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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 1

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Die spanische Galeone wurde als Prise von Kapitän John Thomas, einem Freund Francis Drakes, nach Plymouth gesegelt. Und mit ihm fuhren zehn Männer der „Marygold“ als Prisenmannschaft. Die Spanier blieben als Gefangene an Bord der Galeone. Nur ihr Captain blieb als persönlicher Gefangener Drakes an Bord der „Mary gold“.

Die Galeone segelte eine Stunde später nordwärts. Die „Marygold“ stieß indessen nach Südwesten zu den Azoren vor.

7.

Zwei Tage später begannen merkwürdige Dinge an Bord der „Marygold“. Zunächst verschwand eines nachts ein Mann der Besatzung auf Nimmerwiedersehen. Er hatte seine Mitternachtswache noch angetreten, dann hatte ihn niemand mehr gesehen. Das ganze Schiff wurde durchsucht, aber der Mann blieb verschwunden.

Vielleicht war er über Bord gegangen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Bei Tage auf Gegenkurs zu gehen und die See nach ihm abzusuchen, entsprach etwa der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Bei Nacht traf das erst recht zu.

Mac Pellew, der Koch, unkte in seiner miesgrämigen Art was von geheimnisvollen Seeungeheuern, die nachts an Bord stiegen und brave Männer verspeisten.

Worauf Carberry, der Profoß, ihn aufsuchte, er solle sich lieber darum kümmern, einen besseren Fraß zu kochen. Und überhaupt, was Mac da von geheimnisvollen Seeungeheuern schwafele, das sei hirnrissige Spinnerei, wie was?

Am nächsten Tag schlurfte Mac Pellew mit Leichenbittermiene zum Achterkastell und meldete, er habe für die Kombüse Trinkwasser gebraucht und sei unten in der Vorpiek gewesen.

„Na und?“ fuhr ihn der Profoß an.

„Alle vier Fässer sind leer“, sagte Mac Pellew mit Grabesstimme. „Hier geht ein Geist um.“

„Was denn – leer? Alle vier Fässer leer?“

„Sag ich doch“, erwiderte Mac Pellew brummig.

„Das ist doch gar nicht möglich“, sagte Carberry fassungslos. „Die saufen wir doch nicht mal in einem Monat leer.“

„Sie sind aber leer, verdammich.“

Der Profoß überquerte die Kuhl und stieg in die Vorpiek hinunter. Er öffnete den ersten, den zweiten, den dritten, den vierten Zapfhahn – nichts, kein Wasser, nicht mal ein Tröpfchen. Unsinnigerweise hämmerte er mit der Faust gegen die Fässer. Sie klangen hohl, also waren sie leer.

Carberry fluchte wild und stieg wieder an Deck.

In einem der Räume unter dem Achterkastell befanden sich zwei Reservefässer. Er kontrollierte sie. Sie waren voll. Er riegelte den Raum ab und sicherte ihn mit einem riesigen Schloß.

Dann meldete er dem Kapitän, daß die vier Wasserfässer in der Vorpiek auf unerklärliche Weise entleert worden seien.

„Meinen Sie, jemand habe die Zapfhähne absichtlich aufgedreht?“ fragte der Kapitän scharf.

Carberry zuckte mit den Schultern.

„Eins hätte ein Leck haben und auslaufen können, aber nicht alle vier, Sir.“

„Und was ist mit den beiden Fässern hier unter dem Achterkastell?“

„Die sind noch voll. Ich habe den Raum abgeschlossen.

„Hm.“ Die grauen Augen bohrten sich in Carberrys Augen. „Haben Sie einen bestimmten Verdacht?“

„Nein, Sir. Die Leute sind alle in Ordnung. Nur …“ Er verstummte und kratzte sich den Nacken.

„Was? Heraus mit der Sprache!“

„Na ja, ich dachte gerade an John Johns, der gestern nacht verschwunden ist. Ich dachte, ob da ein Zusammenhang besteht. Vielleicht hat er die Zapfhähne geöffnet und ist dann über Bord gesprungen.“

„Unsinn“, sagte der Kapitän knapp. „Können Sie mir mal verraten, was er davon gehabt haben sollte? Außerdem war John Johns ein guter Mann, so etwas Verrücktes würde ich ihm nie zutrauen.“ Er schüttelte den Kopf und dachte nach. Nach einer Weile sagte er: „Die tägliche Wasserration wird auf die Hälfte herabgesetzt. Bei der nächsten Prise ergänzen wir unseren Wasservorrat. Oder wir laufen die Azoren an und übernehmen von Land Wasser. Ich kenne da eine Stelle, wo wir keinem Portugiesen oder Don gleich auf die Füße treten. Also kein Grund zur Aufregung. Verdursten wird schon keiner. Aber halten Sie die Augen offen, Carberry. Ich möchte auch, daß Sie das dem Seewolf sagen. Er ist Decksältester und erfährt mehr über die Stimmung im Vordeck, als wir je zu hören kriegen.“ Etwas leiser fügte er hinzu: „Fast halte ich ihn für den besten Mann an Bord der „Marygold“.

