Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat

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Drei

Ich habe Lea kennengelernt, als ich Jack zur Beerdigung begleitet habe. Ich mochte sie auf Anhieb. Lea ist Jacks Schwester. Und es war ihre Beerdigung.

Es ist einer dieser viel zu schönen Märztage, auf die dann wieder zwei Wochen Regen folgen und Schnee. Der Himmel ist blau oben und an den Rändern weiß schattiert. Oder das Gegenteil davon.

– Jetzt kann man sehen, dass er rund ist, sagt Jack.

– Ja, sage ich.

Dabei ist er das doch gar nicht.

Die Beerdigung findet im engsten Kreis der Familie statt. Bei Jacks Familie bedeutet das: eng wie wenn ein dreihundert Pfund schwerer Kerl seinen Hintern in eine XXL-Hose zwängen muss. Alle anderen sind sich sicher: Sie haben noch nie eine so große Hose gesehen.

Eine Zeit lang mochte ich Begräbnisse nicht. Gut, wer tut das schon, sagt jetzt sicher wieder irgendwer, aber ich mochte sie wirklich nicht. Ich meine damit, dass ich sie einfach nicht ertrug.

Schon beim Aufstehen war mir sterbensübel an diesen Tagen. In der Kirche saß ich deshalb immer abseits, damit ich schnell hinaus konnte, wenn ich bemerkte, wie sich das Gewölbe über meinem Kopf zu senken begann und die geschwulstigen Pfeiler und die Kapellen mit ihrem ganzen stacheligen Zierkram sich mir entgegenschoben und meinen Leib zu zerdrücken drohten und zu zerstechen und zu zerstampfen. Sofort schleppte ich mich hinaus ins Freie, bevor ich es gar nicht mehr schaffen würde aus eigener Kraft. Und dann überkam mich auch schon die Übelkeit, in diesen kleinen, heimtückischen Wellen, die so heftig sind und so schnell aufeinander folgen, dass sie dir keine Zeit lassen, um zu atmen zwischen ihnen. Ich schnappte nach Luft wie ein Fisch, der unweigerlich ertrinken muss in ihr. Mein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung und hatte keine Ruhe, bevor sie mein Magen nicht gab. Meine Mutter musste mir den Kopf halten, damit er nicht aufs Pflaster schlug. Ich habe so viel gekotzt damals und so lange, dass ich Angst hatte, mit der Galle auch noch den Dünndarm zu verlieren und die Nerven.

Meine Mutter hat mich zum Seelendoktor geschickt damit. Und der so: – Alba hat Angst vor dem Tod. Oder vielleicht ist es ihre Seele, die damit zum Ausdruck bringen will, dass sie etwas verloren hat. Ja. Hundert Franken die Sitzung, und dann das. Vielleicht hast du Cholera. Aber vielleicht ist es auch Krebs.

Mein Stiefvater hat einmal Fußball gespielt, in Zürich war das, und dann hatte er Blutergüsse am Knie, bunt wie ein Kindergeburtstag sah das aus. Er geht also zum Hausarzt, und der sagt ihm: – Ein Kreuzbandriss ist es nicht. Als die Beschwerden nicht abnehmen, geht er wieder hin. Nochmals: Verband für fünfunddreißig Franken, bisschen Salbe fünfzehn und die Diagnose – kein Kreuzbandriss – achtzig. Nach dem vierten Mal wechselt er den Arzt. Ein Sportmediziner. Der schaut sich zwei Minuten das Knie an und sagt: – Kreuzbandriss, ganz eindeutig. Nächstes Mal kommst du zu mir, habe ich Viktor gesagt, und gibst mir hundert Flöhe die Sitzung. Wenn ich nach dem vierten Mal immer noch danebenliege, kannst du ja immer noch zu einem anderen gehen. So einer war das, dieser Doktor mit der Seele.

Wir stehen auf dem Parkplatz, Jack und ich, und warten auf die Leute. Wenn tatsächlich so viele kommen, wie Jack gesagt hat, dann dauert das noch eine ganze Weile. Bis jetzt steht da nur eine viel zu pralle Sonne über den Bäumen und ein paar vereinzelte Menschen unter ihnen, die nicht so recht zu einer Gruppe zusammenfinden wollen.

