Seewölfe Paket 13

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„Na fein“, sagte Ed. „Sonst scheint auf der Insel ja nicht viel los zu sein. Vielleicht können wir uns die Ruinen später mal ansehen. Der Kutscher hat gesagt, hier gäbe es berühmte historische Stätten.“

„Was der Kutscher nicht alles weiß“, staunte Blacky. „Der ist so eine Art Weisheitsbuch auf Beinen.“

Die Fahrt der „Isabella“ ging rapide zurück, als ein paar Segel aufgegeit wurden. Der Profos übersah sogar großzügig eine Windbeule im Gei, denn lange würden sie hier ja nicht bleiben, so glaubte er wenigstens.

Fässer und Tragegestelle lagen bereit. Die großen Fässer, die sich in der Piek befanden und nicht transportiert werden konnten, hatte Ferris Tucker wieder repariert.

Hasard gab dem Rudergänger Pete Ballie ein Zeichen.

„Hart Steuerbord, Pete. Dort vorn, gleich hinter der Felsengruppe, gehen wir vor Anker.“

Smoky sang unterdessen die Tiefe aus. Unter dem Kiel hatte die „Isabella“ mehr als zwölf Faden Wasser fast gleichbleibend, und auch als sie näher heransegelten, änderte sich die Wassertiefe nur ganz unmerklich und blieb bei elf Faden konstant.

„Fallen Anker!“

Der Anker klatschte ins Wasser, Trosse wurde nachgesteckt, der Bug schwang leicht herum, und etwas später lag die „Isabella“ fast bewegungslos in der Bucht.

Die Bucht war wie eine kleine Festung, links und rechts von Felsen umgeben. Ein kleines Stück Strand zog sich längs den Felsen dahin. Zwischen dem Gestein wuchsen verkrüppelte Pinien, die der Wind hart gebeutelt hatte. Von See her brachen sich Wellen klatschend an einem großen Felsen.

Der Bach lief aus der Felsengruppe gluckernd über vorspringendes Gestein ins Meer und hatte sich seinen Weg durch den Strand gebahnt.

Zum Wasserfassen war die Stelle ideal, denn sie ersparte lange Umwege und schwere Schlepperei. Man konnte die Fässer auf den Stein stellen und in aller Ruhe abwarten, bis sie voll waren und in die großen an Bord umgeschüttet wurden.

Das Beiboot war abgefiert worden, und die Fässer mit den Tragegestellen wurden ins Boot gereicht.

Fast alle wollten sich mal die Beine vertreten und drängten sich schon am Schanzkleid zum Abentern. Ganz besonders der Kutscher wollte, wie er sagte, historischen Boden betreten, einmal die Felsen erklettern und einen Rundblick über die Trümmer riskieren.

„Es genügt, wenn drei, vier Mann an Bord bleiben“, sagte Hasard. „Hier gibt es ja nun wirklich nicht viel zu sehen, und wir werden hier auch nicht lange bleiben.“

„Und die Ruinen, Sir?“ fragte der Kutscher. „Ich wollte ganz gern mal dort hinauf, denn diese Insel hat eine sehr bedeutungsvolle und glorreiche Vergangenheit. Sie ist in Büchern beschrieben …“

„… aus denen dir Doc Freemont immer vorgelesen hat“, sagte Hasard lächelnd.

„Ich habe sie mir heimlich ausgeliehen, Sir“, sagte der Kutscher verschämt. „Wenn der Doc nicht da war natürlich.“

„Na gut, sieh dir alles an. Wir könnten uns auch die Zeit nehmen und den Ruinen einen Besuch abstatten, wenn du so versessen darauf bist.“

Der Seewolf warf dem Kutscher einen Seitenblick zu und staunte wieder einmal mehr über diesen Mann. Obwohl er ihn nun schon so lange kannte, wartete der Kutscher immer wieder mit Neuigkeiten auf und verstand etwas von Sachen, von denen die meisten anderen noch nie etwas gehört hatten.

Das Boot legte ab, besetzt mit Hasard, dem Kutscher, den Zwillingen, Carberry, Ferris Tucker, Gary Andrews, Big Shane und Matt Davies. Ein paar andere wollten gleich folgen.

Der Hitzkopf Luke Morgan blieb freiwillig zurück, denn seine Verletzungen waren noch nicht auskuriert, und er konnte sich nur sehr umständlich bewegen.

Am Strand wurden die Wasserfässer ausgeladen, und das Boot fuhr wieder zurück, um weitere Seewölfe zu holen.

