Gonzo

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Ein Schwein und

ein Mann ohne Geschichte

sind das Gleiche

(Irisches Sprichwort)

Die Sonne sank langsam über die grünbewachsenen Hügel Irlands. Es war ein Anblick, den ich, der noch nie zuvor in Dublin war, das erste Mal zu sehen bekam und der mich nachhaltig beeindruckte. Man kam sich vor wie in einer dieser modernen Fantasy-Serien. George R. R. Martin oder Tolkien, wenn es beliebt. Wanderte man auf einen Hügel (davon gab es dort zahlreiche) und die Sonne stand günstig, hatte man das Gefühl, man könne über das ganze Meer sehen. Unendliche Weite. Regnete es und hingen die Wolken wieder einmal grau, voller Wasser und so tief, dass man förmlich nur die Hand ausstrecken brauchte, um sie zu berühren, gaben sie der Szenerie einen beinahe phantastischen Anstrich. Mich wunderte es nicht, dass man Kindern dort gern von Feen und Kobolden, von wilden Kreaturen und allerlei Sonderbarem erzählte.

Dieses Land atmet. Es sind Geschichten von alten Frauen und alten Männern. Geschichten vom Saufen und Jagen. Vom Fressen und Gefressen werden. Weitererzählt – immer wieder – von Generation zu Generation. Pure Magie. Kein Harry-Potter-Hokuspokus. Keine Aleister-Crowley-Schwarzzauberei, sondern der Zauber der Wälder, der Hügel und der Wiesen und Weiden, auf denen Tiere und Menschen leben.

Man konnte einen ganzen Abend und eine halbe Nacht lang Bücher über die Mysterien und Geheimnisse Irlands wälzen, und wenn der neue Tag anbrach, hatte man das Gefühl, nur einen klitzekleinen Bruchteil der Wunder und Sagen dieses Landes entdeckt zu haben.

Man erzählt über Irlands Natur, dass sie Kranke heilen und Gesunde inspirieren könne. Sie versöhne einen Städter wieder mit seinen Wurzeln, erde die Menschen, die dort lebten, und hole einen erfolgsverwöhnten, ehrgeizigen Musiker auf den Boden der Tatsachen zurück.

Wie viele hippe Menschen schreiben noch im Jahr 2019 über die großen Themen der noch hipperen Gesellschaften, in denen sie sich verlustieren. In Berlin, Düsseldorf, Köln, München und anderen Metropolen hocken sie über ihren MacBooks und geben Tipps zur besseren Lebensgestaltung in Blogs und Netzwerken.

Entschleunigung. Zeitmanagement.

Wer sich in Dublin länger aufhält als einen Augenblick lang, der entschleunigt von allein. Der braucht keinerlei Experten, die einem dazu raten. Die einem zeigen, wie man sich ausruht.

Zeitmanagement spielte hier überhaupt keine Rolle, weil die Zeit vermutlich auf keinem Flecken der Erde weniger Bedeutung besaß als in Irland. Hier lebte jeder nach seiner eigenen Uhr. Kühe und Schafe weideten auf schier unendlich großen Wiesen, und irgendwo, ganz weit weg, hörte man Autos fahren. Allerdings nur dann, wenn man sich auf sie konzentrierte.

Mir schoss beim Anblick unseres Hotels, das den ganz wunderbaren Charme eines mittelalterlichen Schlosses besaß, unmittelbar durch den Kopf, dass wir uns an einem Ort befanden, an dem man sowohl das Leben in jungen Jahren genießen als auch sich ganz hervorragend im Alter zur Ruhe setzen konnte. Ich kannte ähnlich prächtige Bilder nur von meinem privaten Schottland-Urlaub, der aber zu diesem Zeitpunkt schon ganze einundzwanzig Jahre zurücklag. Hier war das Leben so leicht und schwerelos wie eine Feder im Wind.

Dublin bot im Spätsommer gemäßigtere Temperaturen als zu anderen Jahreszeiten. Die Schwere des industriellen, die Leichtigkeit des urbanen und die Zeitlosigkeit des maritimen Charakters der Stadt goutieren Touristen besonders gern im September und Oktober. Dann neigt sich die Hochsaison gerade ihrem Ende entgegen, die Pubs leeren sich, und die Chance, einen Mietwagen zu bekommen, ist weitaus größer als im Sommer.