Ich weiß nicht, wie es um Jack steht, aber ich für meinen Teil habe Hunger. Es ist noch etwas vor der Zeit, in der Jack normalerweise die warmen Fritten unter seinem Poncho hervorholt, aber für ein Softeis oder zwei wäre jetzt ohne weiteres Platz. Ich meine, ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Kein Wunder, dass sich die Erde allmählich zu drehen beginnt um mich. Ich denke an Hugo und wie sehr er mir fehlt in meiner Vene. Und ich denke an den Leichenschmaus.

Das mit den Begräbnissen war nicht immer so. Das heißt, erst war es nicht so, dann war es so, dann wieder nicht mehr. Als ich klein war, da habe ich mich immer gefreut, wenn es zu einer Beerdigung ging. Ich mochte Erdbestattungen, weil man Blumen hinabwerfen konnte in die Grube und Erdklumpen, wenn keiner hinschaute, sodass sich der Sarg dumpf beschwerte unter mir. Ich mochte die endlosen Pausen zwischen den Gängen des Leichenschmauses, in denen ich mich hinter den Zimmerpflanzen vor niemandem versteckte oder die feinen Zeichnungen auf dem weißen Damasttischtuch mit meiner Ölkreide verschönerte, jedes Feld in einer anderen Farbe, bis es aussah wie ein Perserteppich. Das würde man heute gar nicht mehr sauber kriegen, sagt meine Mutter manchmal, wenn sie sich daran erinnert, und dann sagt sie immer: Aber früher ging das noch, als Waschmittel noch Waschmittel waren und Umweltschutz noch Umweltschutz und der eine dem anderen nicht andauernd in den Kram pfuschte.

Die Beerdigung von Lea fällt in eine Zeit, in der ich mich bereits wieder freute auf diese Anlässe. Oder sagen wir, ich hatte mich ans Schlechte gewöhnt und gelernt, mich aufs Gute daran zu freuen. Das Gute ist das Essen danach, das man nicht bezahlen muss, und bei dem immer Dinge serviert werden, die ich nicht kenne, Bergseekaviar und kaltes Pferderoastbeef und Straußenfilet mit Preiselbeerkonfitüre und Räucherlachs mit dänischem Meerrettichschaum, weil der Gastgeber sich nicht von der geizigen Seite zeigen will. Ein Unglück, dass ich ausgerechnet das Essen nach Leas Beerdigung verpasst habe.

Jack trägt einen schwarzen Anzug und die anderen tun es. Sie sind so schwarz, dass der Leichenwagen irgendwie blass aussieht daneben.

– Für Lea haben sie das getan, sagt Jack.

Er streicht sich eine Träne aus dem Auge.

– Was denn?

– Sich neue Anzüge gekauft.

Ich schaue mich um. Ich weiß nicht. Vielleicht hat er recht.

Ich denke: Neue Anzüge für Lea. Und: Absurd. Und: Hätten sie sich auch ein wenig früher entschließen können dazu. Ich weiß, dass sie gemein sind, diese Überlegungen, aber ich weiß auch, dass die anderen nicht besser sind in ihrem Denken.

Und dann, von einem Moment auf den anderen, gerinnen die blubbernden Gedanken in meinem Kopf plötzlich zu dickflüssiger Marmelade.

– Jack …, sage ich und: – Ich …, und: – Mein …, und: – Mir ist …

Ein Wort und dann noch eins und dann noch eins, jedes sehr einzeln und umgeben von nichts und lauter Stille, schwappt über meine Lippen, tropft schwer auf den Asphalt und bleibt dort ungehört liegen. Der Blick, der eben noch auf den Anzügen klebte und den Leuten, die in ihnen stecken, treibt ab nach oben und das wenige Schwarz in ihm findet zusammen zur Nacht.

Als ich wieder zu mir komme, ist noch immer all dieses Schwarz um mich, aber aus ihm glotzt mich eine ganze Menge Augen an. Jemand ruft nach einer Flasche Wasser oder zwei.

Mein erster Gedanke: Lea. Lea und das Kleid.

Jack fragt:

– Wie geht es dir?

Ich frage:

– Wie geht es dem Kleid?

Jack winkt ab.

– Alles gut.

– Es tut mir leid.

Das tut es mir wirklich. Aber Jack sagt nichts. Er streicht mir die Haare aus dem Gesicht und küsst mich. Dann hilft er mir auf, und eine ganze Menge Hände tun es, nur meine Knie, die tun es nicht. Kaum ist das eine durchgestreckt, gibt das andere nach. Ich fühle mich wie eine dieser traurigen Ölpumpen. Die aus den Filmen, in denen irgendwelche postnuklearen Motorradfahrer auf der Suche nach einer Tankstelle durch den Mittleren Westen knattern.