Dem konnte der Profoß nur zustimmen, obwohl er Hasard immerhin zwei Zahnlücken zu verdanken hatte. Allerding war der eine der beiden Zähne sowieso reif zum Abbruch gewesen. Na also.

Gegen Mittag gab’s dann einen handfesten Krach im Vordeck. Die beiden Männer, die den Backschaftsdienst versahen, hatten den Kessel mit der Kohlsuppe aus der Kombüse geholt und auf die aufklappbare Eßbank gestellt. Die Leute der Freiwache drängelten bereits und klapperten unisono mit den Löffeln gegen die Wandungen ihrer zinnernen Kummen.

Der eine Backschafter lüftete den Deckel und rührte kräftig mit einer Kelle in dem Kessel herum. Dann schöpfte er den ersten Schlag heraus und goß ihn in die bereitgehaltene Kumme von Smoky, der jetzt stellvertretender Decksältester war. Hasard hatte Wache und stand am Ruder.

Smoky und der Backschafter sahen es gleichzeitig. Smoky quollen die Augen aus dem Kopf, und der Backschafter, ein Mann namens Grotjan – ein blonder Holländer – kriegte flatternde Augenlider.

In der Kumme schwamm eine tote Ratte.

Smoky stellte die Kumme schweigend auf die Eßbank, griff mit zwei spitzen Fingern hinein und zog die Ratte am Schwanz aus der Kohlsuppe. Er betrachtete sie von allen Seiten und stellte mit fachmännischem Blick fest, daß sie ein gebrochenes Genick hatte. Woraus logisch zu folgern war, daß die Ratte nicht von selbst in der Kohlsuppe ersoffen war, sondern daß sie jemand – bereits tot – in die Suppe praktiziert hatte.

Aber wer?

Smoky behielt die Ratte am Schwanz und ließ sie kreisen. Dabei blickte er Grotjan schweigend und grimmig an.

„Ich – ich war’s nicht“, sagte Grotjan hastig, „pfui Teufel, ich tu doch keine Ratte in die Suppe.“

Smokys Blick wanderte zu dem anderen Backschafter.

„Ich war’s auch nicht“, sagte der, „ich bin doch nicht verrückt.“

„Hol Mac!“ sagte Smoky mit leiser und gefährlicher Stimme.

Der Backschafter lief los und kehrte mit Mac Pellew zurück. Die Männer, die einen Kreis um Smoky gebildet hatten und alles andere als fröhlich aussahen, ließen Mac durch und schlossen den Kreis wieder.

Smoky ließ die Ratte kreisen. Mac Pellews Augen kreisten mit. Er schob den dünnen Hals vor und beäugte mit rollenden Augen das tote Vieh, von dessen Fell die Kohlsuppe an Deck tropfte.

Smoky sagte: „Na, Mac?“

Mac Pellew schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte.

„Ist das ein Ding“, sagte er.

„Auf halber Wasserration sind wir schon“, sagte Smoky drohend. „Kriegen wir jetzt auch noch Ratten, statt Fleisch zu fressen, du Geier? Oder was soll das? Dann zieh dem Biest doch wenigstens vorher das Fell ab. Ich sollte dir die verdammte Ratte ins Maul stopfen, du Hurensohn.“

So leicht ließ sich Mac Pellew allerdings nicht in die Pfanne hauen. Er war zwar ein alter Miesgram, aber Mumm hatte er.

„Sag mal, du Blödmann“, blaffte er Smoky an, „meinst du vielleicht, daß auf meiner heutigen Menükarte Kohlsuppe mit Ratteneinlage steht, he? Meinst du das? Die Kohlsuppe wurde vom Kapitän angeordnet, weil sie gleichzeitig als Flüssigkeitsration dienen soll.“ Er knallte die rechte Faust in die linke Handfläche. „Jetzt ist die Suppe von dieser verdammten Ratte versaut, so ein Scheißkram.“

„Jawohl“, sagte Smoky, „da geb ich dir recht. Aber wenn du keine Ratten an uns verfütterst, wer dann, wie?“

„Gordon Brown“, sagte Mac Pellew prompt. „Diesem Schweinehund ist so was zuzutrauen. Ich war einmal weg aus der Kombüse, um den Abfalleimer außenbords zu kippen. In der Zeit kann er dies Mistdings in die Suppe geworfen haben.“

„Gordon Brown“, sagte Smoky sehr langsam und gedehnt. „Schau einer an.“ Und hart und knapp setzte er hinzu: „Hol ihn!“

Mac Pellew holte ihn. Der Kreis der Männer schloß sich wieder. Ihre Mienen waren ziemlich finster.