Zu viert saßen wir auf einer großen, steinernen Terrasse bei Familie Röhr. Matthias und seine langjährige Frau Verena, liebevoll Vreni genannt, hatten eingeladen, und gemeinsam redeten wir über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Es duftete ganz vorzüglich nach gutem Essen. Der Geschmack eines süffigen Weins lag mir noch auf der Zunge. Es war der Abend unseres ersten Tages, und ich überlegte, wie das, was wir in den vielen zurückliegenden Stunden besprochen hatten, adäquat zu Papier gebracht werden könnte. Jedes der zahlreichen Gespräche zu diesem Buch galt es, gewissenhaft aufzuzeichnen. Die essentiellsten der unzähligen Informationen, Anekdoten und kleinen, aber feinen Erinnerungen wurden verarbeitet und ergeben das große Ganze.

Ich erinnere mich noch sehr gut an eines der ersten Gespräche, die wir mit Matthias führten. Natürlich ging es irgendwann auch um den Hintergrund seines Spitznamens, der ihn schon seine komplette Karriere über begleitet. Der an ihm hängt und immer mit ihm verbunden sein wird. Ob er will oder nicht.

Kein Matthias und auch kein Röhr ohne „Gonzo“. Nach ein paar Gläsern Rotwein und dem üppigen Essen Vrenis lockerte sich die Stimmung. Es brauchte immer ein paar Anläufe, um in einen Redefluss zu kommen, der ermöglichte, frei und ungezwungen zu erzählen. Und meistens funktionierte das besser, wenn man sich dabei sah. Wenn man Auge in Auge beieinandersaß. Der eine redete, die anderen hörten zu.

Es war schon spät. Müdigkeit hatte sich breitgemacht. Marco und ich waren, nach einer langen Wanderung, dem Besuch einer ganz außergewöhnlichen Kirche inmitten Dublins und vielen Anekdoten – eine besser als die andere –, müde. Dass Rotwein und herzhafte Speisen noch zur leichten Dösigkeit beitrugen, konnte ebenfalls nicht geleugnet werden. Es war dennoch nicht die Zeit, um schlafen zu gehen. Nicht nach Matthiasʼ Ansicht.

„Hier geht niemand ins Bett. Ich habe euch doch noch gar nicht erzählt, wie ich an meinen Spitznamen gekommen bin“, sagte er und lachte dabei. Es war die Sorte von Versprechen, bei dem man wusste, dass es da jemandem sehr wichtig war, was er mitteilen wollte. Ein schelmisches – „Ihr habt das Beste doch noch gar nicht gehört!“ – Grinsen. Man erwartete von seinem Gegenüber, dass es die Ohren spitzte. Na gut, dachte ich mir, erschöpft und eher wenig gespannt, erzähl uns die Geschichte, die eigentlich jeder schon kennt. Die man schon Hunderte Male gelesen hat. Nur zu. Leg los. Matthias musste mein Gesichtsausdruck aufgefallen sein, denn noch bevor sich mein Mund öffnen konnte, sagte er: „Es ist eben nicht so gewesen, wie ihr vielleicht bislang immer geglaubt habt. In Wirklichkeit, und ihr seid tatsächlich die Ersten, die das erfahren werden, war es ganz anders.“

Damit triggerte er mein Interesse. Mit „die Ersten, die es erfahren werden“ und „in Wirklichkeit war es ganz anders“ hatte er mich beim Schopfe gepackt. Jetzt war von Müdigkeit keine Spur mehr. Marco erging es ähnlich, das sah ich ihm sofort an.

Wir wollten mehr wissen!

1976 wurde ein Schlüsseljahr für Matthias Röhr. Mao Zedong starb im September, und mit ihm verreckte eine lang andauernde chinesische Kommunisten-Diktatur, die zwar keinen Fortschritt, dafür aber den Tod Hunderttausender Menschen brachte.

Im Westen hingegen nichts Neues. Helmut Schmidt blieb, mit einem Siegeslächeln auf und einer Kippe zwischen den Lippen, Bundeskanzler der Bundesrepublik.

Jimmy Carter wurde zum Ende des Jahres zum neuen US-Präsidenten gewählt, und nur Monate vorher, im Sommer 1976, suchte man in Jugoslawien den Fußball-Europameister. Der Traum der Titelverteidigung, er war für die Elf von Helmut Schön zum Greifen nah. Man kämpfte sich bis ins Finale und dort bis ins Elfmeterschießen vor, das man – unter anderem aufgrund eines Unglücksschusses von Uli Hoeneß – schlussendlich 5:3 gegen die Tschechoslowakei verlor. Randnotizen. Mehr nicht.