Das kann ja heiter werden, denke ich. Da hat die Beerdigung noch nicht einmal angefangen, schon kündigt mein Kopf seinen Vertrag mit der Wirklichkeit auf. Ich schäme mich vor den Leuten, aber ich bin auch froh und ein bisschen stolz. Ich weiß, dass ich das nicht sein sollte, aber: Ich bin Jacks Freundin, und jeder kann es sehen.

Was niemand sehen kann: Es ist wieder Leben in mir. Seit heute Morgen. Das ist gut so. Dass es wieder in mir ist und dass sie uns dabei nicht gesehen haben. Wäre einer reingeplatzt ins Zimmer, hätte er auch sehen können: Ich bin Jacks Freundin. Oder, wenn er es leise getan und durch den Türspalt geschielt hätte: Gerade noch ist sie nicht Jacks Freundin, und jetzt ist sie Jacks Freundin. Er hätte uns beim Werden beobachten können.

Oder sie.

Hilde zum Beispiel.

Aber die ist im Bild. Sie weiß von mir und sie weiß von Jack, der in meinem Zimmer ist, dabei hat die Besuchszeit noch gar nicht angefangen. Und sie weiß von der Beerdigung seiner Schwester, und dass mich Jack mitnehmen will dahin.

– Ist alles abgesprochen, sagt er. Und dann, indem er warum auch immer zur Decke zeigt: – Mit den Ärzten. Hilde, allen.

Ich zögere. Ich schaue Jack an in seinem schwarzen Anzug und dann schaue ich an mir herunter. Ich schaue auf eine fliederfarbene Pyjamahose und ich schaue auf ein hellblaues T-Shirt. Über der linken Brust krallen sich meine Augen fest: Garfield.

– Können wir noch was holen bei mir zu Hause?

Jack schiebt seinen Ärmel zurück und schaut auf sein Handgelenk, wo eine silberne Uhr mit Datumsanzeige, Mondphasen, schlangenledernem Armband und dem ganzen Schnickschnack fehlt. Er überlegt. Dann schaut er mich an und sagt, indem er auf das ausgedachte Zifferblatt tippt:

– Okay. Aber schnell.

– Gut, sage ich.

Doch dann kommt mir in den Sinn: Das geht ja gar nicht. Auf keinen Fall geht das. Mein Zimmer, muss man dazu sagen. Also, seit dem Unfall bin ich nicht mehr in ihm gewesen.

Ich meine: Sicher würde ich das Kaff, in dem ich wohne, gerne wiedersehen. Auch wenn es nichts zu sehen gibt dort. Eine Autobahn, die es in der Mitte zerschneidet, eine Bahnstrecke ohne Haltestelle, ein vergifteter Stausee, an dessen Oberfläche die Forellen ihre blassen Bäuche sonnen, eine Hauptstraße mit künstlich aufgeschütteten Schallschutzhügeln zu den Seiten und jeder Menge Arbeiterschließfächern aus Stahlbeton. Überhaupt ist hier eigentlich alles aus Beton gemacht, sogar die Kinderspielplätze sind nicht mehr als ein paar wahllos durcheinandergeworfene Zementröhren. Die Sowjets, hat mein Stiefvater einmal gesagt, haben den Eisernen Vorhang gebaut und die DDR die Mauer, weil sie Angst haben, dass ihnen die Leute davonrennen, in Neuenhof haben sie einfach keinen Bahnhof gebaut. Er hat es im Scherz gesagt, der Viktor, aber es ist einer, bei dem dir das Lachen im Hals stecken bleibt.

 

Ich habe von Leuten in Neuenhof gehört, die verlassen nur mit nüchternem Magen das Haus, weil sie sonst kotzen müssten, wenn sie frühmorgens durch die Straßen gehen und nicht einer dieser vielen Tage ist, an denen der dichte Nebel, der vom Stausee heraufsteigt, die Sicht auf das Schlimmste nimmt. Und jetzt versteht man auch, warum es so viele Magersüchtige gibt dort und warum so viele Selbstmörder.