Die ersten Wasserfässer wurden unter Gebrüll und Gejohle unter das plätschernde Rinnsal gestellt. Das Wasser spritzte nach allen Seiten, aber das empfanden sie alle nur als angenehm, und so ließen sie sich berieseln und warteten darauf, daß das erste Faß voll wurde.

Da schreckte sie die laute Stimme des Kutschers auf. Fassungslos brüllte er: „Seht mal da drüben! Dort, an dem Felsen!“

5.

Schlagartig wurde es still. Die Blicke der Seewölfe wandten sich den Felsen zu. Die weiteren Worte blieben ihnen im Halse stecken, denn an der Felswand prangte ein merkwürdiges Gebilde.

Hasard und Gary Andrews waren die ersten, die davorstanden. Der Seewolf streckte die Hand aus und zeigte auf das befremdlich wirkende Bild.

Ein großer Kreis war von einem unbekannten Künstler in den Fels geschlagen worden, und in diesem Kreis war eine Figur zu sehen, die auf die fassungslosen Männer schokkierend wirkte. Diese Figur war abstoßend und anziehend zugleich, und das Bildnis ergab scheinbar keinen Sinn.

Es stellte einen menschlichen Körper dar, aber auf den Schultern befand sich der Kopf eines Stieres mit Hörnern. Das Stierfell bedeckte einen Teil des Rückens und ging in einen langen Kuhschwanz über. Die Gestalt stand geduckt da, als wolle sie die Betrachter mit dem fürchterlichen Schädel aufspießen oder rammen.

Die meisten sahen fast angewidert auf das Bildnis, bis auf den Kutscher, der es andächtig anblickte.

„So was Blödes“, sagte Matt Davies. „Wo hat die Welt denn schon einen Kerl mit einem Ochsenschädel gesehen? Oder einen Ochsenkopf mit einem Menschenkörper. Der Bildhauer war wohl volltrunken.“

„Vielleicht hat er sich den Schädel nur aufgesetzt, um damit andere zu erschrecken wie die Medizinmänner“, meinte Gary Andrews.

Der Kutscher wandte sich kopfschüttelnd um und zeigte sich indigniert.

„Wenn man euch so hört“, sagte er, „dann muß man sich in Grund und Boden schämen. Volltrunkener Bildhauer, Ochsenschädel. Ihr Kulturbanausen zieht immer alles ins Lächerliche. Dieses Werk hier stellt Asterios dar, den man auch Minotaurus nennt. Das geht auf eine uralte Mythologie zurück, und gerade deshalb ist diese Insel so interessant und voller Geheimnisse. Hier trifft man bei jedem Schritt auf Relikte, die schon ein paar tausend Jahre alt sind.“

„Du kennst die Geschichte der Insel, Kutscher?“ fragte der Seewolf gespannt. „Hast du das alles aus Doc Freemonts Büchern?“

„Ich kenne den größten Teil der Legende“, schränkte der Kutscher ein, „aber er ist sehr interessant. Ihr müßt das Bild mit anderen Augen sehen und es nicht als scheußlich empfinden.“

„Erzähl schon!“ rief der Profos. „Aber tisch uns bloß keine Ammenmärchen auf!“

„Ich kann nur das sagen, was ich darüber gelesen habe. Ob das stimmt oder nicht, ist eine andere Sache. Die alten Legenden berichten es jedenfalls so.“

Auch Hasard ermunterte den Kutscher zum Erzählen, und erst da bequemte sich der schmalbrüstige Mann dazu.

„Die Insel Kreta ist von Legenden umwoben wie von einem Gespinst“, sagte er. „Es heißt, Kreta sei einst unter dem König Minos eine große Seemacht gewesen. Es galt früher aber auch als zurückgebliebenes Land, in dem dorische Landbesitzer ihre Pächter piesackten. Die Insel war außerdem ein Schlupfwinkel für Piraten. Auch Söldner wurden hier ausgebildet, die sich aufs Bogenschießen verstanden.“

„Und wer war der König Minos?“ fragte Ferris Tucker.

„Der Sage nach der Sohn des Göttervaters Zeus und der Europa. König Minos erhielt von dem göttlichen Schmied Hephaistos einen eisernen Roboter, der Talos hieß, und der die Aufgabe hatte, alle Fremden von der Insel fernzuhalten. Das tat er auch, indem er mit riesigen Steinen nach ihnen warf.“

„Und was hat das mit dem Stier zu tun?“ fragte Hasard.