Das alles spielte seinerzeit in der hessischen Provinz kaum eine Rolle. Matthias fieberte natürlich mit der deutschen Mannschaft mit, das Interesse an Politik generell und China im Besonderen hätte allerdings kaum geringer sein können.

Entsprechend des Alters, er war jetzt vierzehn (die mächtigen Jahre hatten begonnen), fingen auch die schulischen Leistungen an, abzusacken. Oder besser noch: Sie befanden sich im freien Fall. Physik, Chemie (das von einem Ausbilder der Höchst AG unterrichtet wurde, der ihm dabei half, dieses Fach fast noch schlimmer zu finden als jedes andere) und Mathematik waren ihm ein absoluter Graus.

Wofür werde ich den ganzen Scheiß jemals brauchen, fragte er sich unentwegt, währenddessen sein Kopf, bleischwer und unter Schmerzen, über kryptischen Formeln und bizarren geometrischen Figuren brütete, die sich ihm partout nicht erschließen wollten.

Niemals und für gar nichts werde ich diesen Quatsch brauchen, war die einzig richtige Antwort. Das wusste Matthias sicher. Und ebenfalls, dass er unbedingt – besser heute noch als morgen – Kontakt zu Gleichgesinnten aufnehmen musste, deren Interessen sich mit seinen deckten: Gitarren, Amps, lauter Rock.

Matthias wollte spielen. Musik machen. Ein bisschen die Luft der großen weiten Welt schnuppern. Aber zum Teufel, er gab einen Scheiß auf binomische Formeln. Der Satz des Pythagoras durfte ihn am Arsch lecken. Gravitation kannte er von alten Frauen, deren Brüste so tief hingen, dass sie den Erdboden berührten. Und das Periodensystem? Konnte das bluten?

Der Realschulzweig, für den sich seine Eltern entschieden hatten, erwies sich spätestens ab der neunten Klasse als fieses, autoritäres Monster mit scharfen Zähnen, das immer dann zubeißen wollte, wenn jugendliche Unbeschwertheit, Rebellion und Liebe zur Musik die Oberhand gewannen.

Dann wurde seitens des Lehrpersonals gedroht, getadelt und gemaßregelt. Einschüchterungsversuche erwachsener Personen, deren Auffassung von Päda­gogik eine ganz andere war als heute. Anstrengend und enervierend. Leistung wurde verlangt und abgerufen. Man bekam keine einzige gute Note geschenkt. Lernen und Erfolg waren Kopf- und Konzentrationssache, außerdem musste man sich zusätzlich gut (durch-)quälen können.

 

Ferner gab es keine Ausreden für Faulheit.

Doch trotz aller schulischen Probleme und Matthiasʼ zweitgrößtem Talent, dem Hinterfragen und Provozieren von Autoritäten, gab es auch coole Pauker. Schon damals.

Herr Ullrich, Matthiasʼ Musiklehrer, war von diesem ganz neuen, progressiven Schlag. Er weckte Interesse, er erkannte und förderte bestehendes Talent. Ein Mann, so ganz anders als das damalige Kollegium.

Jung, aufgeschlossen, fast einer von ihnen. Er sprach die Sprache der Schüler. Mit viel Verständnis und Geduld. Elvis Presley, die Beatles und selbst die, zur damaligen Zeit, höchst anrüchigen Rolling Stones wurden durchexerziert. Im Unterricht sezierte Ullrich alles. Die Songs, die Texte, ja selbst die Bandmitglieder.

Unter der Lupe ergab alles nur noch mehr Sinn. RockʼnʼRoll hieß ab sofort der Heilsbringer – und zu jenem, das war die nächste große Erleuchtung im Leben des noch ganz jungen Matthias Röhr aus Liederbach am Taunus, würde er sich in Windeseile hinbewegen. Und wenn das nicht passieren sollte, aus welch bescheuerten Gründen auch immer, dann hatte der RockʼnʼRoll gefälligst zu ihm zu kommen.

Amen.

Außerdem: Der gerade flügge werdende junge Matthias Röhr hörte zu jener Zeit immer öfter auch das American Forces Network (AFN). Die Amerikaner hatten den deutschen Kids ein gutes und großes Stück ihrer Kultur auch als Radiosender mitgebracht.

Die vielen in und um Frankfurt stationierten GIs mit ihren fetten Fliegerjacken, ihren Kurzhaarfrisuren, den coolen US Cars und ihrem Way of life übten eine große Faszination auf die Jugend aus. Und die Musik der „Amis“ erst recht.

