Gonzo

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Headliner bestanden aus Matthias Röhr, der sang und die Leadgitarre spielte, Ralf Jaklin zupfte den Bass, Tommy G. saß am Schlagzeug, und Norbert Nebenführ zockte die Rhythmusgitarre. Zunächst wurden Songs der Stones und von Chuck Berry („Johnny B. Goode“) gecovert, doch schon nach kurzer Zeit schrieben die Jungs eigene Stücke. Alle auf Englisch und alle den großen Bands der Endsiebziger huldigend. Ein bisschen AC/DC und KISS, eine Prise Rolling Stones und ein Schuss Deep Purple.

Der örtliche Handballverein überließ Headliner die Halle, um eine erste eigene Show zu spielen. Tommy ließ DIN-A4-Plakate über seinen Vater drucken, die anschließend wild um Liederbach und Kelkheim herum aufgehängt wurden. Der Eintrittspreis betrug neunundneunzig Pfennig. Irgendjemand hatte Norbert im Vorfeld gesagt, dass ab einer Mark Eintritt die GEMA auf der Matte stehe, und das wollte nun wirklich niemand riskieren.

Die Halle hatte eine kleine Bühne, und es wurde sogar noch ein „Support Act“ aus dem Umkreis an den Start gebracht. Fast zweihundert musikinteressierte Menschen wohnten dem ersten Gig von Headliner bei. Ein Erfolg, der Matthias, Ralf, Tommy und Norbert stolz machte. Damit hatte niemand gerechnet. Nebenführs Vater, der an jenem Abend auch anwesend war, fiel direkt Matthiasʼ Art und Weise auf, mit dem Publikum zu interagieren. Dass der sich außerdem als Gitarrist pudelwohl fühlte, war offensichtlich.

Wenig später stieß Andreas B. als neuer Sänger hinzu. Man lernte ihn auf einer der unzähligen Partys kennen. B. sang damals Songs von Pink Floyd rauf und runter. Seine hohe Stimme begeisterte. Das war der perfekte Mann, um die Gallionsfigur von Headliner abzugeben.

Nun konnte sich Matthias voll und ganz darauf konzentrieren, ein waschechter Gitarrist zu sein. Er konnte von links nach rechts laufen, grinsen, seine Axt in den Händen halten und die Gitarre wie ein richtiger Rockstar hochreißen. Soli spielen, die Crowd anfeuern und lauthals mitgrölen. Aber ohne Mikrofon. Singen war seine Sache nicht.

B. konnte das besser und hatte obendrein noch echte Entertainer-Qualitäten, die das Publikum mitreißen sollten.

Norbert erinnert sich gut an die Monate, in denen Headliner richtig anfingen zu wachsen: „Im Proberaum ging es teilweise gut ab. Matthias hatte einen Song für seine damalige Freundin geschrieben, dessen Text er aber irgendwie nicht mochte. Also hat er einfach den Zettel samt Ketchup gefressen und wenig später ausgekotzt. Wir haben immer zusammengesessen, Bier getrunken, geraucht und Pommes gegessen. Langsam wurde auch das Equipment besser. Matthias und ich haben uns dann Stratocaster-Nachbauten von Ibanez gekauft. Die klangen deutlich geiler.“

Andreas B. hatte eine Connection zu einem Aufnahmestudio klargemacht, in dem die Jungs ein bisschen die Luft professioneller Bands einatmen sollten. Die Besitzer waren schmierige Typen, die eher mit Schlager oder Discomusik gerechnet hatten, weniger mit Hard Rock. Und als die Matthias und dessen Aussehen sahen, witterten sie die Chance, aus ihm einen Schlaghosen tragenden Discotypen zu machen, den sie managen wollten.

„Vergesst es, ihr spinnt wohl“, sagte der. Damit hatte sich das Thema der Studioaufnahmen erledigt.

Der große Traum, Headliner würde es irgendwann aus der hessischen Provinz rausschaffen, wurde im Laufe des Jahres zerschlagen. Es gab noch einen Gig während des Schulfests in Kelkheim-Fischbach, und man hing zusammen viel ab, schaute gemeinsam die ersten Rocknächte im Fernsehen, während derer man schwer von Motherʼs Finest und Rory Gallagher begeistert war, aber langsam ging es bergab.

Erledigt hatte sich bald auch die Schulzeit. Zumindest für Norbert, der unmittelbar nach der Schule eine Lehre begann.

Matthias durfte noch eine „Ehrenrunde“ drehen.

