislang immer dachte, dass die doch noch total unter der Fuchtel ihrer Eltern stehen und zum Lachen in den Keller gehen, haben sich plötzlich auch der Welle angeschlossen. Vieles lief über die Musik. Die Platten-Stores waren die Treffpunkte, um sich auszutauschen. Und so bin ich langsam, nicht mit einem Rutsch, immer mehr zum Punk geworden.“

Die Geburtsstunde der aus England kommenden wütenden Untergattung des RockʼnʼRoll faszinierte die Jugendlichen. In Frankfurt und seinen Vororten, in Hamburg, Berlin, dem Ruhrpott, Bremen und Düsseldorf war es am krassesten. Hier schlug das Punk-Beben mit voller Härte zu und begeisterte unzählige Kids aus dem Stand. Mit einem Mal wurde über diese spezielle Musik gefachsimpelt, als wäre Punk das Wichtigste im Leben.

Schallplattenläden, deren größter Absatz noch bis dato die großen Popbands und Interpreten der USA, ABBA aus Schweden, die Beatles oder Stones aus England waren, sortierten ihre Verkaufsräume um und platzierten die Sex Pistols, The Clash und Co. gut sichtbar im Schaufenster.

Michael, Olivers älterer Bruder, tat es den anderen Plattenladen-Besitzern gleich. Sein Geschäft wurde über die Jahre immer wieder von Matthias und anderen jungen Erwachsenen aufgesucht, um sich echte Schätze der Rockmusik zu sichern. Der Mann hatte und kannte alles. Er selbst war immer auf der Suche nach neuen, schrillen Tönen und nach dem nächsten großen Importhit aus Übersee. Als die Bee Gees noch als Geheimtipp galten, man die Sex Pistols noch für ein frivoles Liebesspielzeug und The Clash für einen Romantitel hielt, hatte er deren Veröffentlichungen, verpackt in große Vinylschachteln, schon bei sich im Laden stehen.

Seit gefühlten Ewigkeiten dealte er das gute Zeug. Die heiße Ware wurde direkt an die Jugend weiterverkauft. So hielt auch dort ab 1979 „das dicke P“ Einzug in die Schaufenster. Und weil es großen Spaß machte, ein bisschen mit dieser unverbrauchten Attitüde zu kokettieren, gab es für jeden Punk, der sich den neuen Scheiß kaufte, noch ein paar Aufkleber und Patches obendrauf. Das allein war schon ein Faustschlag ins Gesicht der stockkonservativen Spießbürger, die in dieser neuen Bewegung nun endgültig den Untergang des Abendlandes sahen.

Die Generationen, die dieses Land zuerst in den Untergang marschieren ließen, um es hinterher wiederaufzubauen, hatten schon die Nazis, die Befreiung durch die Siegermächte, die Teilung der jungen Republik, den Aufbau des „antifaschistischen Schutzwalls“, die kiffende, wütende 68er-Bewegung und den Terror der RAF überlebt. Aber am Punk, da herrschte nun große Einigkeit, würde dieses schöne Land endgültig verrecken.

Doch nicht nur die Spaßbremsen der elitären, beamtenmentalitätsvertretenden Langweiler hatten ein großes Problem mit der Subkultur. Auch gleichaltrige Besserwisser aus gutem Hause, von denen man einige später den „Poppern“ zuordnen konnte, Musikerkollegen aus anderen Bands und Schulkameraden rümpften über diesen primitiven Krach die Nase.

Witzigerweise wurde selbst AC/DCs legendäres erstes Album, High Voltage, von diesen Typen abgelehnt und weggelächelt. Die Platte gab es seinerzeit nur in Europa und war eine Zusammenstellung der ersten beiden Longplayer der Australier.

Auch deren Nachfolger erging es nicht besser. T.N.T., Dirty Deeds Done Dirt Cheap und Let There Be Rock waren für die Nullpeiler nicht viel mehr als Lärm mit sinnfreier Lyrik. Die Band aus Down Under kratzte das allerdings überhaupt nicht. Im Gegenteil. Das war mehr Segen als Fluch. Als die Punk-Welle, in England startend, ihren Siegeszug quer durch Europa hinlegte, kamen AC/DC glimpflich davon. Deren Musik war weder zahn- noch eierlos, sondern wütend, aggressiv und obrigkeitsverneinend. Eigentlich so, wie die der Punk-Rock-Bands, nur mit deutlich höherer Qualität in den Produktionen und mit viel mehr Skill an den Instrumenten.