Trotzdem. Ich wäre gerne nach Hause zurückgekehrt. Auch wenn meine Mutter gar nicht da war. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Es hätte mir gereicht, barfuß über das Fischgrätparkett zu gehen im Wohnzimmer und in der Ecke neben dem Fernseher auf die losen Lamellen zu treten, immer und immer wieder, die dann knarren wie die Spechte, die es hier nicht mehr gibt. Ich wäre in die Küche gegangen, um dem knirschenden Klicken der Sicherung zuzuhören, wenn man das Licht aufdreht, und hätte dieses unentschiedene Flackern beim An der Leuchtstoffröhren über der Ablage beobachtet. Den Herd hätte ich aufgedreht und mich hingesetzt. Ich könnte das stundenlang tun, einfach nur in der Küche sitzen und dem Gas beim Flüstern zuhören. Leider ist das zu teuer und saugefährlich. Um zu verhindern, dass es das ist, saugefährlich, könnte man es anzünden, aber damit verliert das Geräusch seine gesamte Unschuld. Das gierige Fauchen, die blaue Flamme, sie haben nichts Beschauliches an sich, sie sind aufdringlich, dumpf und hohl und einfach nur bedrohlich.

Ich hätte nach Mister Freitag geschaut zu Hause, natürlich. Wie es ihm geht in seinem Käfig. Mister Freitag ist mein Papagei und heißt nur heute so. Morgen heißt er Mister Samstag, übermorgen Mister Sonntag, überübermorgen Mister Montag und so weiter. Und wenn einmal die Reihenfolge der Wochentage durcheinandergeraten sollte oder Leute wie Viktor auf die Idee kommen, ihre Namen zu vertauschen, dann heißt er eben anders. Keine Frage, den armen Vogel verwirrt das ungemein. Er ist ein Graupapagei, muss man wissen, ein Wildfang aus dem Kongo. Die Geschichte, wie er zu mir gekommen ist, ist mindestens so abenteuerlich, wie es gewesen sein muss, das Tier im Urwald zu fangen. Aber hier ist nicht der Ort dafür und nicht die Zeit.

Jack überlegt.

– Wirklich nicht?

Meine Finger nesteln heftig am Bund der Pyjamahose herum. Blut schießt in mein Gesicht, dass es heiß und kalt wird in ihm.

– Ich … Ich habe keine schwarzen Klamotten.

Jack wirft mit einem dieser Blicke um sich, bei denen man nicht so recht weiß, was der jetzt bedeuten soll. Er sagt nichts.

– Außer Socken, sage ich dann, um wenigstens irgendetwas zu sagen.

– Und Unterwäsche, sagt Jack.

Und dann, nach einer Minute oder zwei, in denen wir uns anschweigen und es mir nicht gelingt, den Blick vom braunen Linoleum zu lösen, sagt Jack:

– Ich hab einen Plan. Versuchen wir’s bei mir zu Hause. Ich glaube, da liegt noch was rum. Was meinst du?

Ich nicke heftig mit dem Kopf. Alles lieber, denke ich, als mit Jack zu mir nach Hause zu fahren. Aber dann, als wir im Käfer sitzen, bin ich trotzdem etwas traurig, weil ich an Mister Freitag denke und ans Fischgrätparkett und an den Specht unter ihm.

Hätte ich gewusst, was bei uns eigentlich heißt, wäre ich vielleicht noch einmal umgeschwenkt. Wir fahren lange, und das will was heißen bei Jacks Tempo. Das Haus seiner Eltern nämlich ist ziemlich abgelegen. Zum ersten Mal in meinem Leben überquere ich den Berg, hinter dem die ganze Zeit die Postautos verschwinden. Ich habe mich immer gefragt, warum andauernd Busse dahin fahren, aber eine Antwort habe ich nie gekriegt. Jetzt weiß ich: Ein nebliges Tal gibt es dort und eine Handvoll Dörfer und ein armseliges Flüsschen, das nie ein Schiff gesehen hat auf seinem Wasser und kein Mühlrad in ihm. Es ist das einzige Tal in diesem Land, in dem bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein die Juden leben durften. Und da weiß man auch schon, was das für ein Tal ist, wenn man damals sogar Juden geduldet hat in ihm, und die Juden, die wussten’s auch. Kaum wurden die Niederlassungsbeschränkungen aufgehoben im Land, haben sie das getan, was jeder getan hätte an ihrer Stelle: Sie haben samt und sonders Reißaus genommen.

Und nun liegt also dieses schwarze Kleid vor mir auf dem Bett. Wir sind nach oben gegangen, in ein viel zu aufgeräumtes Zimmer, in dem die Rollos heruntergelassen sind und irgendwelche Bandposter hängen, von Secret Service ein riesiges und von Blondie eins und was weiß ich von wem nicht noch alles. Sofort verschwindet Jacks Oberkörper in einem riesigen Schrank, der aussieht wie ein Zimmer, und zwar deshalb, weil da so viele und so große Spiegel hängen an den Türen, dass sich das ganze Zimmer spiegelt in ihnen. Nach ein paar Minuten, in denen er die gut zwei Dutzend Bügel vielleicht etwas häufiger als nötig auf der Kleiderstange hin- und herschiebt, holt Jack ein Kleid heraus und legt es sorgfältig aufs Bett.