Der Kutscher mußte ein wenig in seiner Erinnerung kramen und überlegte, aber er fand sich schnell zurecht, denn nach den Erzählungen hatte ihn die Insel stark interessiert, und so hatte er auch kaum etwas vergessen.

„Der Stier? Um den bat König Minos den Meeresgott Poseidon und versprach auch, den Stier dem Meeresgott zu opfern. Doch der König behielt den Stier und opferte an seiner Stelle einen anderen. Daraufhin nahm Poseidon Rache und zwang die Frau des Königs, Pasiphae hieß sie, glaube ich, sich in den Stier zu verlieben.“

Irgendwo aus den Reihen klang Gelächter auf, und es hörte sich wie Gemekker an.

Der Kutscher bedachte die Lacher mit einem eisigen Blick, und der bewirkte, daß das Gelächter augenblicklich verstummte.

„Weiter“, sagte Hasard. „Laß dich durch den Unverstand einiger Holzköpfe nicht stören.“

„Nun, die Königin verliebte sich und überredete den attischen Flüchtling Dädalus, eine Verabredung mit dem Stier zu treffen. Dädalus verwandelte sie daraufhin in eine Kuh. Der Meeresgott Poseidon veranlaßte dann den Stier, so wild zu werden, daß König Minos sich an Herakles wenden mußte, um ihn von diesem wilden Tier zu befreien.“

Der Kutscher sah sich wieder um, aber niemand grinste. Natürlich klang die Geschichte höchst unwahrscheinlich, so dachten die meisten, aber sie waren jetzt auch auf das Ende der Erzählung gespannt und ermunterten den Kutscher, weiterzuerzählen.

„Pasiphae, die Frau des Königs, gebar dann ein Wesen mit einem Menschenkörper und einem Stierkopf. Das ist Asterios, auch Minotaurus genannt, den ihr hier abgebildet seht. Minos verbannte ihn voller Empörung in das Labyrinth, das Dädalus gebaut hatte, und aus dem der Minotaurus nicht entweichen konnte. Eigentlich ist das die ganze Geschichte, soweit sie das Bild hier betrifft. Später dann führte Minos Krieg gegen die Griechen, weil die einen seiner Söhne getötet hatten. Beim Friedensschluß stellte er die Bedingung, daß ihm jedes Jahr sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge übergeben würden, die er dem Minotaurus opfern wollte.“

 

„Und das hat er getan?“ fragte Big Old Shane gespannt.

„Anfangs ja, dann erschien Theseus, der mit Hilfe von Minos Tochter Ariadne den Minotaurus tötete. Mehr weiß ich nicht darüber, aber von dieser Insel aus hat auch Ikarus seinen berühmten Flug unternommen. Jetzt seht ihr das vielleicht ein bißchen anders“, sagte der Kutscher.

„Mann, Kutscher, du hast ja die Weisheit mit Löffeln gefressen!“ rief Matt Davies staunend. „Meinst du, an der Geschichte sei auch ein Körnchen Wahrheit dran?“

„Das weiß ich nicht. Früher gab es oft solche Wunderdinge, und ein kleiner Teil wird schon stimmen.“

Die Männer drängten sich jetzt um das Bildnis und betrachteten es tatsächlich mit anderen Augen, seit sie die Geschichte kannten.

Bei einigen erwachte auch die Neugier, und sie wollten mehr über die seltsamen Geschichten wissen. So war der Kutscher wieder einmal der Mittelpunkt, und als sie nicht mehr über ihn lachten, erzählte er auch alles, was er wußte.

Inzwischen waren die ersten Fässer an Bord gebracht worden. Die anderen Seewölfe erschienen ebenfalls und sahen sich das Bild an. Dazu gab der Kutscher für die, die es noch nicht wußten, noch einmal kurze Erklärungen.

„Von Herakles habe ich schon mal gehört“, sagte Dan O’Flynn. „Aber das mit dem Stier wußte ich nicht. Ist das nicht der Gott, der sich auch Herkules nennt?“

„Ein Halbgott“, verbesserte der Kutscher, „ein Sohn des Zeus und der Alkmene, dem von Eurystheus zwölf schwierige Aufgaben auferlegt wurden. Eine davon war die Zähmung des kretischen Stieres.“

„Und das hat der geschafft?“ fragte Bob Grey staunend.