„Auf der ersten AC/DC-Single, die ich mir damals gekauft habe und an deren Namen ich mich heute leider nicht mehr erinnern kann, war so ein kleines, aber gut lesbares Banner draufgedruckt“, erzählt Matthias. „100 Prozent Punk-Rock stand da drauf.“

Ein Kulturschock für all die Vollblutmusiker, die sich zeitlebens mit der Perfektion ihrer Kunst auseinandergesetzt hatten.

Das soll Musik sein? Alter, mach dich nicht lächerlich! Nach dem Mist kräht in einem Jahr kein Hahn mehr.

Oder: Junge, ich hatte dich bislang echt respektiert und für jemanden gehalten, der Ahnung von dem hat, was er sagt. Aber du willst mir doch jetzt nicht ernsthaft erzählen, diese Scheiße wäre gut?

Es wurde geschimpft, gemosert, geklagt. Von oben nach unten, links nach rechts, doch die Welle war störrisch, schlicht nicht interessiert daran, was man über sie zu klagen hatte, und bewegte sich mit großem Tempo immer weiter vorwärts. Sie war nicht mehr aufzuhalten.

Die elitären Musikerkreise, die sich für die Krone der Schöpfung hielten, mussten fortan auf Partys miterleben, wie das Virus des Punk immer weiter um sich griff, die Inkubationszeit immer kürzer wurde und ein bundesweiter Ausbruch der „Seuche“ bereits im vollen Gange war. Die DJs änderten ihre Musik in den Clubs, die Gastgeber die Musik auf ihren Privatpartys und die Punks ihre Musik auf den heimischen Schallplattenspielern.

 

Einzig die deutschen Radiostationen wollten nicht mitmachen. Das war ihnen nichts. Zu heiß, zu schmutzig, ordinär und nicht zu ertragen. Doch statt das Phänomen damit zu bekämpfen, sorgten sie dafür, dass es immer größer wurde.

Der unausgesprochene Boykott hatte genau die gegenteilige Wirkung. Ein ähnliches Paradoxon, das bei genauerer Betrachtung nur logisch war, konnte man dreizehn Jahre später bei den Böhsen Onkelz feststellen, die dann mit Heilige Lieder ein ihrerseits ganz neues Virus verbreiten sollten.

„Und so sind wir zu Punks geworden“, sagt Gonzo.

„Das ganze Ding zog immer größere Kreise. Es entstanden wirklich innerhalb kurzer Zeit, vielleicht nur binnen eines Sommers, richtige Netzwerke in Frankfurt und den Orten ringsum. Man traf sich dann plötzlich auch mit neuen Leuten, mit Gleichgesinnten, die man vorher noch gar nicht so richtig auf dem Schirm hatte, weil die sich natürlich dann auch zu erkennen gaben und der Szene zugehörten. So bildeten sich neue Cliquen. Ich hatte viele Freunde, die in der Umgebung wohnten, mit denen ich eine verdammt gute Zeit verbracht habe. Heiko, Frankie Frosch und wie sie alle hießen. Die kamen teilweise aus dem gesamten Taunus-Umland und haben meine ‚Szene‘ gebildet. Einige kamen auch aus Orten, in denen Menschen gewohnt haben, die alles waren – aber ganz sicher nicht arm. Aus Königstein, Neuenhain, stellenweise aus Kelkheim-Hornau. Millionäre, die in ihren großen Villen oder in Bungalows lebten. Grundstücke so riesig, dass ich damals dachte, in einer Siebzigerjahre-Tatort-Kulisse zu stehen, wenn man da drin war. Und die Töchter und Söhne dieser Millionäre sind dann auch auf einmal Punks geworden. Das waren bislang ‚nur‘ Schulkameraden von uns, vielleicht – im besten Fall – entfernte Bekannte. Aber auf keinen Fall Freunde, die man oft sah.“

Das änderte sich ebenfalls mit dem Eintreffen der Punk-Welle auf dem deutschen Festland. Plötzlich spielte der soziale Status des Einzelnen keine Rolle mehr. Es war völlig einerlei, ob der kleine Punk aus gutem Hause oder aus einer völlig verwahrlosten Wohnsituation im Jugendheim kam. Die Bewegung und die Musik vereinten die Kids.