„Hey Dude. Whatʼs up?“, fragten die großen, breitschultrigen Guys freundlich die Kids, sobald sie welche sahen. Und sie sprachen viel schneller, als dass man sie hätte verstehen können. Im Laufe der Jahre mischte sich zum amerikanischen Englisch noch ein weicher hessischer Akzent. Das klang nicht nur cool, das war es auch.

Hier, auf AFN, gab es neben Ted Nugent, Aerosmith und Boston alle angesagten Bands zu hören. Geile Übersee-Mucker, die damals auf dem Weg nach ganz oben waren, oder solche, die den Gipfel bereits erklommen hatten. Als Matthias checkte, dass sich das Radioprogramm von Tag zu Tag nur noch verbesserte, statt an Qualität zu verlieren, gehörte das AFN zum tagtäglichen Pflichtprogramm – oft bis spät nachts. Sogar sonntagmorgens, denn dann gab noch diese unfassbar guten Gospelgottesdienste, die live – irgendwo aus dem Delta kommend –, auf diesem feinen Sender übertragen wurden.

Hier taten sich plötzlich noch einmal ganz neue Welten auf. Es war, als putze jemand ein großes, aber sehr dreckiges Fenster. Plötzlich wurde der Blick auf immer mehr Musik in der großen weiten Welt klar. Und sie erfüllte jeden Raum, in dem sich Matthias gerade aufhielt.

Wolfman Jack war extrem beliebt. Dieser eigenartig aussehende, immer gut gelaunte Discjockey, dessen Sendungen vom American Forces Network übernommen und gesendet wurden, hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, zwischen seinen Songs Wolfsgeheul einzubauen.

Und er spielte sie. Alle. Die fetten, neuen Sounds. So andersartig, aber wunderschön. Es gab keine Genre-Grenzen. Blues, der direkt aus der berühmten Beal Streat in Memphis, Tennessee, kam und vom „King of Blues“, von B.B. King, gespielt wurde. Musik, die tief unter die Haut ging. Außerdem schürender Chicago Blues von Muddy Waters, Willie Dixon und Buddy Guy. John Lee Hooker. Auch den Blues Rock von Johnny Winter, diesem legendären Gitarristen aus Texas, der, neben dem irischen Gitarristen Rory Gallagher, noch in den wilden Siebzigern zu Matthiasʼ größtem Idol an der Gitarre avancierte. Die Musikszene der amerikanischen Südstaaten kannte er bald aus dem Effeff.

Aber ebenso die größten Hits von Neil Young, Crosby, Stills, Nash and Young, den Byrds, Jimi Hendrix und vom geilen Rockabilly der Marke Link Wray. Grandioses, süchtig machendes Zeug wurde auf diesem Radiosender gespielt. Keine deutsche Provinzscheiße. Echte Weltmusik.

Schloss man die Augen, während im Hintergrund die heisere Stimme von Johnny Cash zu hören war, konnte man sicher sein, dass es keinen besseren Ort auf der Welt gab als jenen, auf dem diese Musik produziert wurde.

Das Live-Album One More From The Road der epischen Lynyrd Skynyrd rotierte während dieser unbeschwerten Jahre Hunderte Male auf dem Plattenteller Röhrs. Viele große Interpreten lernte Matthias – ausschließlich aufgrund dieses Senders – bereits zu so früher Zeit kennen.

Sie zogen ihn in ihren Bann. Die Jeff Beck Group, Jimmie und Stevie Vaughan und – natürlich – Mister Eric Clapton, der noch heute von ihm verehrt wird. Durch seine Liebe zum Rockabilly eignete er sich schon in den ganz jungen Jahren seines Gitarrespielens Licks an, deren Grundessenz man noch viele Jahre später in einigen Onkelz-Songs („Gehasst, verdammt, vergöttert“, „Finde die Wahrheit“, „Terpentin“ und anderen) wiederentdecken konnte.

Herr Ullrich vermochte die Musikbesessenheit seines jungen Schülers förmlich in dessen Augen zu sehen. Da bemerkte er immer stärker dieses Lodern, das er selbst sehr gut kannte. Weil er es einst selbst besaß. Ein Funkeln, das nur Menschen hatten, deren wahre Bestimmung die Kunst und nichts anderes ist. Das Flackern der Entschlossenheit derjenigen, die wollten, aber noch nicht konnten, weil sie noch an der Leine der Gesellschaft hingen. Irgendwo auf offener See, während der ach so wichtigen Lebensmissionen.