„Der Sage nach ja. Er hat noch viel schwierigere Probleme gelöst. Zum Beispiel die Tötung der neunköpfigen Hydra, Tötung eines Löwen, Einfangen eines wilden Ebers, das Fangen einer windschnellen Hirschkuh, die Vertreibung der menschenfressenden Vögel. Auch den Höllenhund Zerberus hat er aus der Unterwelt heraufgebracht.“

Eine Weile herrschte Schweigen, denn den Männern imponierte des Kutschers enormes Wissen. Nur als Carberry den Mund auftat, wurde das Gesicht des Kutschers grämlich, und er kriegte fast Zahnschmerzen.

„Da seht ihr Rübenschweine einmal was ein einzelner Kerl leistet“, sagte Ed. „Der holt einen Hund aus der Hölle, und ihr Kanalratten bringt zu zweit nicht einmal ein Segel nach oben. Der schlägt einem neunköpfigen Eber den Schädel ab und fängt einen windschnellen Löwen. An dem könnt ihr euch ein Beispiel nehmen, ihr triefäugigen Kakerlaken. So einen Kerl hier an Bord, und wir wären die unumschränkten Herrscher aller Meere.“

„Ein Glück nur, daß du kein Historiker bist“, sagte der Kutscher erleichtert. „Dann käme ja keiner mehr mit der Geschichte klar.“

Dan konnte sich einen Seitenhieb ebenfalls nicht verkneifen.

„Du hast noch etwas vergessen, Kutscher“, meinte er, „nämlich eine Sache, die Ed immer für sich in Anspruch nimmt, die aber auf Herkules zurückgeht.“

„Und das wäre?“

„Der hat mal einem zwanzigbeinigen Gorilla die Haut in Streifen von seinem Affenarsch gezogen, und Ed hat das bisher noch nicht mal bei Arwenack geschafft.“

Carberrys mächtige Pranke schoß schon vor, um Dan beim Genick zu pakken, aber Dan O’Flynn tauchte noch rechtzeitig weg und grinste den Profos herausfordernd an.

Wieder brandete Gelächter auf, als Hasard sich umdrehte.

„Vergeßt die Fässer nicht“, sagte er. „Deshalb sind wir ja wohl hauptsächlich hier.“

Dann wandte er sich an den Kutscher.

„Wir steigen dort hinauf“, sagte er. „Dan, Ferris, Ed, ihr könnt euch da ebenfalls umsehen, wenn ihr wollt.“

Das ließen sich die Männer nicht zweimal sagen.

Links von dem Felsen, wo sich das Bildnis des Minotaurus befand, konnte man gut klettern. Als Orientierungspunkt wählte der Seewolf einen großen Stein, mehr einen länglich geformten Felsblock, der so auf der Kante lag, daß er bei einer leichten Berührung abstürzen konnte. Der Felsblock befand sich merkwürdigerweise genau über dem Felsenbild, und Hasard hatte das Gefühl, als liege er nicht nur zufällig dort.

Als sie oben waren, fiel es auch Dan O’Flynn auf. Er bückte sich, um den Stein genauer zu betrachten. Er lag nur an einem einzigen Punkt auf und ähnelte einer Wippe, die sich nach zwei Seiten bewegen ließ.

Zunächst aber sahen sie sich um.

Hinter den Felsen ging es in welliges, hügeliges Land. Um einen See gruppiert standen Pinien, ein weiter Hain wilder Olivenbäume breitete sich aus. Etwas weiter links waren tatsächlich Säulen zu sehen, Relikte aus einer fernen Vergangenheit, und zwischen ihnen befand sich, aus Steinen nachgebildet, ein mächtiges Stierhorn.

„Das ist eine der alten, längst untergegangenen Städte“, sagte der Kutscher andächtig. „Aber da gibt es leider nicht mehr viel zu sehen. Das meiste dürfte unter Sand und Schutt begraben sein.“

Der Blick ging weiter auf See, dorthin, wo die Felsen ihn erneut begrenzten. Wollten sie einen besseren Ausblick genießen, mußten sie noch höher steigen.

Carberry stellte seinen rechten Fuß auf den Felsklotz. Es sah so aus, als würde sich der Stein bewegen lassen. Aber der Seewolf warnte ihn sofort.