Dass diese kurzen Momente des großen Zusammengehörigkeitsgefühls nicht von Dauer sein sollten, war schon damals abzusehen. Dennoch, so erinnert sich Matthias, als die „Arbeiterpunks“ plötzlich auf die „angepunkten“ bessergestellten Jugendlichen trafen, und man zusammen feierte, dass sich die Balken bogen, seien das tolle Momente gewesen: „Und plötzlich betrat man also diese fetten Häuser und Bungalows, die man allerhöchstens mal beim Vorbeifahren sah, und feierte dort drin krasse Partys. Das war natürlich auch nicht zu verachten.“

Man kann sich die Szenerie bildhaft vorstellen, ohne dabei gewesen zu sein: Holzgetäfelte dunkle Wohnzimmer mit schweren, teuren Eichenmöbeln. Perserteppiche, deren Besitzer schon die Krise bekamen, verschüttete man nur Leitungswasser auf dem sündhaft teuren Stoff, und Einbauküchen, deren Elektro­geräte allein schon teurer waren als die gesamte Wohnungseinrichtung der Röhrs.

Und die Hausherren standen auch oft gefährlich nahe am Rande des plötzlichen Herztodes, als sie – sonnengebräunt und erholt aus dem Urlaub kommend – die Ergebnisse und Hinterlassenschaften der ungebetenen Partybesucher begutachten und aufräumen mussten.

„In diesem Umfeld haben sich Heiko und ich immer wieder aufgehalten, bis es uns irgendwann langweilig wurde. Die Waldrandgebiete im Taunus waren toll, die Feten in den großen Villen ebenso, aber wir hatten irgendwann das Gefühl, dass wir raus in die Großstadt mussten. Nach Frankfurt. Und dort nach Sachsenhausen. Einige aus unserer Clique schlossen sich an, andere hatten überhaupt keine Lust darauf. Das hat sich dann auch schon direkt nach Abenteuer angefühlt, um ehrlich zu sein. Beim ersten Mal hatten wir noch richtiges Herzklopfen, als wir am Hauptbahnhof ankamen. Klar, man ist natürlich auch als Nicht-Frankfurter sofort aufgefallen. Die ganze Bewegung war ja gerade frisch, steckte sprichwörtlich noch in den Kinderschuhen, da hat man natürlich die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, ist ja logisch. Am Anfang dachten wir eigentlich noch, naiv wie wir waren, dass man uns vielleicht in dieser großen Stadt gar keine Beachtung schenken würde, weil es ja dort – so stellten wir uns das jedenfalls vor – wahrscheinlich an jeder Ecke einen Punk geben musste. Weit gefehlt. Schon nach unseren ersten Besuchen stellten wir ganz schnell fest, dass dem ganz und gar nicht so war. Es gab natürlich schon damals eine gewisse Anzahl an Punks, aber das waren noch so wenige, dass sie sich optisch nicht ins Gesamtbild von Frankfurt einfügen ließen, ohne dabei jemanden zu stören.

Es war inzwischen Februar 1981 geworden, und ich lebte zu der Zeit mit meiner Familie schon in Frankfurt-Bonames. Das war ein Graus. Eigentlich war ich nie zuhause. Es ging nicht, man ist dort automatisch krank geworden, zwischen diesen ganzen Hochhäusern und dem ewigen Sich-in-die-Arme-Laufen der Gangs. Eines Samstags – wir sind immer am Wochenende nach Sachsenhausen gefahren, um uns dort mit den anderen Jungs und Mädels zu treffen – ist es dann passiert.

Wir kommen am Hauptbahnhof in Frankfurt an, gehen zur Straßenbahn, um auf die andere Mainseite zu fahren, und an der gegenüberliegenden Haltestelle stehen zwei ziemlich punkig aussehende Typen. Einer von den beiden Jungs hatte wild abstehende, grün gefärbte Haare. Stachelig wie ein Igel. Die ganze verfranste Lederjacke hing voller ‚Anarchy‘-Patches. Der andere hatte Springerstiefel und einen übel aussehenden Mantel an, eine Aktentasche dabei und rief zu uns beiden rüber: ‚Ey, wo wollt ʼn ihr hin?‘“

Zwei Punks, die zusammengehörten, eine kleine Gruppe bildeten und sich hier offensichtlich bestens auskannten, trafen auf eine leicht verloren wirkende andere Zweiergruppe, die dafür aber auch verdächtig schwer nach Punk aussah. Das konnte doch eigentlich nur eine von Fortuna höchstpersönlich eingefädelte Verkettung gänzlich unwahrscheinlicher Zufälle sein. Heiko und Matthias nahmen den Ball jedenfalls auf.