Geh deinen Weg, Sohn. Pass ja gut in der Schule auf, finde eine Ausbildung, eine Arbeit, und gründe eine Familie. Baue ein Haus.

Meistens kenterte genau dort das Schiff. Orientierungslos schwammen schon damals unzählige Teens und Twens um ihr Leben, auf der Suche nach einem Strohhalm. Nach einem kleinen Funken Hoffnung.

Ullrich nutzte die Gunst der Stunde, auch weil er wusste, dass ungenutztes Talent, das zu lange brachliegt, irgendwann zu faulen beginnt, und schubste Matthias in die Schulband der Realschule Kelkheim.

Fortan wurden Mini-Konzerte in der Aula oder der Kirche gegeben. Es fanden sogar kleinere Band-Casting-Wettbewerbe in den Vorräumen der Schule oder in Pfarrhäusern statt.

Und während einer dieser Auditions tauchte René auf. Ein Klassenkamerad von Matthias, der seiner Zeit eine ganze Armlänge voraus war. Oberlippenbart mit fünfzehn und einer der ersten Halbstarken mit einer echten Bomberjacke, frisch aus London importiert, von wo aus gerade die Subkultur der Punks ihre Finger nach der Jugend ausstreckte.

René war im Allgemeinen ein etwas zu alt aussehender Typ, dessen Aura Ernsthaftigkeit und Wahnsinn ausstrahlte. Er besaß zwar Gitarre und Verstärker, jedoch scheinbar kein großes Interesse, Teil der Schulband zu werden. Dennoch folgte er dem Lockruf des Castings. Und dort, in der großen, halligen Aula der Eichendorffschule angekommen, stellte er seinen Amp auf, schloss seine Gitarre an, und brachte – wortwörtlich aus dem Stand – viele der Anwesenden zum Staunen und Grübeln. Der Junge war ein Naturtalent.

Das damals noch gar nicht geläufige „Downbending“ der Gitarre, also die abrupte Höhenänderung des Tons mit Hilfe eines Vibratos während eines laufenden Songs, das auch, viel später, gern von Eddie Van Halen als Stilmittel eingesetzt wurde, gelang René – diesem verrückten Hund – völlig mühelos. Und das ganz ohne Vibrato, sondern ausschließlich durch die Verwendung der Stimmmechaniken an der Kopfplatte der Gitarre.

Und so setzte dieser Teufelskerl zum Solo an, wechselte auf die E-Saite, kurzer Kniff an der Mechanik, und schon klang der Ton aus heiterem Himmel völlig anders. Und wieder ein kurzer Dreher, schon ging es rauf mit dem Laut. Und dann tiefer. Und wieder höher. Technisch einwandfrei, ohne Störgeräusche oder Irritationen. Während Matthias dasaß und perplex war, gaben sich die „wahren“ Musik-Virtuosen aus dem Lehrerkollegium und der streberhaft-besserwissenden Mitschülerschaft ob der „Schändung der musikalischen Ästhetik“, die René dort „frivol zum Besten gab“, entsetzt.

Ne Kleiner, komm jetzt. Das war ja ganz nett, aber geh besser wieder heim.

So schickte man dieses Genie wieder nach Hause, hat ihn eiskalt abblitzen lassen. Mindestens ein Jahrzehnt war dieser Typ mit dem Oberlippenbart und der viel zu großen Bomberjacke den großen Gitarristen voraus. Modisch war er eh längst in den Achtzigerjahren angekommen, obwohl diese Dekade noch gar nicht begonnen hatte.

Der Moment, viele Jahre später, in dem das damals anwesende Kollegium und die Mitschüler angesichts der aufstrebenden Glam-Rock-Bands gemerkt haben dürften, was für ein Talent sie dort, an jenem Nachmittag, in der Schulaula mit Nichtbeachtung gestraft hatten, muss umwerfend komisch gewesen sein …

Das alles war für Matthias Motivation genug, noch tiefer einzusteigen. Eine eigene Band zu gründen. Und auch endlich den Plan, die über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Musikszene in Kelkheim abzuchecken, in die Tat umzusetzen. Raus aus der Taunus-Liederbach-Reihenhaus-Idylle, rein in die „echte Welt“, die in seiner Vorstellung von Menschen bevölkert wurde, die so drauf waren wie er selbst. Deren Lust und Treiben in der Musik einen großen, gemeinsamen Nenner fand.