„Vorsichtig, Ed! Wenn der Block in Bewegung gerät, fällt er mitten zwischen unsere Leute. Ein kleiner Stoß genügt.“

„Der fällt nicht“, behauptete Ed. „Das Unterteil des Felsens ist tief in den Boden gewachsen. Den kriegen zwanzig Männer nicht von der Stelle.“

„Ein merkwürdiger Stein“, sagte auch Ferris Tucker und ließ sich auf die Knie nieder. „Unten ist er so glatt, als habe man ihn künstlich abgeschliffen. Vielleicht wollte der unbekannte Bildhauer hier eine weitere Statue schaffen.“

„Ein Stierhorn etwa“, meinte der Kutscher. „Das könnten jedenfalls die Anfänge gewesen sein.“

„So dicht am Abgrund?“ fragte Hasard skeptisch. „Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich.“

„Die Natur hat ihn jedenfalls nicht geschaffen“, behauptete Ferris Tukker hartnäckig. „Nicht in dieser Form! Ich sage euch, daß hier ein Zusammenhang besteht, und zwar zwischen dem Bild unter uns und diesem Stein.“

Jetzt war die allgemeine Neugier geweckt. Die Köpfe streckten sich dem Boden entgegen und betrachteten die Fortsetzung des Felsblocks, die wie glatt-geschliffen in den Untergrund weiterführte. Ganz fein gemahlener Sand war in der rillenförmigen Vertiefung zu erkennen.

Ferris Tucker schob den holzigen Strauch etwas zur Seite, der den Stein von einer Seite umgab, aber die Zweige schnellten sofort wieder zurück und schlugen ihm ins Gesicht.

Der Profos war es, der das Geheimnis schließlich durch einen entschlossenen Kraftakt löste.

Er drückte seitlich gegen den Felsen, aber so, daß er bei aller Kraft nicht hinunterstürzen konnte.

Der Stein bewegte sich. Unter ihm war ein Knarren zu hören, wie wenn Stein auf Stein rieb.

„He, ihr da unten!“ brüllte Ed. „Geht mal zur Seite, damit wirklich nichts passiert.“

„Oho, der Profos spielt den Herakles“, sagte Matt Davies. „Paßt auf, der wirft jetzt mit Felsen aufs Meer hinaus.“

Vorsichtshalber entfernten sie sich so weit, daß der Felsen keinen Schaden anrichten konnte, denn von unten sah die Lage doch bedrohlicher aus als von oben.

Carberry griff noch einmal zu, und er war überrascht, daß der Felsen, wenn man ihn von einer Seite schob, sich mühelos bewegen ließ und um eine unsichtbare Achse drehte.

Jetzt hatte er seinen Schwerpunkt so verlagert, daß seine eine Hälfte weit über dem Abgrund hing.

Hasard sah den Profos an, Carberry blickte verdutzt zurück, während Ferris Tucker und Dan sprachlos dastanden.

„Wozu soll das wohl gut sein?“ fragte der Kutscher. Sie sollten es gleich erfahren.

Von unten drang ein überraschter Aufschrei herauf.

„Der Minotaurus hat sich gedreht!“

Fassungslos blickten die Seewölfe auf den Stiermenschen, der jetzt sein Geheimnis preisgab.

Das Bildnis hatte sich halb zur Seite geschoben. Dahinter befand sich eine kleine dunkle Höhle im Felsgestein.

6.

Hasard kletterte schon hinunter, dicht gefolgt von den anderen, denen der Abstieg gar nicht schnell genug ging.

Als er unten ankam, sah er immer noch in fassungslose und staunende Gesichter.

Die Fässer mit dem Trinkwasser waren vergessen. Das Wasser plätscherte über die Fässer, und niemand kümmerte sich darum.

Alle blickten auf die Felswand, die sich geöffnet hatte.

„Ein Piratenversteck“, sagte Jeff Bowie und fuhr sich aufgeregt mit seiner Hakenprothese über sein stoppelbärtiges Kinn.

„Oder Höhle von Stiergott“, sagte Batuti, der wild mit den Augen rollte. „Vielleicht werden alte Legenden jetzt wieder wach. Und dann rennen wilder Stiergott heraus.“

Hasard ging ein Stück durch das Wasser, zog sich an dem Felsen hoch und warf einen Blick in die dahinterliegende Höhle.

Er hatte einen langen Gang erwartet, der weiter in die Felsen führte, doch es gab keinen Gang. Der Raum hinter dem Minotaurus war nur so groß, daß ein einzelner Mann zusammengekauert darin hocken konnte. Dahinter war die Felswand glatt und eben, und es sah auch nicht so aus, als gäbe es ein weiteres geheimes Versteck.

Aber das, was in dem Versteck lag, erstaunte ihn doch. Da lagen ein Dutzend Goldstücke, fünf große zartschimmernde Perlen und zwei Händevoll silberner Piaster.