Es half alles nichts, und als auch noch Tommy die Band verließ und man auf die Schnelle keinen Schlagzeuger finden konnte, sahen sich Headliner mit dem Beinahe-Ende konfrontiert.

Norbert: „Matthias war schon damals ein Typ, der seine Freunde brauchte und schätzte. Er war ein prima Kumpel, auf den man sich immer verlassen konnte, der aber auch den unbedingten Willen hatte, sich musikalisch weiterzuentwickeln. Er kam auch mit unserem neuen Schlagzeuger nicht zurecht, es entstanden Spannungen. Matthias hat Headliner dann 1979 verlassen. Wenig später ist er nach Frankfurt gezogen. Ab da hat man sich dann leider komplett aus den Augen verloren. Dennoch: Ich erinnere mich mit Genuss an die gemeinsame Zeit mit dem späteren ‚bösen Onkel‘.“

Spätestens ab Ende des Jahres 1979 war Matthias oft Gast in der Offenbacher Stadt- oder der Frankfurter Jahrhunderthalle. AC/DC wurden besucht, damals noch Vorgruppe von Rainbow, deren Musik Kultstatus besaß. Später, noch ehe Bon Scott viel zu früh das Zeitliche segnete, kam es sogar zu einem kurzen Treffen mit Bon, Malcom und Angus während ihres Gastspiels in Offenbach.

Led Zeppelin, Rush und unzählige weitere Bands wurden auf deren Shows abgefeiert und angefeuert. Vor allem aber wurden sie beobachtet. Matthias stand selten mitten im Publikum, noch viel seltener oben auf den Rängen, sondern nahezu immer direkt vor der Bühne und betrieb fleißig „Augenklau“. Fasziniert wanderten dann seine Blicke von links nach rechts. Vom Bassisten zum Gitarristen, und dann, wenn es richtig im Magen kribbelte, weil die Bassdrum drückte, schaute er ganz genau auf den Drummer.

Im Geiste speicherte er alles ab, was er hörte und ihm eine krasse Gänsehaut bescherte, um es anschließend zuhause nachzuspielen. Darin konnte der junge Röhr eine fast schon pedantische Geduld und Genauigkeit an den Tag legen. Erst, wenn das Solo oder das Lick einwandfrei reproduziert werden konnten, wurden sie für Zuhörer adaptiert. Die Kunst lag allerdings darin, sie nicht bloß eins zu eins zu kopieren. Die Gefahr, die im reinen Covern der Lieblingskünstler lag, erkannte er schon damals. Das katastrophale Ergebnis der Bands, die ausschließlich so agierten, konnte man auf vielen Dorffesten, bei Scheunenfeten und in diversen Jugendzentren hören. Null Prozent eigene Kreation, hundert Prozent Kopie.

Das war nicht das, was Matthias wollte. Sein Bestreben lag nicht im Kopieren. Nicht 1979, nicht 1999 und auch nicht 2019. Unselbstständigkeit und Stillstand waren ihm schon als Jugendlicher verhasst. Der Kelch des Nachspielens und der damit verbundenen schleichenden Mutation zum Cover-Gitarristen ging glücklicherweise an ihm vorüber. Und das hatte einen einfachen Grund. Beherrschte man die Songs einmal gründlich, legte man sie einfach erneut auf und improvisierte selbst, während im Hintergrund der Original-Track auf dem Plattenteller seine Runden drehte. Matthias spielte dann seine ureigenen Interpretationen der glorreichen Mid-Seventies-Rockbands. Die schon erwähnten Black Sabbath und Stones waren genauso dabei wie Sweet, Slade, Lynyrd Skynyrd oder die Faces. Und er war schnell darin, zu lernen und zu improvisieren.

Irgendwann zu Beginn des Jahres 1979 spielte er in der Band Sinner. Zu jener Zeit warf der Punk schon seine Schatten voraus. Lange schwarze Haare, Lederjacken, Wrangler-Jeans mit 45er-Schlag, Sonnenbrille und ein dahinter lauernder „Leckt mich alle am Arsch“-Blick.

Herr und Frau Röhr entzündeten kein Tischfeuerwerk, als sie ihren Sohn das erste Mal so nach Hause kommen sahen. Seine Bandkollegen sahen ähnlich wie er, aber doch anders aus. Grauer Parker, Kiffer-Scheitel, rote Jeans, Adidas-Sneakers.