Gordon Brown starrte auf die Ratte, die Smoky am Schwanz hochhielt.

„Was soll’n das?“ fragte er.

„Die schwamm in der Kohlsuppe“, sagte Smoky. „Weißt du vielleicht, wie sie da reingeraten sein könnte?“

„Die ist reingefallen“, sagte Gordon Brown.

„Klar“, sagte Smoky tückisch. „Und erst hat sie sich das Genick gebrochen, und dann ist sie in den Kessel gestiegen, um ein Bad zu nehmen. Du mußt dir schon was Besseres einfallen lassen.“

„Die hat dieser Killigrew reingetan“, sagte Gordon Brown giftig.

Smoky wippte auf den Fußballen.

„Wie denn? Der Seewolf steht seit drei Stunden am Ruder. Wenn mich nicht alles täuscht, befindet sich das Ruder im Ruderhaus des Achteskastells. Von dort aus eine Ratte gezielt in den Topf auf den Kombüsenherd zu werfen, schaffte allenfalls einer, der mit des Teufels Großmutter versippt ist.“

„Dann war’s dieser Lümmel aus Falmouth.“

„Donegal Daniel O’Flynn befindet sich ebenfalls seit drei Stunden auf Wache, und zwar als Ausguck oben im Großmars. Schön. Er fängt eine Ratte, bricht ihr das Genick, steckt sie in die Tasche, steigt zum Großmars hoch und wirft sie von dort durchs obere Kombüsenluk in den Topf. Pech ist nur, daß der Herd nicht unter dem Luk steht. Was sagst du jetzt?“

„Leck mich doch“, sagte Gordon Brown.

Smoky übte eine bewundernswerte Geduld. „Könnte es nicht sein, daß du die Ratte in die Suppe getan hast?“

„Ich?“

„Das sagte ich. Mac erzählt uns nämlich, er habe die Kombüse mal verlassen, um den Abfall außenbords zu kippen.“

 

„Er lügt!“ schrie Gordon Brown.

Blacky mischte sich ein. Er trat aus dem Kreis der Männer einen Schritt vor und sagte drohend: „Er lügt nicht, ich habe nämlich gesehen, wie er die Pütz mit dem Abfall in die See gekippt hat. Oder willst du etwa behaupten, daß ich Tomaten auf den Augen habe, wie?“

Gordon Brown blickte sich gehetzt um. Er starrte in gnadenlose Gesichter.

„Haltet ihn fest“, befahl Smoky und grinste zufrieden. „Wir werden ihm das zu kosten geben, was wir fressen sollten – die Ratte ...“

„Nein!“ schrie Gordon Brown und schlug um sich.

Sie hatten ihn sehr schnell gebändigt. Vier Männer hielten ihn eisern fest. Er konnte nur noch den Kopf bewegen und warf ihn hin und her.

„Schrei mal“, sagte Smoky sanft.

Gordon Brown fiel darauf herein und brüllte tatsächlich los. Smoky stopfte ihm blitzschnell die Ratte in den aufgerissenen Mund. Gordon Brown kriegte ihn nicht mehr zu, es sei denn, er biß die Ratte durch. Smoky drückte und stopfte mit dem Handballen. Gordon Brown würgte, seine Augen quollen aus den Höhlen, er lief rot an.

Zuletzt hing nur noch der Rattenschwanz aus seinem Mund. Seine Wangen waren ausgestopft, als habe er dort Pfannkuchen gehamstert.

Die Männer ließen ihn los. Smoky hievte ihn hoch und beförderte ihn mit einem Tritt in den Hintern aufs Mitteldeck hinaus. Dort krachte er auf die Planken, rappelte sich auf und stürzte zum Schanzkleid der Leeseite. Würgend erbrach er sich und schickte die Ratte zu den Fischen. Zehn Minuten später erbrach er sich immer noch, aber da spie er nur noch Galle. Auch nach fünfzehn Minuten hing er noch über dem Schanzkleid.

Smoky erschien auf dem Vordeck und schleppte den Kessel mit der Kohlsuppe zu ihm hin. Er stemmte ihn hoch und stülpte ihn samt Inhalt über den Kopf von Gordon Brown.