Und die zum heiligen Geist des RockʼnʼRoll beteten. Vor seinem Altar der Riffs, Licks, Soli und tretenden Bässe niederknieten und seine Bibel, die Songtexte, verinnerlichten. In allen Facetten. Das war keine langweilige Fachsimpelei über Akkorde oder Noten, die eh kaum jemand lesen konnte, sondern echtes Herzblut und Engagement. Autodidaktischer Erwerb verschiedenster Spielarten. Tonleiter rauf und Tonleiter runter.

Doch die ersten Begegnungen verliefen anders, als Matthias gedacht hatte. Hier, im Herzen einer jungen, dynamischen Künstlerszene, interessierte man sich nicht sehr für den jungen Röhr. Die älteren und erfahreneren Musiker, Aficionados allesamt, orientierten sich an Bands und Musikern wie Black Sabbath, Deep Purple, ELP, Focus, Johnny Winter, UFO, Fleetwood Mac, Bob Dylan, David Bowie oder Led Zeppelin. Die Stones gingen schon auch klar – von allen geliebt wurden sie deshalb noch lange nicht.

Jagger und Richards spalteten die Gemeinde und wurden kontrovers diskutiert. Manche mochten sie aufgrund ihres Erfolges und des damit verbundenen Arschtritts in das Hinterteil der englischen Upper-Class, andere wiederum lehnten sie genau deshalb ab. An Glaubwürdigkeit mangelte es ihnen aber keineswegs.

Generell konnte man der Kelkheimer Szene eine große Offenheit bescheinigen. Es gab keinerlei Einschränkungen. Jeder hörte das, was er hören wollte.

Und jeder gab Plattentipps. Auf modernen Schallplattenspielern wurde das neue Zeug aufgelegt. Es wurde analysiert und verglichen. Was spielte der Gitarrist von Chicago? Was spielte Tony Iommi von Black Sabbath. Und, wichtiger, wie spielten die?

Nach der kurzen, aber durchaus intensiven Phase des gemeinsamen Abtastens mit den neuen Bekanntschaften in Kelkheim fing Matthias schnell an, Konzerte zu besuchen. Die Pubertät brachte natürlichen Freigeist mit, der durch die steten Erzählungen von Musiklehrer Ullrich, seiner Klassenkameraden und der älteren Teenager in Kelkheim nur noch genährt wurde.

Die Haare wuchsen. Sie wurden immer länger, und Matthias weigerte sich vehement, einer Friseurschere zu nahe zu kommen. Schon nach wenigen Wochen trug er eine schulterlange Matte. Weniger zur Freude der Eltern, die nicht nur seine haarige Entwicklung jeden Tag mitbekamen, sondern auch den Leistungsabfall in der Realschule höchst sorgenvoll zur Kenntnis nahmen.

Die Hoffnung, dass sich Matthias irgendwann für ein geregeltes Leben entscheiden und diese ganze Taugenichts-Ästhetik hinter sich lassen würde, wurde immer geringer.

Und was war, wenn ihr Sohn auch noch anfangen sollte, Drogen zu nehmen? Haschisch und Marihuana gehörten zum guten Ton und zur Grundausstattung vieler neuer Freunde von Matthias, der es – nach einigem Probieren – jedoch vorzog, beim Alkohol zu bleiben. Weed, Dope, Spliffs und Bongs interessierten ihn nicht.

Dennoch, ein undurchdringlicher Hanfnebel, der schon meterweit vom Ort des Kiffens entfernt gerochen werden konnte, hing fortan über allem und fast jedem. In den Pfarrhäusern roch es wie auf einer Grasplantage. Hier probten die ersten Studentenbands, deren Mitglieder wiederum der ersten Hippie-Bewegung in Deutschland zugerechnet werden konnten. Die Proberäume in den Gotteshäusern waren schnell Umschlagplätze für bestes Dope. Und Walt- und Schaltzentrale der Kreativität. Was sich nach einem furchtbaren Siebziger-Klischee anhörte, war allerdings ziemlich exakt das, was sich dort abspielte.