Oliver, Schulkamerad und Drummer von Sinner, schminkte sich das Gesicht weiß, zog die Mundwinkel mit schwarzem Kajalstift nach unten und gab den desillusionierten, traurigen Clown zum Besten. Zwei Jahrzehnte, bevor Brandon Lee als „The Crow“ mit einem ähnlichen Outfit zur Kultfigur wurde.

Martin Röhr, heute Schlossermeister und seit vielen Jahren verheiratet, wurde 1965 geboren und ist Matthiasʼ kleiner Bruder. Einer von drei „kleinen Brüdern“. Bis zum großen Durchbruch der Onkelz 1991 arbeiteten die beiden Röhrs bei derselben Firma in Frankfurt. Heute wohnen er und seine Frau Anna in einem kleinen, beschaulichen Vorort von Frankfurt am Main. Martin erinnert sich heute gern an diese Zeit zurück, in der alles möglich war. Die mittleren Siebzigerjahre tauchten während unserer Gespräche immer wieder sonnenwarm vor seinem inneren Auge auf. Sprach man mit ihm, veränderte sich leicht, aber hörbar, seine Stimmlage. Er erzählte frei über seinen Bruder Matthias, den Rockstar.

„Für mich war Familie immer das Wichtigste. Und ich habe eigentlich immer versucht, die Familie zusammenzuhalten“, sagt er. „Die wilden Jahre und die langen Haare. Das hat oft für wenig Gelächter bei uns zuhause gesorgt. In Liederbach gab es sonntags beim Mittagessen eigentlich immer die Gespräche mit Matthias. Unser Vater konnte da schon sehr penibel sein, wenn ihm was nicht gepasst hat. Das lief dann so ab, dass wir uns, nachdem mein Vater von der Arbeit zurück war (sonntags war die Gaststätte des Vaters immer von morgens bis mittags für den Frühschoppen geöffnet), zum Mittagessen zusammensetzten und nach kurzer Zeit die ‚Moralpredigt‘ losging: ‚Junge, die Haare müssen ab‘, sagte er immer. Und mein Bruder hat dann immer genickt und so getan, als höre er ihm zu. Tat er natürlich nicht. Wenn man Matthias kannte und wusste, was ihn interessierte, dann sah man auch schnell, dass bei ihm die Standpauken und Belehrungen unseres Vaters eher weniger taugten. Das ging sogar so weit, dass unser alter Herr bei ihm selbst Hand anlegen und die Haare schneiden wollte. Im Grunde genommen war es Joachim ein Graus, seinen ältesten Sohn so zu sehen. Und da war natürlich auch diese beständige Angst mit im Spiel, dass Matthias jetzt oder irgendwann Drogen nehmen könnte. Unsere Eltern waren ja nun vom Fernsehen und den Zeitungen vorgewarnt. Die wussten, dass eine lange Mähne und amerikanische Rockmusik dazu geeignet waren, die damalige Jugend zu verderben …“

 

Martin erinnerte sich auch an die Versuche seiner Eltern, das Bild der heilen Familienwelt nach außen hin zu wahren: „Wir waren eine klassische deutsche Familie, in der alle Kinder so einen Topfschnitt hatten. Gerader Pony, Topf auf den Kopf, rundherum abschneiden. Und Matthias war derjenige, der irgendwann niemanden mehr an seine Haare ranließ. Er war da auch eigentlich Vorreiter bei uns im Dorf, denn jeder der Gleichaltrigen hatte noch diese 0815-Frisur. Auf jeden Fall war das Phase eins in der Rebellion meines Bruders, zu der sich noch – wie wir alle wissen – jede Menge weiterer Phasen dazugesellen sollten. Für meine Eltern war immer total wichtig, was andere Leute über uns dachten. Dieses typische Nachkriegsding eben: Man wollte um jeden Preis vermeiden, dass schlecht über die Familie geredet wurde. Sauberer Vorhang. Das war extrem wichtig. ‚Mach dies nicht, tu jenes nicht. Was sollen Oma und Opa dazu sagen? Dreh die Anlage leiser, und überhaupt, was sind das denn für primitive Typen, denen du da zuhörst?‘ Das war Matthias aber, der zu der Zeit ja schon mächtig am Pubertieren war, schnell scheißegal. Da wurden dann auch gern mal mit Absicht die Zimmertüren zugeknallt oder vor der Haustür, damit es alle Nachbarn deutlich mitbekamen, Widerworte gegeben.“