– Gefällt’s dir?, fragt er und setzt ein Lächeln auf, das man gar nicht anders bezeichnen kann als traurig.

Natürlich gefällt es mir. Es ist ein schönes Kleid, eines mit Puffärmeln, das herrlich glänzt unter der Lampe wie in der Nacht die Straßen, wenn Regen auf sie fällt. Aber es gibt ein Problem damit: Das Kleid gehört Lea. Deswegen bin ich auch dagegen, dass ich es anziehe. Und dafür, dass wir trotzdem noch zu mir fahren. Andererseits: Ich weiß nicht, wie ich es Jack beibringen soll. Dass ich Leas Kleid nicht tragen will und dass ich gelogen habe vorhin. Ich weiß nur: Unter keinen Umständen ziehe ich das Kleid einer Toten an.

Aber dann, als ich gerade die Worte bereitlege, um Jack klar zu machen, dass das nicht geht, ist da wieder dieses traurige Lächeln in seinem Gesicht.

Er sagt:

– Es gefällt dir nicht, nicht wahr?

– Im Gegenteil, ich brenne darauf, es anzuprobieren!, höre ich jemanden rufen, und ich wundere mich über diese Worte und über die Begeisterung im Gesicht dieses Mädchens mit dem dunkelblonden Haar, das mir von der Schranktür entgegenlacht und das ich nicht bin in diesem Moment.

– Gut, sagt Jack und verlässt aus irgendeinem Grund das Zimmer.

Ich schaue auf die Tür, die sich hinter ihm schließt, und auf Leas Kleid, das so etwas wie auffordernd schimmert unter der Lampe. Ich erinnere mich an ein ähnliches Kleid, das ich getragen habe und das auch nicht meins war. Es hat meiner Schwester gehört, es war rosa und hatte auch solche Puffärmel an den Seiten und einen Ausschnitt mit Knöpfen, und dann habe ich es gekriegt. Ich mochte es sehr, aber es machte mich traurig, dass ich es nicht geschenkt bekommen habe und meine Schwester schon, und dass ich es erst gekriegt habe, als es ihr nicht mehr passte. Und dann kommt mir in den Sinn, dass es doch immer so gewesen ist, dass ich immer nur die getragenen Kleider meiner Schwester bekommen habe und nie was geschenkt.

– Bist du fertig?, fragt Jack durch die Tür.

Ich schaue auf das Kleid und dann schaue ich auf die Schiene an meinem linken Arm und den bleichen Daumen. Ich denke: Bist du blöd eigentlich?

– Kann ich reinkommen?, fragt Jack schon wieder.

– Ja, sage ich, – du musst.

– Okay, sagt Jack, und ich glaube, da steckt so eine Vorfreude in seiner Stimme oder auf ihr oder dahinter oder wie man das auch immer nennt. Jedenfalls hört man das jetzt.

Aber als er dann die Tür öffnet: großes Traritrara.

– Du hast dich ja noch gar nicht umgezogen, und: – Gefällt es dir also trotzdem nicht?, und all so ein Zeug.

Ich zeige auf meinen linken Arm.

– Mal daran gedacht?

– Stimmt!

Ja und jetzt zieht er mir das Jäckchen aus und streift mir das T-Shirt über den Kopf und über die Knie die Pyjamahose. Eine Weile stehen wir so da, ich, weil mir nicht viel anderes übrigbleibt als zu warten, Jack, weil er irgendwie verlegen ist. Dann fischt er plötzlich eine halbe Schachtel Parisienne aus der Hosentasche, fingert mühsam eine Zigarette daraus hervor, macht sie an und zieht heftig daran. Er reicht mir den zur Hälfte abgebrannten Stengel, von dem ich zwei, drei Züge nehme, als mich Jack plötzlich umarmt. Und mit seiner Umarmung lösen sich hinter meinem Rücken mit einem Klicken die Häkchen des BHs und vom Boden her starren mich große Augen an aus einem Brillengestell aus schwarzer Spitze. Und dann liege ich auch schon auf dem Rücken, vor mir meine kleinen Brüste, die wegkippen nach links und nach rechts, und das krause Dreieck und Jacks Scheitel, der darin versinkt und wieder auftaucht, und seine Küsse auf meinem Bauch und unter meinem Kinn und in meinem Mund, der jetzt salzig wird davon, und vor allem seine Augen, diese auffordernden und dann wieder bremsenden und alles bestimmenden Augen und diese warme Flüssigkeit zwischen meinen Beinen, die herauskommt aus mir und wieder hineingepresst wird und wieder herausfließt. Und dann ist da mein schweißverklebtes Gesicht, meine geschwollenen Augen, das Gellen in den Ohren.