 

Im Sommer 1976 lernte Matthias Röhr, quasi im „Vorbeigehen“, den ebenfalls musikbegeisterten Norbert Nebenführ kennen. Matthias war gerade dabei, den Hund der Familie Gassi zu führen, als er Nebenführ auf einer Parkbank in Liederbach sitzen sah. Das Treffen war von Thomas G. arrangiert worden, der – zusammen mit Nebenführ – eine Band gründen wollte, dringend einen Bassisten benötigte und den langhaarigen Matthias kannte. Röhr kam ihnen gerade recht. Dessen musikalisches Know-how war bekannt und ebenso, dass er gut Bass spielen konnte.

Es vergingen keine zwei Tage, bis Matthias der Gruppe beitrat.

Norbert Nebenführ erinnert sich: „Ich war, genau wie fast jeder andere Teenager zu jener Zeit, total der Gitarrenmusik verfallen. Perfekt war auch, dass sich gerade die lokale Musikszene in Hofheim, Liederbach und Kelkheim herausbildete, die wirklich großartig war. Thomas G. war damals sehr umtriebig, hatte Verstärker und eine E-Gitarre und spielte mir in der Garage seiner Eltern etwas vor. Es dauerte keine zehn Minuten, bis ein schwarzer G.I. hinzustieß, der im Nachbarhaus wohnte, und uns fragte, ob er sich an der kleinen Jam-Session beteiligen dürfe. Als er ‚Voodoo Chile‘ von Hendrix coverte, war es um mich geschehen. Ab diesem Tag bekniete ich meine Eltern, dass sie mir auch eine Gitarre kauften. Es wurde dann die ‚Les Hertie‘ aus dem Main-Taunus-Zentrum.“

Matthias, Thomas und Norbert probten fortan pausenlos im Keller von Thomasʼ Familie. Nach ein paar Wochen standen vier, fünf brauchbare Songs. Genug Material, um es auf Schulfeiern und privaten Feten aufzuführen. Material, das allerdings auch relativ schnell offenlegte, wer etwas an seinem Instrument konnte und wer nicht.

Thomas, das stellte sich schnell heraus, war kein begnadeter Gitarrist. Einer, der gut reden konnte und noch besser darin war, Kontakte zu knüpfen, aber kein Vollblutmusiker. Es dauerte nicht mal ein Vierteljahr, da verließ er die Band und ging seines Weges.

Norbert Nebenführ und Matthias Röhr freundeten sich in Folge dessen noch stärker an, und schon bald waren sie beste Kumpels, die das ehrgeizige Hobby verband, Musik zu machen. Röhr wechselte vom Bass zur Gitarre, und ab da merkte Nebenführ, wie krass sein Kumpel unterwegs war und wie gut er die Saiten bespielen konnte. Er war ein Naturtalent und endlich ein Partner, der kreativ genauso tickte, wie er selbst. Sie kümmerten sich nicht mehr um Mädels oder Partys (auch wenn sie kaum eine ausließen, wenn sie eingeladen waren), sondern übten, bis ihnen die Finger bluteten. Oft fuhr Norbert zu den Röhrs, und gemeinsam rockten die beiden den Keller, in dem der langhaarige Matthias sein Zimmer hatte.

Norbert aus der Erinnerung: „Ich weiß noch gut, wie das Zimmer aussah: Tür rein, links Schrankwand, davor Sofa, und wenn der Zug vorbeifuhr, rumpelte es immer.“

Gemeinsam nahmen sie Gitarrenunterricht bei einer Frau, die bei Röhrs in der Reihenhaussiedlung wohnte. Zwei, maximal drei Tage hielten sie es aus, dann beendeten sie die Stunden. Weder Matthias noch Norbert hatten länger darauf Lust, „Im Frühtau zu Berge“ nach Noten einzustudieren. Noch während der ersten Übungen und spätestens beim „… fallera“ brachen beide in schallendes Gelächter aus.

KISS waren Matthiasʼ Lieblingsband, und auch, wenn die hiesige Musikszene die Band nicht mochte, so liebt er Gene Simmons, die Schminke, das Outfit und – vor allem – die Songs dieser Gruppe noch immer heißblütig. Und hin und wieder malte er sich auch seine Stiefel golden an, genauso, wie es diese Rocker, die sich augenzwinkernd „Knights in Satanʼs Service“ nannten, auch taten. Norbert wurde ebenfalls zum KISS-Fan. Er konnte gar nicht anders. Die Band lief praktisch rauf und runter.