Als Smoky wieder im Vordeck verschwunden war, tobte Carberry den Niedergang vom Achterkastell hinunter und donnerte Gordon Brown zusammen, was das für eine verdammte Sauerei auf dem Deck und am Schanzkleid sei. Und dann mußte Gordon Brown mit Seewasser Deck und Schanzkleid schrubben, und damit hielt ihn der Profoß für drei Stunden erbarmungslos in Trab.

Mac Pellew hatte den Profoß bereits vorher über die Geschichte mit der Ratte informiert, und Carberry hatte nur darauf gewartet, Gordon Brown in die Mangel zu nehmen, wobei er nach altem Brauch allerdings den Männern vom Vorkastell den Vortritt lassen mußte. Das war ungeschriebenes Gesetz. Solche Dinge mußten die Männer unter sich aushandeln.

Aber mit der Ratte in der Kohlsuppe riß die Serie der unerklärlichen Zwischenfälle keineswegs ab.

Am nächsten Tag frischte der Wind auf, wehte aber stetig aus Nordost. Sie hatten auch die Blinde, das Rahsegel unter dem Bugspriet gesetzt und rauschten mit brausender Fahrt vor dem Wind südwestwärts.

Gegen zehn Uhr vormittags brach der Bugspriet mit einem peitschenartigen Knall. Der achterliche Wind fuhr unter die Blinde, hob sie samt Schoten, Geitauen und Brassen in die Luft, beutelte sie wie ein Bettlaken, das ausgeschüttelt wird. Sie flatterte hoch und stieß plötzlich wie ein abstürzender Drachen samt Rah, Vorstag, Bugspriet und einem Gemengsel von Tauen in die Bugsee, wurde vom Bug überrannt und auf der Backbordseite hochkommend wie ein riesiger Treibanker mitgeschleppt.

Fast abrupt verlangsamte die „Marygold“ ihre Fahrt, lief aus dem Ruder, schwoite nach Backbord herum und hing buchstäblich an diesem Tohuwabohu von Hölzern, Segeltuch und diversen Tauen. Gleichzeitig – mit dem Herumschwenken – schlugen die Segel am Vormast, Großmast und Besanmast back, Fallen quarrten, Braßtaue und Schoten quietschten schrill, sämtliche Hölzer, ob Rahen oder Masten, stöhnten mißtönend und protestierten gegen die Vergewaltigung. Es war überhaupt ein Wunder, daß nichts von oben herunterkam.

Hasard, Freiwächter und demzufolge pennend in einer Hängematte im Vordeck, schoß aus dem frei aufgehängten Schaukelbett heraus, durchs Schott des Vorkastells und auf die Back. Mit einem Blick sah er, was passiert war, brüllte nach einem Enterbeil, das ihm zwei Minuten später jemand in die Hand drückte, und hieb den Gordischen Knoten von Fallen, Brassen, Schoten und Geitauen mit wenigen, aber wüsten Schlägen durch.

Die „Marygold“ atmete direkt auf. Das heißt, sie sackte, von dem erzwungenen Treibanker befreit, achteraus. Francis Drake, längst auf dem Deck des Achterkastells, peitschte mit seiner scharfen Stimme Segelkommandos über das Deck. Die „Marygold“, befreit von ihrem Ballast, drehte vor den Wind und zurück auf alten Kurs.

Hasard starrte auf die Bruchstelle, dorthin, wo der Bugspriet weggeknackt war. Er starrte noch dorthin, als neben ihm der Kapitän auftauchte, sich bückte und die Bruchstelle mit den Fingern abtastete.

„Verdammt“, sagte der Kapitän.

Hasard versuchte, dieses „verdammt“ noch etwas härter auszudrücken. Er hätte gerne „verdammte Scheiße“ gesagt, aber er verkniff sich diese Bekräftigung.

Der Kapitän deutete auf die Bruchstelle. Erbittert sagte er: „Da hat jemand mit einem scharfen Messer herumgesäbelt. Dieser Jemand hat eine Kerbe in das Holz geschnitten, und zwar ziemlich geschickt. Der Bugspriet mußte wegkrachen, sobald mehr Winddruck auf der Blinden stand als bisher.“ Er starrte in die eisblauen Augen des Seewolfs. „Möchte wissen, wer dieser Schweinehund ist – ein Mann außenbords, vier Wasserfässer leer, eine tote Ratte in der Kohlsuppe und jetzt dies hier.“

Hasard nickte. „Das möchte ich auch wissen“, sagte er. „Aber vielleicht ist das gar nicht Jemand. Vielleicht sind da mehr Leute im Spiel. Darf ich Sie etwas fragen, Sir?“

„Fragen Sie.“

„Bei Patrick Evarts in der Segelkammer arbeitet der Taubstumme. Wie lange ist er schon an Bord?“

Der Kapitän schüttelte den Kopf.

