Reisen unter Osmanen und Griechen

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(Titel der deutschen Originalausgabe)

DER GEIST DES ORIENTS

erläutert in einem Tagebuch

über

Reisen durch Rumili

während einer ereignisreichen Zeit.

Von

D. Urquhart, Esq.

Verfasser der Schriften: „Die Türkei und ihre Hilfsquellen“ -„England, Frankreich, Russland und die Türkei“ u.s.w.

Aus dem Englischen übersetzt von F. Georg Buck, b.R. Dr. Hamburg

(Motto: Nicht durch Tatsachen, sondern durch Ansichten über Tatsachen lassen sich die Menschen leiten. Epiktet.)

Erster Band

Stuttgart und Tübingen, Verlag der J.G. Cotta’schen Buchhandlung 1839.

Dem Andenken Wilhelms IV. gewidmet.

EINLEITUNG

Jeder Reisende, der dem Publikum ein Werk vorlegt, setzt voraus, dass er neue Tatsachen oder Ideen mitzuteilen oder irrige Angaben oder Meinungen in den Werken seiner Vorgänger zu berichtigen habe. Ist das richtig in Beziehung auf uns nahe liegende Länder, mit deren Sprache, Einrichtungen und Gebräuchen wir völlig vertraut sind, so muss es noch viel anwendbarer auf ferne Länder sein, deren Sitten und Einrichtungen den unsrigen unähnlich, mit deren Sprache wir nun einmal nicht bekannt sind, von deren Literatur wir nichts wissen, mit deren Gesellschaft wir nie zusammenkommen, zwischen deren Bewohnern und unseren Landsleuten selten oder nie Freundschaft besteht. Wer zufällig in solch ein Land reist, muss, da es ihm unmöglich ist, genau zu beobachten, eine Menge oberflächlicher Eindrücke in sich aufnehmen, die er dann bei seiner Heimkehr eben so leicht und bunt verbreitet, wie er eben sie empfangen. Nicht sowohl in dem Glauben daher, dass vieles zu berichtigen sei in den Meinungen, die aus solchen Nachrichten in Bezug auf die Länder entstanden sind, von denen diese Bände handeln, sondern in der Überzeugung, dass man gar nichts davon weiß, übergebe ich diese Bände meinen Landsleuten. Mit den Sitten eines Volkes geht es, wie mit seiner Sprache: Keines von beiden kann genau beschrieben, keine Stelle kann richtig angewendet werden, wenn nicht der Geist der Volkssitten, wie die Grammatik der Volkssprache fleißig studiert und vollkommen begriffen ist.

Die Ansprüche, die ich aufweisen kann, um mein Selbstvertrauen oder das Vertrauen anderer zu begründen, sind -zehn Jahre, die ich unablässig anwendete, die nötige Belehrung zu erlangen, um über die Länder zu urteilen, die ich hier zum Teil beschreibe. Während dieses Zeitraumes, wo kein anderer Zweck mich beschäftigte, habe ich meine Zeit gänzlich dazu gewidmet, im einzelnen oder im ganzen zu erforschen und zu studieren, was sich in gegenseitiger Verbindung auf die Gesetze, die Geschichte, den Handel, die politische und diplomatische Lage des Orients und besonders der Türkei bezog. Obgleich sich diese Untersuchungen über weite und mannigfache Felder verbreiteten, wurden sie doch systematisch auf die Aufklärung einer einzelnen Frage geleitet, der Frage nämlich, welche die Interessen und vielleicht das politische Dasein Großbritanniens zunächst berührt.

Während meiner früheren Reisen, eingebunden, wie ich ursprünglich war, in den Krieg zwischen Griechenland und der Türkei, kam ich zu den ungünstigsten Schlüssen über den Charakter der orientalischen Länder und besonders der türkischen Regierung und des türkischen Volkes. Erst nach dreijährigen fleißigen Forschungen in der Statistik1 begann ich einzusehen, dass es doch wirklich Institutionen gebe, die mit dem Orient verknüpft sind. Von dem Augenblick an, wo ich das Vorhandensein besonderer, obgleich noch unklarer Grundsätze bemerkte, erwachte in meiner Seele ein hohes Interesse, und ich machte mich an eine Sammlung finanzieller Details, in der Absicht, die Regeln kennenzulernen, auf welche diese gegründet waren. Ich darf wohl sagen, dass ich abermalige drei Jahre in dieser Ungewissheit zubrachte, und ich sammelte und notierte die Verwaltung von zweihundertfünfzig Städten und Dörfern, bevor mir die gemeinsamen Grundsätze auffielen, welche diese Verwaltung leiteten.