Auf die Frage, wie er das Verhalten seines Bruders zu dieser Zeit bewerte, sagte Martin: „Schwierig. Matthias hatte ja bei uns im Haus im Keller sein Zimmer. Und man hat ihn innerhalb des Hauses verhältnismäßig wenig gesehen. Im Grunde genommen gab es für ihn schon zu dem Zeitpunkt nichts Wichtigeres als Musik. Da waren schon die Jeans angemalt, da stand auch schon AC/DC auf seinem Rucksack. Als ich dann älter wurde, bin ich auch gern mal mit in den Proberaum von Headliner und Sinner gefahren und habe mir dort angeguckt, was die Jungs so treiben. Das hat Matthias auch schon so ein bisschen Spaß gemacht, das hat man gemerkt. Es gab Phasen, da haben wir viel zusammengesessen und in seinem Zimmer abgehangen, und dann gab es wieder Momente, wo wir uns fast gar nicht gesehen haben. Aber ich wusste eigentlich immer, dass ich mich auf meinen großen Bruder verlassen konnte. Das hat sich bis heute nicht geändert.“

Matthias blühte auf. Seine ganze Galaxie verschob sich, dehnte sich aus, und plötzlich, so schien es ihm, gab es keine Grenzen des Vorstellbaren mehr. Der Horizont des Musikalischen, er war noch lange nicht in Sicht- und ebenfalls nicht in Hörweite. Er expandierte. Und mit ihm sein Umfeld.

Kelkheim wurde ab 1979 immer wichtiger – falls das überhaupt noch möglich war. Hier wurde getanzt, hier wurde getrunken und gesoffen, hier wurde gekifft und gebumst. Erste Freundinnen kamen und gingen, kurze Bekanntschaften wurden geschlossen und wieder verworfen.

Immer, wenn der inzwischen siebzehnjährige Matthias Röhr das Haus in Lieder­bach verließ, um sich auf den Weg nach Kelkheim zu machen, hatte er einen Stapel Platten unter seinen Arm geklemmt. Nach ein paar Monaten, die Anzahl der Platten, die er mitnehmen wollte, wuchs beständig, steckte er das Vinyl in Einkaufstüten. Und immer wieder trug er auch Double Live Gonzo! von Ted Nugent spazieren.

Das Album wurde rauf- und runtergehört. Beinharter Rock, tiefer gestimmte Gitarren (gern eine untypische Gibson Byrdland, die zu Teds Markenzeichen avancierte), wilde und absolut unangepasst aussehende Typen, die ziemlich ernst nahmen, was sie sangen. Lange Haare, Bärte, Lederjacken. Und dazu auch noch live. Den Begriff des Stoner Rock gab es seinerzeit noch nicht, aber eigentlich passte er zu der Musik wie die Faust aufs Auge.

Nur war Nugent nie „stoned“. Drogen verabscheute der Detroiter Rocker schon von Beginn an. Waffen (viele, viele Waffen), die Jagd und frische Pelze hingegen, die mochte er. Dennoch war Theodore Anthony Nugent 1979 noch viele Jahre von den skandalösen und antisemitischen Aussagen entfernt, die er über zwei Dekaden später tätigen sollte.

Der „Motor City Mad Man“ hatte zur Mitte der ausgehenden Siebzigerjahre seine Solokarriere gestartet und sich direkt mit großem Erfolg in den USA etabliert. „Stranglehold“, einer der bekanntesten Songs von Nugent, stammt gar von seinem Debütalbum. Von 1975 bis 1980 wurden insgesamt fünf Studio- und ein Live-Album veröffentlicht, von denen sich alle in den Top 30 und vier in den Top 20 der Billboard Charts einreihen konnten, ehe Nugents Solokarriere ab 1982 zu stagnieren begann.

Double Live Gonzo! war eines dieser Alben, das Matthias faszinierte. Schnell breitete sich das Nugent-Virus in Kelkheim aus, und noch schneller wurden sich die größten Hits des Detroiters draufgeschafft.

Und während 1978 der 1. FC Köln deutscher Meister, Argentinien Fußball-Weltmeister und der Mount Everest von Messner bezwungen wurde, mutierte Matthias Röhr langsam, aber stetig zu „Gonzo“. Auch, aber eben nicht nur, weil „The Nuge“ omnipräsent war, denn eigentlich war das nur ein Drittel der Wahrheit.

Privatpartys waren ein essentieller Bestandteil der Jugend zur damaligen Zeit. Noch viel mehr als in den Neunzigern, und erst recht als in den Zweitausendern, wurde oft und gern dort gefeiert, wo man sich am besten auskannte: daheim.