„Und so ging das ganze Beschnuppern und das Kennenlern-Ritual knappe drei Minuten hin und her, ehe die Straßenbahn angefahren kam“, erinnert Gonzo sich heute.

Als die Tram anhielt und sich schon die Türen öffneten, rief der dunkelhaarige Typ mit den Springerstiefeln und dem Pennermantel, der sich den beiden kurz und hektisch, mit starkem hessischen Dialekt als Stephan vorgestellt hatte, Matthias und Heiko zu sich rüber und fragte, wohin sie denn überhaupt vorhätten zu fahren.

„Na, nach Sachsenhausen“, antworteten sie ihm.

„Ne, vergesst das mal“, sagte er. „Kommt ins JUZ Bockenheim. Nehmt die Linie 18, fahrt bis eine Station nach der Messe, und da ist dann das JUZ direkt auf der anderen Straßenseite. Da gehtʼs ab.“

Dann stiegen die beiden ein und verschwanden. Und erst mal entschwanden sie auch für ein paar Stunden aus dem Wichtigkeitsradius von Matthias.

Heiko und er fuhren auch diesen Samstag nach Sachsenhausen, schüttelten Hände und tranken Bier. Ihm waren die liebgewonnenen Kneipen hier wichtiger als irgendein Jugendzentrum. Doch je weiter der Tag voranschritt, desto häufiger geriet er ins Nachdenken. Sachsenhausen war schön, aber Frankfurt war verdammt noch mal so viel größer als dieser Stadtteil mit seinen alten Kaschemmen, sodass sich ein Gedanke in sein Hirn einnistete, der sich nicht mehr ignorieren ließ, je näher der Abend kam.

„Heiko, wir müssen später dorthin fahren. Ins JUZ.“

Mehr Worte bedurfte es nicht. Ihm gingen diese beiden Typen nicht mehr aus dem Kopf. Die sahen nicht nur nach Punk aus (das taten inzwischen alle – auch die aus gutem Hause), die rochen und sprachen auch so. Das war filzig, das war echt. Die verkörperten exakt das Lebensgefühl, das er während seiner Reisen nach Frankfurt immer gesucht hatte, aber bislang noch nirgendwo finden konnte. Er spürte intuitiv, dass er dem Rat dieses Typen, der Stephan hieß und diesen dreckigen Pennermantel trug, unbedingt folgen musste …


Denn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen

(Johann Wolfgang von Goethe)

Rückblick. Sechzehn Jahre zuvor. Matthias erblickte am Montag, den 16. April 1962, als Ältester von vier Brüdern der Familie Röhr das Licht der Welt. Zur selben Zeit wurde etwa 6.500 Kilometer westlich, in Washington D.C., Ian MacKaye geboren. Beide kannten sich nicht. Sie würden sich auch niemals kennenlernen. Doch verband sie nicht nur dasselbe Geburtsdatum, sondern auch die spätere Liebe zur Musik. Insbesondere zum Punk, zu Ted Nugent und zur Gibson SG.

MacKaye sollte in den kommenden Jahren eines der ersten Punklabels in Washington gründen, während jemand, der sich Gonzo nannte, in Frankfurt fast zeitgleich auf drei Jungs traf, deren Band Böhse Onkelz hieß. Doch bevor Geschichte überhaupt zu Geschichte werden konnte, musste zunächst mal die Gegenwart zur Vergangenheit werden.

Die sechziger Jahre galten gemeinhin als das Jahrzehnt des Aufbruchs, des Widerstands und der Veränderung. Drei Schlagwörter. Sie klangen gut. In ihnen lag so viel Freiheit und der Wille, sich weiterzuentwickeln. Wenn man ein Ausrufezeichnen hinter sie setzte, konnte man sie gar als direkte Aufforderungen verstehen, die es dringend umzusetzen galt.