Erst nachdem also die Hälfte der Zeit verflossen war, die ich überhaupt im Orient zubrachte, begann ich zu merken, dass dort bestimmte Regeln und Grundsätze der geselligen Sitten und Gebräuche vorhanden waren, die man an ihnen selbst studieren müsse, und deren Erlernung eine Bedingung zum nützlichen und geselligen Verkehr sei.

Nachdem ich diesen mühsamen Prozess durchgemacht, muss ich natürlich annehmen, dass eine Kenntnis des Orients lange und emsige Arbeit erfordert, die nur von jemand unternommen werden kann, der keine andere Beschäftigung oder Ziele hat, der mit Tatkraft und Beharrlichkeit ausgerüstet und bereit ist, alle Bequemlichkeiten, Annehmlichkeiten und Lebensgenüsse, an die er gewöhnt gewesen, gänzlich aufzuopfern.

Ein Werk über den Orient ist eine Aufgabe, die kein Man von richtigem Takt leicht oder bereitwillig übernehmen kann. Je weiter man vorschreitet, gerade um so deutlicher werden die Schwierigkeiten solch eines Studiums, desto grösser das Misstrauen des Forschers.

Wenn ein Botaniker, an eine Gegend gewöhnt, die nur eine beschränkte Zahl von Arten enthält, seine Theorie der Botanik auf solche allgemeinen Regeln gegründet hat, wie er nach dieser beschränkten Anzahl von Daten aufstellen durfte oder anwenden konnte, und nun plötzlich in eine andere Gegend gerät, wo er seine Grundsätze unanwendbar oder unzureichend findet, so muss er augenblicklich die ganze Wissenschaft, zu der er sich bekennt, revidieren. Ebenso wenn man Nationen beobachtet und auf Ideen stösst, die, wenn richtig verstanden, nicht genau durch die Worte der bekannten Sprache übersetzt werden können, muss man augenblicklich zu den ersten Anfängen zurückkehren, zurück zu der Wiederbeobachtung der menschlichen Natur.

Darin liegt die Schwierigkeit des Orients, der eigentliche Grund der Verlegenheit, die sich zu vergrössern scheint, je nachdem die Materialien sich anhäufen. Wer das Morgenland einen Tag lang ansieht, kann äussere Gegenstände mit den Worten skizzieren, die in der europäischen Sprache vorhanden sind. Um aber im Stande zu sein Gedanken vorzuführen, muss er fühlen wie die Morgenländer, und dennoch diese Gefühle in einer Sprache beschreiben, die nicht die ihrige ist, und das gerade ist eine überwältigende Aufgabe. Die Sprache ist die herkömmliche Vertreterin der Eindrücke; aber wenn die Eindrücke nicht dieselben sind, können sie nicht durch gemeinsame Töne ausgedrückt werden, und deshalb ist da, wo eine Verschiedenheit der Eindrücke stattfindet, keine Möglichkeit einer gemeinsamen Sprache.

Bei dieser Schwierigkeit der gemeinsamen Mitteilung darf man natürlich nur annehme, dass jeder Teil in den Augen des anderen gelitten hat: wir sind der Mittel beraubt gewesen, das Gute zu würdigen; wir haben das Schlechte übertrieben und das Gleichgültige ungünstig gedeutet. Die ursprüngliche Unzulänglichkeit der Sprache ist später die Veranlassung zu einer entschuldbaren Feindseligkeit geworden, und aus dieser Wechselwirkung von Ursache und Wirkung ist endlich gegenseitige Verachtung entstanden. Dieses bei den im Morgenlande ansässigen Europäern eingewurzelte Missverständnis beschliesst durch die bestehende Feindseligkeit Reisende aus von dem Verkehr mit den Landeseingeborenen. Sie haben nicht den Schlüssel zum Verkehr und sind in den ersten Eindrücken, durch welche ihre ganze spätere Laufbahn notwendig geleitet wird, von den im Orient ansässigen Europäern abhängig, welche mit ihnen dieselbe Sprache reden.