„Ein kleiner Schatz, den jemand versteckt hat“, sagte Dan, der nun ebenfalls in die Höhlung blickte.

Hasard griff nach den Silberstükken und ließ sie klimpern.

„Ehrlich erworben ist das nicht“, sagte er, „sonst würde man sich nicht der Mühe unterziehen und es verstecken. Für die meisten stellt es ein mittleres Vermögen dar.“

Mittlerweile drängten sich auch die anderen um das Stierbild und versuchten, einen Blick zu erhaschen.

Der Seewolf griff noch weiter hinein und fand einen zusammengerollten kleinen Papyrusbogen, den er vorsichtig herauszog. Im Tageslicht entfaltete er ihn, aber auf dem Papyrus standen nur ein paar Schriftzeichen, die vermutlich eine Nachricht enthielten.

Er zeigte sie seinen aufgeregten Söhnen, die sich mit den Ellenbogen ihren Weg durch die Seewölfe erkämpft hatten.

„Könnt ihr das entziffern, oder kennt ihr eins dieser Zeichen?“ fragte Hasard.

Die beiden starrten die Zeichen an, drehten sich um, hielten sie gegen das Licht und schüttelten dann bedauernd die Köpfe.

„Nein, ich kann es nicht lesen“, sagte Hasard junior.

„Nein, keine Ahnung, das kann vielleicht syrisch sein, ich weiß es jedenfalls nicht. Aber du solltest die Rolle gut aufheben, Sir. Man kann ja nie wissen …“ setzte er altklug hinzu.

Hasard gab die Rolle an Ferris Tucker weiter, der sie in sein Hemd steckte.

„Was geschieht mit dem Zeug?“ fragte der Profos. „Wir sollten es an uns nehmen und zu den übrigen Schätzen tun, die wir später in England wieder abliefern werden.“

„Also, ehrlich erworben ist das nicht, Sir“, schaltete sich Dan ein. „Da hast du ganz recht. Das hat hier jemand versteckt, der ein schlechtes Gewissen hatte und vielleicht schon lange tot ist, zu Staub geworden und verweht. Der nächste, der das Geheimnis entdeckt, nimmt das Gold, und das andere Beiwerk ohnehin an sich. Warum sollen wir es nicht nehmen?“

„Ja, warum eigentlich nicht? Bedenken habe ich keine, denn wir sind die rechtmäßigen Finder. Oder ist jemand dafür, daß wir das Zeug hier in der Höhle lassen?“

„Das wäre Verschwendung, Sir!“ rief Big Old Shane. „England braucht jeden Silberling.“

„Möglich, daß es sich der nächste Don holt, der die Insel ansegelt“, sagte Matt Davies. „Dann kriegt es Old Philipp.“

Keiner wußte, woher dieser kleine Schatz stammte, für wen er bestimmt war, oder wer ihn erbeutet hatte. Einem guten Zweck diente das alles nicht, und so hatte Hasard auch keinerlei Bedenken, das Zeug abzuräumen.

Die Piaster allein waren schon ein beträchtliches Vermögen, dann die Goldstücke mit einer Prägung, die den Seewölfen ebenfalls nicht geläufig war, und von den Perlen ganz zu schweigen.

Hasard ließ alles ins Boot bringen und warf noch einen letzten Blick hinter den Minotaurus.

Dann sah er zu dem Felsen hoch und sagte zu Ferris Tucker: „Sieh dir das mal an, Ferris! Eine simple, geradezu verblüffend einfache Konstruktion, aber sie hat verdammt viel Arbeit bereitet.“

Die Konstruktion ließ sich nicht so genau erkennen, weil das Tageslicht nicht voll in die Höhle fiel. Aber ein Blick darauf erklärte eigentlich alles.

 

„Oben hat man vermutlich eine Eisenstange durch den Fels getrieben“, sagte Ferris, der solche Konstruktionen immer schnell begriff und durchschaute. „Dann hat man Löcher in den Stein gebohrt und sie mit Bolzen untereinander verbunden. Der letzte Bolzen berührt das Bildnis und ist ebenfalls mit ihm verbunden. Wenn man jetzt da oben den Stein zur anderen Seite dreht, ziehen die Bolzen das Bildwerk wieder in den Felsen zurück. Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert unsere Ruderanlage.“

„Richtig. Und beim Öffnen wird der Vorgang umgekehrt, und der Bolzen stößt den Minotaurus nach außen.“

Der Kutscher stand sinnend davor, und betrachtete das Bild.