Wie ein roter Faden zogen sie sich durch das Leben von Matthias „Gonzo“ Röhr. Ein Leben, das nicht nur zu Beginn permanent in Bewegung war. Schon als die ersten Schritte selbstständig gegangen werden konnten, begann er damit, die Welt um sich herum noch viel genauer zu erkunden. Eine Welt, die auch noch ohne Tablet, UHD-Sender und Smartphones ganz wunderbar funktionierte.

Ein Kind durfte noch ganz und gar ein Kind sein. Ohne Eltern, die wie Helikopter um die Kleinen herumflogen. Die dabei immer besorgt aussahen. Immer aufpassten. Immer ängstlich waren. Die Familie war stets die kleinste Einheit des Daseins. Sie bildete das zentrale Element, an der sich jedes Familienmitglied ausrichtete und die Sicherheit gab. Die entbehrungsreiche Zeit nach dem Krieg, die Flucht der Eltern und Großeltern aus Schlesien und Thüringen hatte die Sippen ohnehin zusammengeschweißt. Eine Verbindung von Generationen, die so stark war, dass kein Blatt Papier dazwischen passte und keine Krise das Fundament zum Wanken bringen konnte.

„In meiner Kindheit waren wir den ganzen Tag unterwegs“, erinnert sich Matthias. „Erst wenn die Straßenlaternen angingen und meine Mutter uns vom Balkon zum Abendessen rief, sind wir nach Hause gegangen.“

Kind sein bedeutete nicht App-Store, sondern unbeschwert die Welt zu entdecken. Wenn der Fernseher überhaupt angemacht wurde, dann allerhöchstens einmal die Woche, um Flipper zu gucken. Ansonsten traf sich Matthias mit seinen Freunden, und das bei jedem Wetter. Sie spielten Cowboys & Indianer, voll ausgestattet mit Pfeil und Bogen, und lernten dabei spielend, wie man Lagerfeuer machte, sich in der Natur verhielt und dass ein Schnitt mit dem Messer beim Schnitzen stark bluten konnte. Keiner fragte, ob dieses Treiben politisch korrekt sei. Sie bauten Seifenkisten, bei denen ihnen erst während der Fahrt auffiel, dass sie die Bremsen vergessen hatten. Alle tranken aus einer Flasche, und niemand starb an den Folgen. Das Leben kannte kein Netz und keinen doppelten Boden. Jeder gebrochene Zeh, jede Schnittwunde und jede Beule gehörte dazu und war Teil des Kindseins.

In den Grundschulen in Eschborn und ab der dritten Klasse in Kelkheim war das Tablet noch eine kleine Tafel mit Griffel und Schwamm. Erst in der zweiten Klasse in Kelkheim kamen die ersten Hefte zum Einsatz. In den Sommermonaten trugen die Jungs jeden Tag kurze Lederhosen. Die Dinger waren praktisch, bequem und mussten eigentlich nie gewaschen werden. Mit einem kleinen Fahrtenmesser in der Tasche fühlte man sich stets für alle Hindernisse der Natur bestens gerüstet.

Die ersten Lebensjahre verbrachte Matthias in der Eschborner Lilienthalstraße. Dort standen in diesem Neubaugebiet, dicht an dicht, dreistöckige Häuser. Und direkt gegenüber lag eine große, fette G.I.-Kaserne.

Die Eschborner Bevölkerung bestand damals noch zu einem Teil aus Amerikanern, die dort stationiert waren. Auch einige Nachbarn von Matthias hatten amerikanische Wurzeln. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war etwas über zwei Dekaden vorüber, und aus den Feinden wurden langsam Freunde. Die größten Schutthaufen waren längst weggeräumt, und der Wiederaufbau der zerbombten Städte war fast abgeschlossen. Krauts und Amis passten gut zusammen, und so manche von den Schrecken des Krieges alleingelassene und traumatisierte Witwe verliebte sich in die großen, starken Jungs.