Zehn, maximal fünfzehn Jungs und Mädels, die man mochte und mit denen man eh schon die ganze Zeit abhing, rauchte und trank, wurden eingeladen, und die meisten brachten ihre Lieblingsplatten mit. Jedes Wochenende bei jemand anderem. Die Aussage „Bei mir ist am Freitag sturmfrei“ reichte, um die Synapsen vor lauter Vorfreude zum Durchbrennen zu bringen.

Im Partykeller, oft (aber längst nicht immer) unter der Aufsicht einer erziehungsberechtigten Person, wenn sich das versprochene „sturmfrei“ doch als Ente entpuppt hatte, wurde dann das Teenager-Dasein in vollen Zügen genossen. Unter der wärmenden dreilampigen Lichtorgel, nach dem Genuss einiger alkoholischer Getränke oder von Cannabis, wurden die Mädels, wenn man Glück hatte, schmusig. Discofox, Nazareth („Love Hurts“), die Beatles („Hey Jude“) oder Schnulzenmusik aus Italien („Ti Amo“ von Umberto Tozzi war die musikalisch vollstreckte Kastration eines jeden jungen Mannes) wurden aufgelegt, um eng aneinandergeschmiegt miteinander zu tanzen.

Und wenn der Pflichtteil vorbei war, die Mädchen glücklich und die Kerle genügend angeheitert waren, wurden die härteren Geschosse auf die Turntables gelegt. Dann hieß es: Kein Halten mehr bei KISS, Banging bis zur Nackenstarre bei Black Sabbath, Luftgitarre bei Deep Purple, Led Zeppelin und – natürlich – andächtige Bewunderung des Könnens von Ted Nugent. Das war das zweite Drittel.

Auf einer dieser Partys lernte Matthias dann auch den erweiterten Freundeskreis seines damaligen Klassenkameraden und Bandkollegen Oliver kennen. Der hatte schon 1978 seinen Führerschein gemacht. Mit seinem orangefarbenen VW Käfer fuhren also er und Matthias Röhr, so oft es eben ging, von Liederbach und Kelkheim nach Hofheim am Taunus, direkt zum Proberaum ihrer Band.

Öfter mit an Bord: Sabine, Matthiasʼ damalige Freundin, Ute, die beste Freundin von Sabine, und der weibliche Dunstkreis von Oliver, der immer aus mindestens zwei Damen bestand. Eben jene Mädels waren, das konnte man ihnen deutlich ansehen, sehr froh darüber, mit derart harten Jungs unterwegs zu sein. Und wenn dann mal, nach vielen Kippen und noch mehr Dosenbier, angefangen wurde zu proben, waren Sabine, Ute und die anderen immer am Start. Die erste Reihe, direkt vor Sinner aufgebaut.

Eines dieser Mädchen hieß Tanja. Siebzehn Jahre. Langes blondes Haar. Vollbusig. Ultra-heiß. Enge Schlagjeans, Lederjacke, stets einen frechen Spruch auf den Lippen und immer mit dabei.

An besagtem Abend hatte sie einen echten Geistesblitz. Einen, der so naheliegend war, dass es schon beinahe albern wirkte.

Die Muppet Show erfreute sich 1978 nicht nur größter Beliebtheit, sondern war regelrecht der „heiße Scheiß“. Brandneu und urkomisch. Und weil es bei vielen Bands gerade trendy war, der Besatzung Spitznamen zu verpassen, zeigte Tanja mit dem Zeigefinger auf die spielenden Sinner. Zuerst auf Oliver. Natürlich. Das wird Fozzie Bär.

Dann auf den Sänger. Der wurde zu Scooter. Der sah auch ein bisschen so aus. Wild, leicht durchgedreht. Ein zappeliger Typ.

Matthias bekam den populärsten Namen verpasst.

„Ok, gut. Naja, dann bin ich ab jetzt eben Gonzo“, hatte er schulterzuckend gesagt, und dabei mussten alle anfangen, lauthals zu lachen.

Das war das letzte Drittel. Fortan gab es nur noch Matthias „Gonzo“ Röhr.


You can’t arrest me,

I’m a rock star

(Sid Vicious)

Irgendwann kam jeder Mann an den einen, entscheidenden Punkt in seinem Leben, der ihn unweigerlich dazu zwang, alles zu hinterfragen, was bislang als feststehendes Gesetz (moralischer oder ethischer Natur) in ihm schlummerte.

Veränderungen, die ihn dazu nötigten, seine bisherige Vita komplett zu hinterfragen.