Ja.

Ich denke: Und das am Tag von Leas Beerdigung. Es ist ihr Tag. Und dann denke ich: Aber es ist auch mein Tag.

Jack hat es jetzt eilig mit dem Friedhof. Wie ein Besessener rast er los, und er lässt sich auch dadurch nicht entmutigen, dass ich ihm nach zehn Minuten bedeute, er soll rausfahren bei der ersten Tankstelle, und mir absichtlich Zeit lasse auf dem Klo. Als wir auf dem Friedhof anlangen, ist es nämlich früher, als es sein wird, wenn wir sein Haus verlassen haben werden, sodass wir jetzt wieder jede gewonnene Minute mühsam vertrödeln müssen.

Wir steigen aus und drehen eine Runde über den Friedhof. Jacks Schuhe stapfen knirschend über den Kies und so schnell, dass alles zerfließt zu einem pochenden Rauschen. Er klingt wie dieser Mann, der auf der Stelle zu rennen anfängt in meinem Kopf, wenn nachts das Kissen gegen ihn drückt oder meine Hände gegen die Ohren, und doch nie vom Fleck kommt. Man könnte jetzt denken, Jack sei auf der Flucht vor mir, aber das tue ich nicht. Da ist nämlich meine Hand fest in seiner und mein Körper, der ihr folgt, so gut es eben geht mit dem wenigen Blut, das jetzt in die Beine fließt und fehlt im Kopf. Jack tut das nur, weil er glaubt, dass die Zeit schneller vergeht, je schneller man läuft.

Dieser Friedhof ist der größte, den ich bisher gesehen habe in meinem Leben. Ich meine, ich habe nicht viele gesehen, aber der in Baden ist kleiner. Und er ist vor allem voller. Hier dagegen kann man Hunderte Meter gehen und kriegt kein einziges Grab zu Gesicht.

– Man kriegt fast den Eindruck, sagt Jack, – in Zürich werde zu wenig gestorben.

Natürlich sagt Jack nichts dergleichen. Es ist der Tag, an dem seine Schwester begraben wird. Aber wenn wir sonst auf den Friedhof gekommen wären, an einem anderen Tag – ich bin mir sicher, er hätte das so gesagt.

Stattdessen sagt er:

– Ich habe hier schon viele Spaziergänge gemacht.

Und dann, nach einer Pause:

– Um mich daran zu gewöhnen.

– Ich auch, sage ich, und denke an den Friedhof in Baden. – Ich habe das auch getan.

Jack schweigt. Er antwortet nichts.

– Aber man gewöhnt sich nicht daran, sagt er dann.

Wir stehen schon eine ganze Weile auf dem Parkplatz. Alles wartet. Die Sargträger warten, Leas Onkel und Tanten warten, ihre Cousins und Cousinen warten, Jack und ich warten, Lea wartet.

Wir warten auf ihre Eltern und einen Onkel.

Als sie endlich vorfahren im Taxi, geht die eine Tür im Fond schon auf, da hat der Wagen noch gar nicht gehalten. Heraus steigt ein bellender Wortschwall, und dicht hinter ihm folgt Jacks Vater. Er flucht so laut, dass man gar nichts versteht davon.

– Personenunfall und Streckensperrung, verdammte, sagt dann Jacks Onkel, der sich hinter seinem Bruder aus dem Taxi müht, aber auch hier kein Hallo zusammen oder wenigstens ein Winken.

Nachdem er sich etwas erholt hat, aber noch immer mit hochrotem Kopf, sagt Jacks Vater:

 

– Lea war so jung. Und dann gibt es da Leute, die schmeißen ihr Leben weg wie Taschentücher.

Er spuckt auf den Asphalt.

Und schaut in unsere Richtung, zu Jack und mir, mit diesem Blick, der mir immer ein schlechtes Gewissen macht, wenn ihn jemand aufsetzt in meiner Gegenwart.