„Seit knapp einem Jahr. Evarts sagte, dieser arme Mann sei besser als alle Gehilfen, die er jemals beschäftigt habe. Er bezog das nicht nur auf dessen Geschicklichkeit, sondern auch auf sein Wissen und seinen Fleiß. Der Taubstumme ist völlig integer.“

Hasard blickte vielsagend auf die Schnittstelle.

„Unser Jemand hat genau gewußt, wo er das Messer anzusetzen hat. Hier, genau knapp hinter den Zurrings, die den Bugspriet gegen die schräg von oben wirkenden Kräfte festhalten, hat er seine Kerbe angebracht. Und bitte“ – er beugte sich vor –, „die Zurrings sind ebenfalls angeschnitten worden.“ Er blickte den Kapitän an. „Wie ist denn der Taubstumme an Bord der „Marygold“ gekommen – auch über die „Bloody Mary“?“

Der Kapitän stutzte. „Nein. Gordon Brown hat ihn angeschleppt. Der Taubstumme war halb verhungert und suchte eine Heuer.“

„Gordon Brown, sagte Hasard gedehnt, „ausgerechnet Gordon Brown, diese Ratte. Als ich unten in der Vorpiek meinen Zwangsaufenthalt verbrachte, kreuzte er in der Nacht auf und bot mir eine Muck Trinkwasser an – gegen Bezahlung. Vorher hatte er wissen wollen, ob wir Killigrews von der Feste Arwenack Geld hätten. Ich ließ ihn abfahren.“

„Und das haben Sie verschwiegen, als Sie ausgepeitscht wurden?“ fuhr ihn der Kapitän an.

Hasard lächelte. „Wer bei mir Schulden hat, zahlt sie irgendwann zurück, Sir.“

„Habe ich bei Ihnen Schulden?“ fragte der Kapitän prompt.

„Nein – keiner hier an Bord, nur Gordon Brown. Und Sie können sich darauf verlassen, daß ich von jetzt ab – auch nachts – hören werde, ob die Flöhe husten. Und irgendwann werde ich Ihnen jemanden oder noch einen auf einem silbernen Tablett präsentieren.“

Das Gesicht des Kapitäns blieb unbewegt.

„Sagen Sie, Killigrew, warum haben Sie Arwenack verlassen?“

„Weil ich zu Ihnen wollte, Sir. Außerdem hat sich der Alte zu einem biestigen Ekel entwickelt. Wäre ich noch länger auf Arwenack geblieben, hätte ich ihm irgendwann den Hals umgedreht.“

„Ihrem Vater?“

„Meinem Vater“, sagte Hasard hart. „Väter, die ihre Söhne derart schikanieren, wie er es getan hat, denen springt man eines Tages an die Gurgel.“

Ein verhaltenes Lächeln glitt über die scharfgeschnittenen Züge des Kapitäns.

„Da kann ich nicht mitreden, ich habe noch keine Söhne, die mir an die Gurgel springen könnten.“

„Aber Sie waren einmal Sohn eines Vaters“, sagte Hasard schlagfertig. „Wollten Sie Ihrem Vater nie ...“

„Du lieber Gott“, sagte Francis Drake, „mein Vater war ein protestantischer Pfarrer. Ich hätte nie gewagt, wider den Stachel zu löcken.“

„Und eines Tages sind Sie auf und davon, nicht wahr?“

„Ja“, sagte der Kapitän überrascht und räusperte sich. „Sie müssen wohl immer das letzte Wort haben, wie?“

„Manchmal“, erwiderte Hasard und grinste charmant. „Nur manchmal, Sir. Außerdem habe ich gelernt, daß niemals etwas endgültig oder „letztes Wort“ ist. Die Welt würde stehenbleiben, wenn es so wäre.“

„Die Welt“, sagte der Kapitän versonnen. Abrupt richtete er sich auf und fügte im Weggehen hinzu: „Das Gespräch bleibt unter uns, Killigrew.“

„Aye, aye“, erwiderte der Seewolf.

Ferris Tucker tauchte auf, musterte den abgebrochenen Stummel des Bugspriets, sagte ebenfalls „verdammt“, als er erkannte, was den Bruch des Bugspriets hervorgerufen hatte, und ging an die Arbeit. Am Nachmittag hatte er einen neuen Sprietteil angelascht und den Bugspriet wieder völlig aufgerichtet, so daß eine andere Blinde gesetzt werden konnte.