War ich bislang wirklich frei? Mache ich mir eigentlich irgendetwas vor, indem ich mir kontinuierlich einredete, ich sei glücklich? Was wäre wohl aus mir geworden, wenn ich diese oder jene Abzweigung nicht gewählt hätte?

Diese Fragen mochten für manche von geringerer, für andere von größerer Bedeutung sein, aber keiner konnte sich wirklich vor ihnen verstecken: Sie führten dich auf die Straße der Selbsterkenntnis, übernahmen dein Lebenssteuer, und wenn du es zuließt, brachten sie dich ein Stück näher ans Ziel. Egal, welches das auch immer war oder wo dieses auch immer liegen mochte.

Und was ebenfalls stimmte: Die Fragen nach den essentiellen Bausteinen des eigenen Lebens tauchten bei manchen später, bei wenigen zu spät, bei anderen hingegen sehr früh auf.

Matthias stellte sich diese Fragen schon zu einer Zeit, als Gleichaltrige noch auf der Suche nach sich selbst im Treibsand der Pubertät stecken blieben. Und er beobachtete genau, wie manche dieser Mitschüler sich erst mit ausgetreckten Armen und wild um sich schlagend aus dem Klammergriff der Schule befreien konnten. Oder aus dem Würgegriff der Eltern.

Junge, es wird langsam sehr ernst. Du musst dringend eine Ausbildung finden. Aber wie willst du das ohne Abschluss schaffen? Meinst du, dafür haben wir dich auf die Realschule geschickt? Dass du keinen Abschluss bekommst?

Nachdem dieser Junge in den Jahren 1976, 1977 und 1978 alles an Gitarrenmusik konsumierte, was nicht schnell genug vor ihm davonlaufen konnte, und nachdem er eifrig und mit unstillbarem Durst den Texten der großen amerikanischen Rockkünstler gelauscht hatte, verspürte er den Drang, sich weiterzuentwickeln.

Dazu passte, dass diese Welt der Erwachsenen, die sich vor ihm auftat und in die er jetzt eigentlich hineingleiten sollte, irgendwie nach Fäulnis roch. Erst war es ein leichter, süßlicher Geruch, den man nur mit jeder Menge Konzentration wahrnehmen konnte. Doch mit der Zeit wurde er präsenter. So lange, bis sich dieser Mief nicht mehr ignorieren ließ. Kein Sagrotan konnte übersprühen, was derart stark verrottete. Ein Gestank, der von nun an immer über den Dingen hing, die ihm eine Lehr- oder anderweitige „Respektsperson“ erklären wollte.

Waren die Schuljahre zuvor schon kaum auszuhalten, glichen sie jetzt, so kurz vor dem Ende der zehnten Klasse, purer, menschenverachtender Folter. Matthias kam alles, das Autorität und Obrigkeitsgehorsam ausstrahlte, komisch vor.

Er mochte keine Lehrer, keine Staatsgewalt, keine Parteipolitik, aber noch viel weniger hatte er Verständnis für diejenigen, die sich all diesen Irrungen und Wirrungen unterwarfen, ohne sie zu hinterfragen.

Von acht Uhr morgens bis dreizehn Uhr fünfzehn war krassestes Aus-dem-Fenster-gucken-und-Träumen angesagt. Auch der Musikunterricht konnte ihn nicht mehr retten, so gern er auch Herrn Ullrichs Ausführungen zuhörte. Ihm würde Matthias auf ewig dankbar sein. Dafür, dass dieser eine coole Lehrer ihn an die progressiven Rockbands herangeführt hatte, unter denen Deep Purple noch die zu ihrer Zeit harmloseste war.

Die neunte Klasse musste er schon zwei Jahre zuvor wiederholen, und die Mittlere Reife stand im Sommer ʼ79 mehr als nur auf der Kippe. Es gab gutes, kaltes Dosenbier in den Pausen, auf die er immer so sehnsüchtig wartete wie der Häftling auf den Besuch seiner Liebsten. Diese kurzen zwanzigminütigen Momente der Freiheit rochen zwar noch immer grauenhaft-übel, besonders dann, wenn man den Jungentoiletten zu nahe kam, aber diese Momente gaben Matthias auch die Möglichkeit, seine ganze Ablehnung dem System gegenüber zur Schau zu stellen.

 

Und wie er das genoss.