Natürlich fühle ich mich irgendwie schuldig. Aber für die Streckensperrung kann ich wirklich nichts.

Dann steigt Jacks Mutter aus, bleibt stehen und schaut in die Runde. Die Trauergäste nähern sich nur langsam, keiner will sich aufdrängen, niemand der Erste sein. Nur Jack und ich, wir bleiben sitzen auf dem Mäuerchen im Schatten, bis meine Beine wieder das tun, wozu sie gemacht sind: stehen. Jacks Eltern nehmen unterdessen Umarmungen entgegen, schütteln Hände, lassen sich zentnerweise Beileid auf die Schultern laden. Bei all dem hört Jacks Mutter nicht auf, Ausschau zu halten in den Augenblicken zwischen einer Umarmung und der nächsten. Wonach, das weiß ich erst, als sie die Sonnenbrille hebt und aus ihren eng zusammenliegenden, geröteten Augen einen verlorenen Blick auf uns, in den Schatten, richtet, in dem ein Begrüßen liegt, ein wenig vordergründige Freude und ein ganzer Haufen Traurigkeit. Langsam kommt sie auf uns zu, in gleichmäßigen, ruhigen Schritten, sodass sich ihr Körper kaum bewegt und ihre Schultern nicht. Nur in ihrem Gesicht herrscht ständig Bewegung, Mienen werden durcheinandergeworfen von Freude, Rührung und Traurigkeit. Dann, als sie vor uns steht, steigt ihr das Wasser in die Augen, die glasig werden deswegen und anschwellen. Tränen ziehen schwarze Schlieren über die Wangen, ein Tropfen fällt ihr von der geröteten Nasenspitze.

– Du siehst aus wie Lea, sagt sie.

Ich – was? Meine Wangen flimmern von der Hitze, und meine Stirn tut es. Ich spüre, wie sich die fünf Fingernägel einer Hand in meinem linken Oberarm vergraben, dass ein Stechen zu spüren ist bis ins Handgelenk und ein Rauschen im Handteller. Die fünf Fingernägel einer rechten Hand. Meiner Hand. Ich schaue an mir herunter. Ich will etwas sagen. Ich will alles sagen. Ich sage:

– Tut mir leid.

Das ist der einzige Satz, den ich jetzt so zustande bringe auf die Schnelle.

Ich schaue Jack an, aber der weiß gerade auch nicht so recht, was er sagen soll.

– Du siehst wunderschön aus, sagt seine Mutter dann, und bevor ich irgendetwas entgegnen kann, finde ich mich auch schon in ihren Armen wieder.

Ich fühle meine Haut wie heißen Asphalt, der Blasen wirft unter der Sonne. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt. Wirklich, alles wird froh in mir, wie Popcorn in der Pfanne ein bisschen, während Jacks Mutter weint über meiner Schulter. Ich bin irgendwie glücklich und ich fühle mich schlecht deswegen, ich denke an Lea und dass heute ihre Beerdigung ist, aber dieser Gedanke kommt nicht an gegen die Erleichterung, und das macht mich irgendwie trübsinnig. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn zu meiner Beerdigung jemand gekommen wäre, der eines meiner Kleider getragen hätte, von meiner Mutter mit mir verglichen worden wäre und sich darüber auch noch gefreut hätte, aber es nützt alles nichts. Ich bin so erleichtert, dass alles lachen will in mir. Ich zwinge mich, das Zucken in meinem Hals hinunterzuschlucken und das Drücken. Doch je häufiger ich daran denke, umso stärker ist der Drang, laut herauszuplatzen mit meinem Gekicher. Keine Minute vergeht, und ich habe Tränen in den Augen und unter den Lidern jede Menge Blut. Jack nimmt mich in den Arm, und seine Mutter tut es.

Wir haben Aufstellung genommen. Da ist der weiß lackierte Sarg in unserer Mitte und da ist diese rechteckige Grube daneben, die so sorgfältig in den Rasen geschnitten ist, dass es aussieht, als hätte jemand eine Tür offen gelassen in ihm.

Eine Weile geschieht gar nichts.

Dann hält irgendwer eine Rede. Dann ein zweiter. Und dann noch einer.

Die Leute in ihren schwarzen Kleidern und schwarzen Anzügen brechen reihenweise um, mit nassem Gesicht.

– Zusammen, flüstert Jack. – Oder fallen.

Schon klar. Sag ich doch.

Aber das sage ich nicht.

– Weil es zu heiß ist, flüstere ich.