Natürlich wußte jeder an Bord der „Marygold“ innerhalb kürzester Frist, daß der Bugspriet nicht von allein weggebrochen war, sondern jemand ihn angekerbt hatte. Und nun ging auf der „Marygold“ das Mißtrauen um und vergiftete die Atmosphäre. Die Männer wurden gereizt, belauerten sich gegenseitig und verdächtigten alles und jeden. Jene, die zum Aberglauben neigten – und das waren nicht wenige –, deuteten die Geschehnisse als ein Wirken magischer Teufelskräfte und verstiegen sich zu der Behauptung, an Bord gingen Wassermänner um und trieben ihr Unwesen.

Was Hasard zu der Bemerkung veranlaßte, da seien ihm vollbusige Nixen schon lieber. Und ob die verehrten Gentlemen denn schon mal Wassermänner gesehen hätten?

„Das ist es ja gerade“, sagte Mac Pellew mit der Miene eines Sargträgers, „sie sind unsichtbare Geister der Hölle.“

„Quatsch“, sagte Hasard resolut, „zumindest bei der Sache mit der Ratte warst du der Meinung, Gordon Brown sei der Schuldige. Ist der nun ein Wassermann oder Gordon Brown?“

„Beides.“

„Aber sichtbar, wie?“ fragte Hasard ironisch. „Eben sagtest du, Wassermänner seien unsichtbare Geister der Hölle.“

„Papperlapapp“, sagte der Koch wütend.

Hasard grinste ihn an, und sehr freundlich sagte er: „Mac, hör auf, hier Unsinn zu verzapfen. Du machst die Männer nur noch kribbeliger, als sie es ohnehin schon sind. Es gibt keine Wassermänner. Ist das klar?“

„Aber ...“ begann Mac Pellew.

„Kein Aber“, unterbrach ihn Hasard scharf. „Wenn du weiter Unsinn faselst, muß ich annehmen, daß du darauf aus bist, den Unfrieden hier noch anzuheizen.“

„Ich?“ sagte Mac Pellew empört.

„Jawohl, du. Ende der Diskussion. Noch ein Wort über Wassermänner, und ich falte dich zusammen und stopf dich ins Feuerloch deines Kombüsenherdes.“

„Aye, aye, Sir“, sagte Mac Pellew erschrocken.

Während der Mitternachtswache war es Hasard, der merkte, daß wieder etwas passiert war. Er hatte dem Kapitän zwar gesagt, daß er das Flöhehusten hören werde, aber das war wohl doch etwas zu schwierig, wenn man am Ruder stand, Kurs zu steuern hatte und auf den Stand der Segel aufpassen mußte.

Jedenfalls spürte er gegen zwei Uhr nachts, daß die „Marygold“ immer träger aufs Ruder reagierte. Zuerst registrierte er es mehr unbewußt. Dann plötzlich war da noch etwas: Die bisherigen Roll- und Stampfbewegungen der „Marygold“ veränderte sich. Sie brauchte eine beängstigend lange Zeit, sich aus der jeweiligen Krängungslage wieder aufzurichten.

Die Erkenntnis durchzuckte Hasard wie ein Blitzstrahl.

Wasser im Schiff!

„Ferris!“ brüllte Hasard mit einer Stimme, die sämtliche Schläfer auf der „Marygold“ hochfahren ließ.

Der riesige Schiffszimmermann war eine Viertelstunde später bei ihm.

„Schnell, laß die Pumpen besetzen!“ stieß Hasard hervor. „Wir haben Wasser im Schiff. Und dann kontrolliere die Räume unter der Unterwasserlinie. Da muß irgendwo ein ganz verdammtes Leck sein.“

Ferris Tucker verschwand wie ein Geist. Seine Stimme schallte über Deck. Plötzlich quietschte die Pumpe, die auf der Backbordseite in Höhe des Großmastes stand. Ein saugendes Geräusch ertönte, dann plätscherte Wasser aufs Deck und floß durch die Speigatten ab.

 

Öllampen flammten auf und beleuchteten die Szenerie an Deck. Männer schrien durcheinander, die scharfe Stimme des Kapitäns fuhr dazwischen.

„Geit Vorsmars- und Großmarssegel auf, weg mit der Blinden, beeilt euch, Männer, hurtig, hurtig!“

Richtig, dachte Hasard, weg mit dem Segeltuch, das belastet jetzt nur.