Direkt angrenzend an das Schulgelände lag der Sportplatz mit seiner angeschlossenen Vereinsgaststätte. Hier trafen sich dreimal wöchentlich die Ingos, Kalles, Günters, Haralds und Dietmars des Ortes, um ordentlich abzupumpen und um zwischen zwei Schoppen die Ballkünste der eigenen Söhne zu kommentieren.

„Nimm ihn nisch mit de Pick, verdomm nochmoar!“

„Bub, jetzt schieß endlisch!“

„Eieiei … aus deinem Jung wird nie ei gescheider Fussballeeer, gloob mir.“

Der Wirt hieß Klaus W. und war eigentlich ein ganz guter Typ. Nach ein paar Wochen des Abtastens dauerte es nicht mehr lange, da hatte W. – pünktlich zum Große-Pause-Klingeln –, das Bier für Matthias und seine Kumpels auf der Theke stehen. Und dann wurde der Kopf in den Nacken gelegt, das Maul weit geöffnet und das Bier geext.

Nachdem man festgestellt hatte, dass man auch in weniger als zwanzig Minuten mehr als einen Liter Gerstensaft trinken konnte, hatte sogar die Lehranstalt etwas Gutes.

Die Realschule hörte unwiderruflich nach der zehnten Klasse auf, doch blieb man als Schüler in den Vorjahren mindestens einmal „kleben“, so war man automatisch immer ein Stückchen älter, stärker und größer als der Rest. Und man gab den Ton an.

Zusammen mit Oliver, der schon immer als der Klassenstärkste galt, und einigen anderen „Null-Bock-Typen“ wurde geraucht, gepöbelt und gesoffen. Pünktlichkeit? Das Einzige, was Matthias zu dieser Zeit pünktlich wahrnahm, war das Klingeln zum Schulschluss.

Und weil das begierige Warten auf den Nachmittag auch unweigerlich dazu führen musste, dass man sich kaum noch mit zu machenden Hausaufgaben beschäftigen wollte, war die logische Konsequenz klar. Und sie bedeutete eben nicht nur, dass man ihm den Realschulabschluss im Sommer 1979 verweigerte, sondern auch, dass man diesen ungehobelten, immer nach Nikotin und Alkohol riechenden, in Jeans und US-Army-Hemden gekleideten, langhaarigen, unerziehbaren Halbstarken zusammen mit fünf weiteren Krawallmachern von der Eichendorffschule schmiss.

Das hatte gesessen.

Damit sah es für das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland nach einem Sieg innerhalb von nur wenigen Runden und für Matthias „Gonzo“ Röhr nach einem Knock-out aus. Das Land verpasste dem rebellischen Teenager hier, der partout weder hören, geschweige denn zuhören wollte, einen ersten harten Schwinger, der ins Schwarze traf. Das war schon kein Warnschuss mehr. Die Faust traf direkt auf den Solarplexus.

Daheim gab es eine Standpauke vom Allerfeinsten.

„Ist das dein Ernst, Sohn? Wie soll es jetzt weitergehen?“

Eigentlich war Matthiasʼ Rausschmiss aus dem Schulsystem nur folgerichtig. Besonders, wenn man die Entwicklung berücksichtigte, die er bis hierhin genommen hatte. Weniger als Trost, sondern vielmehr aus der Not heraus überreichte man ihm zähneknirschend einen Hauptschulabschluss, mit der Bedingung, sich in den letzten Wochen nicht mehr in der Schule sehen zu lassen.

Das Zeugnis fiel genau so aus, wie man es erwartete. Und schon damals war der Abschluss der Hauptschule nicht unbedingt der Garant für einen Ausbildungsplatz. Joachim Röhr war nicht amüsiert. Ganz und gar nicht.

Die letzten Schulwochen über ließ Matthias, der sich von nun an immer häufiger einfach Gonzo nannte, seine Tarnung fallen. Er gab einen Scheiß auf den Abschluss, den man ihm nicht geben wollte. Ihn kümmerten jetzt überhaupt keine Noten mehr, keine Klausuren, keine Hausaufgaben. Der gezielte Treffer der Eichendorff-Realschule in Kelkheim wurde von Matthias zwar registriert, aber danach konsequent ignoriert.

Was andere Schüler schon bereut hätten, nachdem ihre Eltern ihnen die Hölle heißgemacht hatten, löste bei ihm nur ein desinteressiertes Schulterzucken aus. Ein kurzes „Abbutze und weidermache“, das warʼs.