– Weil sie weinen, flüstert Jack.

Und dann, als sich Lea langsam senkt an den Seilen, frage ich mich, wie es wohl ist, wenn man da unten liegt in der Grube und um einen herum dieser Sarg und diese Wände aus Lehm, die haltlos sind und glatt wie die Ewigkeit, sodass man nicht mehr aus ihr herauskommt.

Und dann denke ich, dass ich das alles schon einmal gesehen habe. Und noch nie. Und dass ich weiß, warum ich es noch nie gesehen habe. Und dass ich nicht weiß, warum nicht.

Lea.

Sie hat allen Facetten ihres Lebens einen Sinn gegeben, ob in guten oder in schlechten Zeiten.

Sie war eine, die mit dem Kopf durch die Wand ging und ihre Ziele mit Hochachtung erreichte.

Für die Familie war sie nicht nur Schwester, Tochter und Enkelin, sondern auch Freundin. Für ihre Freunde war sie eine Schwester, die immer zuhörte und immer für sie da war.

Sie war immer sehr ehrlich und sie war für alle ein Vorbild.

Sie war stets offen und geradeaus und scheute sich auch nicht, ihre Meinung zu sagen, auch wenn sie darauf Gegenwind bekam.

Man hört sich das alles an und denkt: Jemanden wie Lea habe ich nie gekannt. Und: Hätte ich sie doch früher getroffen. Und vor allem: So möchte ich auch sein.

Und dann schaue ich wieder in die Grube hinab und denke, dass es nun dieses Bild von Lea in mir gibt, dass es bleiben wird und dass es gut ist. Und ich schaue zu Jack und denke, dass ich auch von ihm ein Bild in mir trage, und dass es ebenfalls gut ist, aber dass es sich ändern kann. Lebende, denke ich, verändern sich die ganze Zeit. Sie werden geiziger mit dem Alter oder lassen sich die Spendierhosen an den Körper nähen, sie werden sturer oder nachgiebiger, umtriebiger oder schlaffer. Sie brechen plötzlich die Treue, fangen auf einmal zu lügen an und zu täuschen, fallen dir in den Rücken. Aber ein Toter, das ist etwas Endgültiges.

Als wir wieder auf dem Parkplatz stehen, ist es schon spät geworden, sehr spät. Jack schiebt den Ärmel seines Jacketts wieder nach oben und führt sich seinen linken Arm mit Schwung unter die Augen, um ihn im selben Moment wieder wegschnellen zu lassen, so als hätte der Blick auf das Zifferblatt so ganz und gar nicht das ergeben, was er sich von ihm erhofft hatte.

– Wir müssen, sagt er. – Ich habe versprochen, dich um fünf wieder im Krankenhaus abzuliefern.

Ich grinse, erst lautlos und verhalten, dann, als auch Jacks Mutter in Gelächter ausbricht, gebe ich mir keine Mühe mehr, irgendetwas zurückzuhalten.

– Das macht er schon seit dem Kindergarten, sagt Jacks Mutter. Ich spüre ihre Hand auf meinem rechten Oberarm. – Alba, wir sollten ihm eine Uhr schenken, endlich.

Jack reißt den Mund auf und die Augen und schaut verdutzt auf sein Handgelenk, so als würde er erst jetzt, nach all den Jahren, bemerken, dass da gar keine Uhr ist an seinem Arm.

– Ja, er kommt nie rechtzeitig zu mir ins Krankenhaus. Meistens kommt er zu spät und heute, ja heute war er zu früh.

Eine Sekunde später wird mir klar, was ich da gerade gesagt habe, und schon werde ich wieder rot im Gesicht, aber seine Mutter lacht, und Jack tut es.

Grandios! Lea hätte das wirklich gefallen, sagt sie, aber es ist kein Zittern mehr in ihrer Stimme wie vorher. Sie ist irgendwie ruhiger geworden und ein wenig zufrieden vielleicht.

– Das heißt, du kommst also nicht mehr mit uns mit? Zum Essen?

Natürlich gibt es nichts, was ich jetzt lieber tun würde. Wegen Jacks Familie und wegen dem Essen auch.

Ich schaue zu Jack: Der schüttelt den Kopf. Dann schaue ich wieder seine Mutter an:

– Ich fürchte nicht. Wenn ich die Geste Ihres Sohnes richtig deute.

– Deines Sohnes, Alba, Du. Und dann, indem sie mir die Hand hinstreckt: – Ich bin Elisabeth.