Zwei Männer, halbnackt, arbeiteten wie die Irren an der Pumpe. Der Pumpenschwengel, jeweils auf einer Seite bedient, ging auf und nieder. Und als die beiden Männer erlahmten, wurden sie von zwei anderen abgelöst, die mit frischen Kräften loslegten. Ein dicker Wasserstrahl schoß aus dem Pumpenrohr.

Es wurde ein mörderischer Kampf gegen das steigende Wasser im Schiffsrumpf. Es stand bereits über der Bilgegräting. Ferris Tucker planschte und watete durch die unteren Decks auf der Suche nach dem Leck, peilte immer wieder den Wasserstand und stellte fest, daß das Wasser zwar immer noch stieg, aber nicht mehr derart rapide. Die Pumpe beförderte saugend und schmatzend Mengen von Wasser aus dem Rumpf, aber doch schien es irgendwie ein ewiger, nie endender Kreislauf zu sein – oben an Deck schoß der Wasserstrahl in die See und irgendwo zwischen Kiel und Wasserlinie drang das Wasser wieder ein.

Der Kapitän ließ sämtliche Segel bergen, den Steuerbordbuganker mit achtzig Yards Trossenlänge auswerfen und legte auf diese Weise die „Marygold in den Wind. Sie benahm sich jetzt manierlicher, hing an Trosse und Anker und trieb langsam mit dem Wind südwestwärts.

Alle Hände waren frei, um gegen das eindringende Wasser zu kämpfen. Durch die vordere Luke der Kuhl wurde eine Kette ins Unterdeck gebildet und das Wasser mit Pützen hochgemannt. Die Pützen wanderten von Hand zu Hand – die vollen außenbords, die leeren zurück in den Schiffsbauch.

Sie kämpften Stunde um Stunde – je zwei Männer an der Pumpe, die anderen in der Kette.

Ferris Tucker, ein besonnener, ruhiger Mann, suchte verzweifelt nach dem verdammten Leck, tauchte sogar in die stinkende Brühe und tastete Zoll für Zoll die Innenplanken ab.

In den Morgenstunden erreichten sie einen Stillstand des steigenden Wassers und hielten ihn verbissen. Nur – und das war jedem klar – konnte das nicht bis in alle Ewigkeit weitergehen. Das Leck mußte gefunden werden, oder sie würden bis ans Ende ihres Lebens pumpen und Wasser hochmannen müssen, und das war eine Utopie.

Philip Hasard Killigrew wurde gerade von Blacky an der Pumpe abgelöst, als die Sonne im Osten hinter der Kimm hochkroch und den Spiegel der leichtbewegten See rot überhauchte. Dann wechselte die Farbe in glühendes Gelb. Der neue Tag brach an.

Hasard reckte die mächtigen Schultern, auch er war halbnackt, und blickte zum Achterkastell hoch in das eiserne, beherrschte Gesicht des Kapitäns.

„Sir“, sagte er, „ich habe an der Küste von Cornwall viel getaucht. Wenn Ferris Tucker von innen das Leck nicht findet, sollten wir zumindest den Versuch unternehmen, die Außenbeplankung mal zu kontrollieren. Ich bin überzeugt, daß ich das Leck finde. Es von außen zu stopfen, ist außerdem bestimmt leichter und auch sinnvoller – wegen des Wasserdrucks.“ Er grinste. „Haben Sie etwas dagegen, daß ich ein Bad nehme?“

Das Gesicht des Kapitäns blieb unbewegt, aber seine Augen lächelten. Und nur Hasard sah, daß der Kapitän wie befreit aufatmete.

„In Ordnung“, sagte der Kapitän. „Aber ich möchte nicht, daß Sie allein ins Wasser steigen ...“

Das Bürschchen schob sich neben Hasard, reckte den Kopf zum Kapitän hoch und sagte: „Ich begleite den Seewolf.“

„Du?“ fragte der Kapitän, und jetzt lächelte er offen. „Kannst du denn schwimmen?“

Noch bevor das Bürschchen frech werden konnte, sagte Hasard schnell: „Er ist ein O’Flynn, Sir.“

„Und was besagt das?“

„Sein Vater ist bei meinem Vater gefahren — oben in der Irischen See. Die O’Flynns sind ziemlich harte Brocken, Sir, sie lernen bereits das Schwimmen, wenn sie noch in den Windeln mit dem Wasser kämpfen.“

„Jawohl“, sagte Donegal Daniel O’Flynn und nickte wichtig.

„Gut“, sagte der Kapitän und drehte sich um, weil er sich das Lachen verkneifen mußte. Hätte es das Bürschchen gesehen, wäre es vielleicht beleidigt gewesen.