So was kam zuhause nicht gut an. Das konnte nicht sein Ernst sein, nicht als ältester Sohn der Familie. Nicht als der, der seinen drei Brüdern als Vorbild dienen und mit ihnen in die Zukunft schreiten sollte. Der Unfrieden kehrte in die eigenen vier Wänden ein – und Matthias? Der nahm das Gezeter und die Ermahnungen seines alten Herrn nur als weißes Rauschen von ganz weit weg wahr.

Es war zum Haare raufen. So hatte sich das Familienoberhaupt der Röhrs die Pubertät des ersten eigenen Sprösslings ganz bestimmt nicht vorgestellt. In ihm keimte zwar noch Hoffnung, dass es Karsten, Martin und Stephan Matthias nicht gleichtäten, aber eigentlich reichte das schon. Ein langhaariger, vermutlich Drogen nehmender Unterrichts- und Leistungsverweigerer, der zu allem Überfluss noch von der Schule geworfen wurde, war genug.

Egal, wie viele „ernste Wörter“ Herr Röhr mit seinem Sohn sprach, sie alle waren letztlich für Matthias doch nicht mehr als redundante Lehren über sein Leben, das nur er zu leben hatte. Darin hatte sich niemand einzumischen, auch nicht sein Vater.

„Mach dir keine Sorgen, ich komm schon zurecht.“

Und weg war er.

Eigentlich verständlich, dass Herrn Röhr die Geduld ausging, denn zu allem Überfluss begann das Fernsehen seit geraumer Zeit damit, Matthiasʼ Interesse für sich zu gewinnen. Disco mit Ilja Richter im ZDF, der von Radio Bremen produzierte und in der ARD ausgestrahlte Musikladen sowie ein paar andere Musiksendungen, die bislang eher das schlager- und popverwöhnte Publikum mit leichtverdaulicher Kost zufriedenstellten, änderten auf einmal ihre Marschrichtung.

Für die Bundesbürger gänzlich neue Bands, frisch aus dem United Kingdom eingeflogen, wurden vor den Kameras positioniert. Und nachdem das rote Licht aufleuchtete, durften diese Männer ihre Wut und ihr Anderssein im deutschen Fernsehen ausleben. Bundes-Michel und Biedermann lernten so ganz schnell, was die Jugend von damals tat, trennte man erst mal ihre Nabelschnur durch.

The Damned, The Stranglers und wie sie alle hießen … Und sie gaben ihre größten Hits zum Besten. Zwanglose Gedanken, Rebellion und eine unkontrollierbare Freude an der bedingungslosen Provokation. „Love Song“, „New Rose“ (The Damned), „No More Heroes“ (The Stranglers), natürlich „Tommy Gun“ und das immer junge „London Calling“ von den allmächtigen The Clash flimmerten über westdeutsche Mattscheiben.

Einmal empfangen, gaben sie einen ersten Eindruck davon ab, was in den nächsten Jahren als größte bislang gekannte Welle der jugendlichen Subkultur von der Insel aufs Festland schwappen sollte.

Und irgendwo sah der junge Matthias Röhr, dessen Gedanken an seine berufliche Laufbahn erst einmal warten mussten, die heiligen Sex Pistols im Fernsehen. Ob es bei einer der oben erwähnten Sendungen, während einer Reportage oder eines Fiebertraums war, weiß er nicht mehr.

„Während des Musikladens oder während Disco kann es eigentlich nicht gewesen sein“, sinniert er im Gespräch. „Die Pistols waren den verantwortlichen Redakteuren meiner Erinnerung nach zu heiß.“

Sei es, wie es sei. Es spielte keine Rolle, denn feststand: Irgendwo kam Matthias das erste Mal mit Johnny Rotten, Steve Jones, Paul Cook und Sid Vicious in Berührung.

Mit einem einzigen Ausschnitt auf dem alten Röhrengerät explodierte vor seinem inneren Auge etwas und half dabei, dass der musikalische Kosmos Röhrs weiter expandierte. Wie gern hatte er noch vor wenigen Jahren vor dem Fernseher gehockt und die absurd guten Gospel- und Johnny-Winter-Shows geguckt. Voller Faszination für die dargebotene Kunst.

Er liebte die Musik damals schon so sehr, dass er es nicht ertragen konnte, auf die Sendezeiten der Öffentlich-Rechtlichen angewiesen zu sein. Mit seinem Kassettenrecorder (damals so etwas wie der heilige Gral der musikbegeisterten Jugend) zeichnete er die Sendungen analog auf. Mit Störgeräuschen, mit Gerede im Hintergrund, mit allem, was eigentlich unerträglich war.