 

Matthiasʼ damals bester Freund und unmittelbarer Nachbar hingegen war kein Amerikaner, sondern Pakistani und hieß Gigi Dorani. Bei Familie Dorani gab es Lebensmittel, die der junge Matthias Röhr nur aus Erzählungen kannte. Cornflakes und Erdnussbutter zum Beispiel. Beim Probieren dieser Köstlichkeiten jagte eine Geschmacksexplosion die nächste, und alles schmeckte für ihn nach der großen, weiten Welt. Eine ferne Welt, die ihn noch Jahre später magisch anziehen sollte.

Matthiasʼ Vater Joachim war gelernter Kaufmann, der in Frankfurt-Höchst einen kleinen Lebensmittelladen führte. Wenige Jahre später wechselte er zu einem zentraleren Büdchen im Westend – direkt an der Messe. Die damals in Westend ansässigen Fabriken waren voller Arbeiter, die schon morgens mit einem anständigen Herrengedeck (ein belegtes Brötchen und eine Flasche Bier) von Vater Röhr versorgt wurden.

Seine Mutter kümmerte sich aufopferungsvoll um die Familie, die – neben Matthias als Ältestem – zu dieser Zeit noch zwei weitere Söhne umfasste. Den ein Jahr jüngeren Stephan und den drei Jahre jüngeren Martin. Der vierte Sohn Karsten wurde erst ganze zehn Jahre nach Matthias, im Jahr 1972, geboren.

Joachim Röhr arbeite viel und war fast nie zuhause. Sein Tag begann früh morgens um fünf und endete meist erst spät abends gegen dreiundzwanzig Uhr. Der gleiche Trab, von montags bis samstags und sonntags noch einmal halbtags. Matthias und seine Brüder bekamen ihren Papa kaum zu Gesicht. Für das familiäre Oberhaupt war das zwar bitter, aber alternativlos, schließlich hatte er eine damals fünfköpfige Familie zu ernähren. Und fünf Mäuler aßen eine ganze Menge. Die Butterbrote schmierten sich nicht von allein, sondern mussten sauer verdient werden. Das war kein Blumenpflücken. Nicht damals und auch nicht heute.

Ganze zwei Urlaube sprangen dank dieser Schufterei heraus – einer zu Besuch bei Verwandten in der DDR und einer an der Nordsee. Die restlichen Jahre war Matthiasʼ Vater, den er als konservativ, aber weltoffen beschreibt, in seiner Trinkhalle am Schuften. Arbeitszeiten, die es praktisch unmöglich machten, auch noch die Erziehung der Söhne zu managen.

Das erledigte seine Frau. Ein großes Herz voller Mutterliebe, das hin und wieder wütend wurde, wenn der alte Herr am Wochenende den Teilzeit-Vater heraushängen ließ und gern auch ein Wort bei der Erziehung mitreden wollte. Schließlich waren das stolze Jungs – echte Röhrs, und wenn er nicht wusste, was für seine Söhne am besten war –, wer dann?

Matthias war kein einfaches Kind. Schon in den Kinderschuhen ein kleiner Rebell, sorgte er früh für die ersten grauen Haare seiner Mutter. Hatte er wieder einmal etwas ausgefressen, bestand ihre letzte Möglichkeit nur in der Drohung, dass es „vom Vadda, sobald der zuhause ist, richtig Ärger geben wird“!

Wenn der allerdings das Büdchen abgeschlossen hatte und daheim eintraf, war es meistens viel zu spät, um irgendjemanden auszuschimpfen. Das wusste Matthias nur zu gut. Dementsprechend sorglos verschob er die Grenzen des Sag- und Machbaren. Manchmal aber, da ließ sich eine Standpauke einfach nicht vermeiden. Lange Arbeit hin oder her. Und nicht selten war dieses Gewitter für Matthias reinigend und nachhaltig. Die Autorität des Alten konnte nicht angekratzt werden. Es genügte ein böser Blick, um seinen Ältesten zum Schweigen zu bringen.

Handgreiflichkeiten gab es selten. Selbst, wenn zu dieser Zeit innerhalb der Familien noch oft die Hand ausrutschte, ruhte sie bei Joachim Röhr meistens in der Hosentasche.

Ohnehin genossen die Jungs viele Freiheiten, die sie in und mit der Natur auslebten. Alle Röhrs liebten das Land, die Wälder und die Wiesen ringsherum. Und Hessen hatte von derlei viele im Angebot.