„Das Bild scheint uralt zu sein, aber die Konstruktion besteht ganz sicher nicht so lange. Das ist ein richtiges Versteck, das vermutlich doch Piraten angelegt haben.“

„Woraus schließt du das?“

„Es gibt ganz einfach keinen Sinn, daß sich das Bild halb um die Achse dreht und eine kleine Grotte freigibt. Natürlich kann ich mich da auch täuschen, Sir.“

„Möglich, daß es doch uralt ist“, widersprach Hasard. „Und die Grotte hinter dem Asterios diente als eine Art Altar, um Opfer für die Gottheit darzubringen.“

„Das ist natürlich auch gut möglich“, räumte der Kutscher ein. „Ich möchte noch einmal dort hinaufsteigen, Sir. Darf ich?“

„Selbstverständlich“, sagte Hasard.

„Ich begleite den Kutscher!“ rief Dan. „Mich interessieren die alten Säulen auch.“

Hasard erlaubte auch das, und so stiegen Dan und der Kutscher wieder in die Felsen, während die anderen sich weiter um das Trinkwasser kümmerten oder den Minotaurus anstarrten.

Smoky nahm ein paar Steine und legte sie hinter die Öffnung. Dabei grinste er über das ganze Gesicht.

„Die Burschen werden staunen, wenn sie statt Gold nur Steine vorfinden“, sagte er. „Ganz sicher nehmen sie an, der Stiermensch habe sie betrogen und das Gold in Steine verwandelt.“

„Falls sich überhaupt jemand darum kümmert“, meinte Gary Andrews. „Aber wenn, dann gibt das sicher ein Späßchen.“

Was dieses Späßchen später allerdings für den räuberischen Sarazenen für Folgen haben sollte, das konnte sich keiner der Seewölfe ausmalen, denn sie kannten die Geschichte nicht.

Als Dan und der Kutscher auf der Höhe des Steins waren, hob der Seewolf die Hand.

„Dreht ihn wieder vorsichtig um“, sagte er, „damit die Grotte unsichtbar wird.“

„Aye, aye, Sir.“

Den großen Stein konnte ein Mann bequem allein drehen, wenn man den Punkt kannte, an dem man ansetzen mußte. Fast spielerisch schob sich das halbtonnenschwere Ungetüm herum.

Weiter unten knirschte es leise, dann schwang das Bildnis langsam herum und glitt in seine ursprüngliche Lage zurück. Niemand sah ihm jetzt das verborgene Geheimnis an.

In der rauhen Felswand befand sich das Bild eines Menschen mit aufgesetztem Stierkopf, weiter war nichts zu sehen.

„Gehen wir da vorn am Wasser entlang“, sagte der Kutscher. „Wenn wir ein paar hundert Yards gelaufen sind, können wir die Ruinen besser erkennen und kehren wieder um.“

„Wir können uns ruhig Zeit lassen, Kutscher, und in der Zwischenzeit kannst du mir noch mehr von den alten Sagen erzählen. Mich interessiert die Geschichte wirklich.“

Der Kutscher seufzte.

„Mit dir kann man reden, Dan“, sagte er ehrlich, „du bist aufgeschlossener als die meisten anderen. Die haben einfach keine Ader dafür. Unser Profos ist in der Beziehung ein richtiger Klotzkopf, und mitunter bin ich mir nicht sicher, ob er seine Worte ernst meint, oder ob er sich nur verstellt und mich verschaukeln will.“

„Wenn er etwas nicht weiß, besteht seine Verlegenheit darin, es ins Lächerliche zu ziehen“, meinte Dan. „Vorsicht, Kutscher, geh nicht so dicht an die Klippen heran, da gibt es loses Gestein.“

Links vor ihnen wuchsen die Felsen hoch auf, ähnlich wie an der Südküste Englands, und zwischen den Felsen gab es viele natürlich entstandene Buchten, aber auch tückische Untiefen.

Der Kutscher wies nach einer Weile zur rechten Seite hinüber.

Noch weiter im Landesinnern standen Überreste dorischer Säulen, von charakteristisch gedrungenen Proportionen ohne Basis. Die Schäfte der Säulen mündeten mit flachen Kannelüren direkt in den dicken Platten. Ein paar steinerne Quader lagen noch auf den Säulen, den Rest hatte die Zeit zerstört. Im Umfeld der Säulen war alles mit Trümmerbrocken übersät, und über vielen wuchsen schon Sträucher und Bäume.