Manchmal passieren die komischsten Dinge zur merkwürdigsten Zeit. Zwei einschneidende Geschehnisse brachten Matthias Röhr und den Rock zusammen. Die Sterne standen günstig. Durch die Schule (endlich, sie war doch für etwas gut) lernte Matthias den zukünftigen Bassisten ihrer Band kennen. Ralf Jaklin war mindestens genauso besessen von den großen Bands jener Zeit wie Röhr und Nebenführ und passte menschlich perfekt. Und deshalb bewegte sich tatsächlich schon bald der RockʼnʼRoll hin zu dem jungen Mann mit den vielen Flausen im Kopf wie der sprichwörtliche Berg zum Propheten.

Jaklin war ein Klassenfreund und musikbegeistert. Einer, der eher etwas introvertiert war. Coole Jeans, T-Shirt, keine gebügelten Hosen. Schulterlanges Haar. Kein Streber, dafür sagte er zu wenig, aber jemand, der schlauer war als viele Gleichaltrige. Seine große Liebe war das Bassspiel. Und irgendwie fanden sich Röhr und Jaklin sympathisch. Sie trafen sich immer öfter, um bei Ralf daheim abzuhängen und über Musik zu diskutieren.

Matthias erinnert sich noch gut an diese Momente: „Ralf hatte einen älteren Bruder. Wahrscheinlich war er damals schon Student. Und der hatte eine unfassbar große Plattensammlung, an der wir uns immer zu schaffen gemacht haben. Neben Johnny Winter, den ich für mich entdeckte, lag auch ein Album von Ted Nugent rum. Als ich das erste Mal ‚Stranglehold‘ gehört habe, wusste ich, das rockt! Das ist es. So geht’s, so muss es sein!“

Was jetzt noch fehlte, war ein Schlagzeuger. Den Part übernahm tatsächlich Thomas G., der kurze Zeit vorher noch leidlich versuchte, durch seine Gitarrenkünste zu überzeugen. Das Schlagzeugspielen lag ihm mehr. So sehr, dass Matthias, Norbert und Ralf begeistert waren, nachdem sich Tommy einfach während der Musik-AG, an der sie alle vier teilnahmen, an die Schießbude setzte und loslegte.

Es war nicht zu fassen. Der Typ, der kaum einen Song seiner Lieblingsbands auf der Gitarre fehlerfrei nachspielen konnte, war der geborene Drummer.

Headliner. Der Name der frisch gegründeten und komplettierten Band stammte von Matthias. Und gemeinsam fühlte man sich schon jetzt unsterblich. Der Keller der Nebenführs war fortan an der Reihe. Dort wurde geprobt und geschnackt, lamentiert, palavert und komponiert. Norberts Vater richtete ihn sogar noch ein bisschen her, sodass die Jungs Platz zum Musizieren hatten. Neben Einmachgläsern und einer Kühltruhe wurde ab sofort hessische Musikgeschichte geschrieben.

Norbert Nebenführ erinnert sich: „Meine Eltern hatten das Haus aus eigener Kraft gebaut. Mein Vater war Fabrikarbeiter und hätte samstags, wenn wir immer probten, ganz sicher auch ein bisschen Ruhe gebraucht. Nie hat er gemeckert. Im Gegenteil: Er hat uns immer unterstützt. Er ist 2008 gestorben, und ich verdanke ihm vieles. Dafür aber, dass wir immer unserem geliebten Hobby nachgehen konnten, werde ich ihm auf ewig dankbar sein.“

Man kann es Herrn Nebenführ nicht hoch genug anrechnen, dass er die Leidenschaft seines Sohnes (und die seiner Freunde) mit aller Kraft unterstützte, dabei sogar auf seine eigenen Ruhezeiten verzichtete und merkwürdige, teilweise verächtliche Blicke der Nachbarschaft in Kauf nahm.

Harter Rock war zu jener Zeit nicht Teil der Gesellschaft. Die großen Bands, die ihn spielten, waren Außenseiter – wenn auch extrem erfolgreiche. Die kleinen Bands, die dem RockʼnʼRoll nacheiferten, waren hingegen der öffentlichen Kritik ausgesetzt. Dem Getratsche und Geläster von Nachbarin Schmidt, Herrn Bauer oder Fräulein Baumann. Im gutbürgerlichen Liederbach trat man der freiwilligen Feuerwehr bei, oder man spielte im Verein Fußball, Tischtennis und Handball, aber man gründete sicher keine Bands, die infernalischen Krach mit gotteslästernden Texten am Fließband produzierten. Und man hörte auch keine Musikgruppen, die sich selbst „Ritter im Dienste Satans“ nannten. Und das zur Mittagszeit am heiligen Wochenende. Maria hilf!