Die Großeltern, die in der Umgebung wohnten, waren genauso gern an der frischen Luft. Und schon früh zeigte der gesamte Familienverband diesen Söhnen, welcher Wert in ihrer Umwelt lag und wie sie damit umzugehen hatten. Das, was andere Gleichaltrige bei den Pfadfindern oder im Rahmen einer „Stadtranderholung“ – selten freiwillig – lernen mussten, sogen Matthias, Martin und Stephan aus eigenem Antrieb auf. Baum- und Pflanzenkunde, Pilze. So viele verschiedene Pilze. Waldwanderungen. Spaziergänge bei Wind und Wetter.

Bald kannte Matthias jeden Stein und hatte mindestens einmal seinen Namen in jede Rinde eines jeden Baumstammes geritzt, den es weit und breit gab.

Sonntagnachmittag war ein beliebter Ausflugszeitpunkt. Wenn der Vater den Kiosk an der Messe geschlossen hatte, wurde nachmittags den Söhnen Kultur vermittelt. Dann ging es oft zum Niederwalddenkmal am Rande des Landschaftsparks Niederwald. Das am 28. September 1883, nach sechs Jahren Bauzeit eingeweihte Denkmal, erinnerte an die Einigung Deutschlands 1871. Seit 2002 ist es sogar Teil des UNESCO-Welterbes.

Das Deutsche Eck – der Zusammenfluss von Rhein und Mosel, dem Koblenz seinen Namen verdankte – war ebenfalls ein beliebtes Tagesziel der Familie. Das Ehrendenkmal für Kaiser Wilhelm I., das im August 1897 eingeweiht wurde und den majestätischen Hintergrund der Landzunge von Koblenz bildete, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Übrig blieb nur der Sockel, der allerdings noch immer für viel Aufmerksamkeit sorgte. Erst später, 1993, konnte eine Kopie des alten Reiterstandbilds auf selbigen gehoben werden.

Matthiasʼ Vater liebte die gemeinsamen Unternehmungen mit seiner Familie. Wo Vater Rhein auf Mutter Mosel traf, waren Vater und Mutter Röhr mit ihren Söhnen nicht weit.

Er selbst war gegen Ende des Zweiten Weltkrieges mit seiner Familie geflüchtet und hatte später von Pfungstadt, südwestlich von Frankfurt, aus regelmäßig wochenlange Fahrradtouren über Koblenz und Mainz mit seinem Bruder unternommen. Diese Liebe zur deutschen Kultur und Natur gab er später auch an seine Kinder weiter.

Obwohl er durch die Selbstständigkeit nur sehr wenig Zeit hatte, nutzte er die ihm verbleibende an den Sonntagen intensiv mit den Menschen, die er liebte. Das glich ein bisschen das spärliche Zusammensein unter der Woche aus. In Matthiasʼ Erinnerung waren das die Tage, an denen er seinem Vater so nahe war wie sonst nie.

Die erste große Liebe im Leben des Matthias Röhr war eine, die er auch direkt von seinem Vater Joachim und dessen Brüdern Horst und Helmuth geerbt hatte. Eine, die nach Benzin und verbranntem Gummi roch. Die Lust auf alles, was vier oder zwei Räder besaß und von ihm gelenkt werden konnte.

Matthiasʼ Lieblingsauto war, neben den Mercedes-Modellen, die sein Onkel Horst bevorzugt fuhr, der von 1938 bis 1970 produzierte Opel Kapitän. Zunächst als Mittelklassewagen gestartet, stieg der Sechszylinder im Jahr 1964 in die Oberklasse der deutschen Automobil-Landschaft auf. Der 2,6-Liter-Motor mit 125 Pferdestärken erschien in drei Ausstattungsvarianten, deren Spitzenmodelle „Admiral“ und „Diplomat“ waren.

Der Opel „Diplomat“ war ein absoluter Hingucker und für Matthias ein unfassbar großes Auto. Selbst zu fünft auf der Rückbank fand sich noch Platz für Gepäck. Matthias liebte dieses lässige Auto. In der Regel erneuerte sein Vater alle zwei Jahre seinen Fuhrpark, und Matthias nahm jedes Mal, wenn der Alte einen fabrikneuen Schlitten das erste Mal vor der Einfahrt parkte, begeistert auf dem Fahrersitz Platz und stellte sich vor, damit in die große, weite Welt zu fahren.