Noch etwas weiter zurückversetzt sah man das minotische Zeichen. Die Hörner des Stieres, die übergangslos aus den Trümmern wuchsen.

„Das habe ich in den Büchern Doc Freemonts als Zeichnung gefunden“, sagte der Kutscher andächtig. „Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, wenn man dann wirklich und wahrhaftig davorsteht.“

„Du hast schon viel gelesen, Kutscher, nicht wahr?“

„Ja, das kann ich behaupten, und ich würde dir auch empfehlen, alles an Wissen in dich hineinzustopfen. Mitunter kann man darauf zurückgreifen und es gebrauchen.“

Dan sann eine Weile darüber nach, dann nickte er. Sein Blick fiel nachdenklich durch einen schmalen Spalt zwischen zwei Felsen, und er konnte bis aufs Wasser sehen.

Wie angenagelt blieb er stehen.

„Was ist?“ fragte der Kutscher und blieb auch stehen. „Hast du einen Geist gesehen?“

Dan O’Flynn legte den Finger an die Lippen.

„Leise“, sagte er, „dort unten liegt ein Schiff in der kleinen Bucht. Wir sind also nicht allein.“

„Ein Schiff?“

„Ja, wir pirschen uns heran. Wenn wir die Felsen erreicht haben, können wir es besser sehen. Aber leise, sonst hört man uns. Und gib acht, daß sich keine Steine lösen. Von dort vorn haben wir einen vorzüglichen Beobachtungsplatz, ohne daß wir selbst gesehen werden.“

Vorsichtig schlichen sie weiter, die letzten paar Yards bis zu den Felsen legten sie robbend zurück.

Vergessen waren die minotischen Relikte. Weder Dan noch der Kutscher hatten jetzt einen Blick dafür. Was im Augenblick zählte, war nur das fremde Schiff, denn solange man nicht wußte, wen man vor sich hatte, konnte es eine ernsthafte Bedrohung sein.

Sie erreichten die Stelle und blickten hinunter. Ihr Blick ging in eine felsige Bucht, nicht weit von den aufragenden Felsen ankerte ein Schiff.

„Das ist ein Wrack“, flüsterte der Kutscher. „Da ist ja nicht viel heil geblieben, dem Kahn fehlen zwei Masten, und an Deck sieht es auch nicht gerade schön aus.“

„Ja, die Tante scheint einen wüsten Sturm abgeritten zu haben. Aber an Deck ist niemand zu sehen, und ich höre auch keine Geräusche nach oben dringen.“

„Was ist das für ein Schiff?“ fragte der Kutscher.

„Das läßt sich schwer sagen. Der Bauart nach eine moderne Schebekke, aber sie erinnert mich auch an eine Feluke. Das ist so ein Mittelding wie – wie …“ Dan suchte nach einem passenden Vergleich, fand aber keinen.

„Wie der Schwarze Segler ‚Eiliger Drache über den Wassern‘, eine Mischung aus Dschunke und Galeone, nur natürlich hier wieder ganz anders.“

„Richtig, um einen Vergleich zu haben.“

Dan suchte mit seinen scharfen Augen das Deck ab, und ihm wäre auch keine Bewegung entgangen, aber es gab keine Bewegung auf diesem Schiff, nichts, das auf Leben hindeutete.

„Die Besatzung hat es verlassen“, meinte er nach einer Weile. „Aber sie haben es hier in die Bucht gebracht, sonst würde es nicht vor Anker liegen.“

Dan robbte weiter um den Felsen herum, bis er einen noch größeren Überblick hatte und die gesamte Bucht überschauen konnte.

„Merkwürdig“, sagte er mißtrauisch. „Das Boot ist an Bord, und trotzdem scheint sich niemand auf dem Kahn aufzuhalten. Verstehst du das, Kutscher?“

„Ein Mittagsschläfchen werden sie um diese Zeit wohl kaum halten. Nein, das Schiff ist verlassen, Dan, sonst hätte sich ganz sicher schon jemand an Deck gezeigt.“

„Wir beobachten es noch eine Weile“, sagte Dan.

Er vergaß auch nicht, sich von Zeit zu Zeit umzudrehen. Es war ja nicht ausgeschlossen, daß sich ihnen jemand näherte.

Aber alles blieb still und ruhig. Nur der Wind flüsterte in den Felsen, kräuselte das Wasser in der Bucht und jagte weiter aufs Meer hinaus.