„Los, Hasard“, sagte Donegal Daniel O’Flynn begeistert und zappelte ungeduldig. „Springen wir vorn oder achtern ’rein?“

„Langsam“, sagte Hasard. „Geh zum Bootsmann und hol zwei Tampen in Wurfleinenstärke. Wir steigen mit einer Sicherheitsleine runter, und zwar an einer Strickleiter, verstanden?“

„Aye, aye.“ Und weg war das Bürschchen.

Es kehrte mit Ben Brighton zurück, der zwei lange, in Buchten aufgeschossene Tampen mitbrachte. Hasard nahm sie in Empfang.

„Ben, du nimmst Dan an die Angel, wenn wir runtergehen“, sagte er. „Wenn Dan dreimal kräftig zieht, hievst du ihn sofort hoch. Für mich gilt das gleiche. „Und wer nimmt dich an die Angel?“

„Ich“, sagte Carberry, der bei der Pumpe gestanden hatte. Er blickte über die Schulter zurück. „Pumpt weiter, ihr Rübenschweine, noch ist nicht Feierabend. He, Smoky! Hol die Strickleiter aus der Segellast, hopp-hopp!“

„Aye, aye“, brummte Smoky, lief los und stolperte über das ausgestreckte Bein Gordon Browns. Er landete auf den Planken, fluchte und war wie eine Katze wieder auf den Beinen.

Hatte Gordon Brown das Bein absichtlich ausgestreckt? Niemand hatte es gesehen.

Ob absichtlich oder nicht, Smoky war das gleichgültig. Das Bein war plötzlich dagewesen, und er war lang hingeschlagen. Er schlich auf Gordon Brown zu.

„Die Ratte hat dir wohl noch nicht gereicht, wie?“ sagte er und knurrte dabei wie ein gereizter Kettenhund.

Carberry fuhr dazwischen: „Schluß! Hol die Strickleiter, Smoky!“

„Er hat mir ein Bein ...“

„Weiß ich!“ pfiff ihn Carberry an. „Und daß er ein hirnrissiges Rübenschwein ist, weiß ich auch. Aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wenn ihr euch prügeln wollt, besorgt das später im Vordeck – falls wir nicht alle absaufen. Zisch ab!“

Smoky trollte sich grollend.

Carberry knurrte jetzt Gordon Brown an und sagte: „Ran an die Pumpe, du Saftsack! Und paß auf, daß mir nicht zufällig deine stinkenden Quanten im Weg stehen!“

Gordon Brown gehorchte widerspruchslos.

Hasard knüpfte sich die Leine um den Leib und schob sie unter die Achseln. Er überprüfte den Sitz von Dans Leine und nickte ihm zu.

„Wir nehmen uns jeder eine Schiffshälfte auf der Steuerbordseite vor. Du die vordere, ich die achtere. In der Mitte bei der Strickleiter treffen wir uns wieder. Haben wir nichts gefunden, untersuchen wir die Backbordseite. Vergiß nicht, bis zum Kiel zu tauchen. Paß auf Muscheln auf, die sich eventuell schon angesetzt haben, sie können höllisch scharf sein. Taste das Holz ab und halt die Augen offen. Alles klar?“

„Alles klar“, erwiderte das Bürschchen.

Smoky brachte die Strickleiter. Sie wurde auf der Steuerbordseite mittschiffs an einer massiven Holzklampe belegt und nach unten gelassen.

Hasard schwang sich als erster über das Schanzkleid und kletterte hinunter.

„Gib genug lose, Ed!“ rief er nach oben.

Carberry beugte sich weit über das Schanzkleid und fierte die Leine weg. Donegal Daniel O’Flynn folgte dem Seewolf und grinste Ben Brighton an, der seine Leine führte.

„Halt mich ja schön fest, Bootsmann“, sagte er. „Vielleicht find ich ’ne Seejungfrau und zwick sie in den Popo!“

„Untersteh dich“, sagte Ben Brighton.

Hasard ließ sich ins Wasser sinken und gab die Strickleiter frei. Dan ließ sich einfach ins Wasser plumpsen, verschwand und tauchte prustend wieder auf. Seine borstigen Blondhaare standen wie die Stachel eines Igels ab.

„Ah, das tut gut!“ schrie er.

„Vergiß nicht, warum wir hier sind“, sagte Hasard, warf sich hoch, knickte im Leib ein und schoß wie ein Fisch in die grüne Tiefe.

Das Leck mußte ziemlich tief sitzen, sonst hätte es Ferris Tucker längst gefunden. Vielleicht befand es sich direkt an einem Querspant über dem Kielgang, an den der Schiffszimmermann schlecht herankam, um die Plankengänge zu untersuchen.