Man sollte annehmen, dass Leute, die ihr Antlitz der aufgehenden Sonne zuwenden, von einem edlen Eifer der Forschung beseelt wären; dass ihre Einbildungskraft erwärmt wäre von der Poesie des orientalischen Lebens und dem Glanz morgenländischer Staffage; dass Männer, deren früheste Erziehung nach der Bibel gebildet worden, und deren kindliche Sehnsucht angefeuert wurde durch den orientalischen Hauch der „arabischen Nächte“, mitfühlend und teilnehmend auf jene Einrichtungen, Gewohnheiten und Wirkungen blicken würden, die allein in des Morgenlandes Klima leben. Nichtsdestoweniger ist es unglücklicherweise nur zu wahr, dass während europäische Reisende die politischen und moralischen Interessen und Charakterzüge vernachlässigten, die das Land darbietet, sie auch selbst die äusseren und physischen Züge vernachlässigten, die in den Bereich der Wissenschaften gehören, welche die der Gegenwart zu Gebot stehenden Fähigkeiten der Beobachtung und Vergleichung für sich in Anspruch nehmen. Die Botanik, die Geologie, die Mineralogie der europäischen und asiatischen Türkei sind kaum weiter gekommen seit Tourneforts Zeiten. Unsere gegenwärtige geographische Kunde der Länder von Hochasien verdanken wir einer in Paris angefertigten Übersetzung eines chinesischen Erdbeschreibers, dessen Werk vor anderthalb tausend Jahren erschien! Bis zum Berichte des Leutnants Burnes war die einzige Belehrung, die wir über den Lauf des Indus besaßen - des Kanals des indischen Handels und der Grenze der britischen Besitzungen - aus den Geschichtsschreibern Alexanders genommen! Wir dürfen uns also nicht wundern, dass wir unwissend sind, in Bezug auf das Wesen des orientalischen Geistes, die Grenzen orientalischer Kenntnis, die Ebbe und Flut orientalischer Meinung.

Gibt man es bloss als allgemeinen Satz zu, dass das Studium des Orients schwierig sei, dass wir von Tatsachen nichts wissen, dass wir irrige Schlüsse ziehen, so mag das ein fruchtloses, unnützes Wahrheitsbekenntnis sein, und es bleibt also noch übrig und nötig zu zeigen, wie der Gebrauch gewisser Ausdrücke, die auf unseren Zustand anwendbar sind, zur Quelle des Irrtums wird, während es dem Beobachter auf keine Weise einfallen kann, der Irrtum liege nur im Gebrauch der Sprache, mit der allein er vertraut ist. Ich will deshalb einige Beispiele geben, die vielleicht dazu dienen, die Steine des Anstoßes zu bezeichnen, welche vorurteilsvolle und europäische Begriffe auf den Pfad werfen, auf welchem man den Orient erforschte.

 

Blicken wir eben nicht gar viele Jahre zurück in der Geschichte von Großbritannien, so finden wir eine erniedrigte, jämmerliche, vereinzelte Bevölkerung. Wir sehen, dass der Fortschritt der Künste, der Landwirtschaft und vor allen Dingen des Wegebaues eine gleichzeitige Verbesserung in der Lage der Menschen hervorbrachte, und wir folgern natürlich, dass gute Wege, mechanische Fertigkeit u.s.w. Bedingungen des Wohlseins sind, und dass, wo sie fehlen, alles schlecht und erbärmlich sein muss. Hören wir also von Ländern, wo die Wege in so schlechtem Zustande sind, wie sie vor fünfzig Jahren in England waren, so schliessen wir, das gesellschaftliche Verhältnis dieser Länder sei, wie es in England zu einer früheren Zeit war, oder wie wir glauben, dass es war, denn der dogmatische Charakter des Heute ist stets geneigt, die Vergangenheit herabzusetzen. In England aber und in den unter derselben Breite liegenden Ländern kommen die Lebensgenüsse des Volkes aus ferner Zone her, müssen weit hervorgebracht werden, und um diese Luxusgegenstände zu erhalten, muss erst der Überfluss an heimischen Erzeugnissen ausgeführt werden, um ihn gegen jene zu vertauschen. Fehlt es einer so gelegenen Bevölkerung an leichten Transportmitteln, so muss sie aller der Lebensgenüsse entbehren, die aus dem Tauschhandel entstehen und den Gewerbfleiss erzeugen. Für sie werden also Landstraßen zur Lebensfrage; keineswegs aber sind Landstraßen von gleicher Wichtigkeit für Länder, wo jedes Dorf in seinem Bereiche die Bequemlichkeiten und Genüsse hat, welche nördliche Völkerschaften aus der Ferne holen müssen.

Auf gleiche Weise war die Bevölkerung Großbritanniens, vor der Einführung des Gemüsebaues, während der langen, rauhen Wintermonate auf Nahrungsmittel der schlechtesten Art beschränkt. Gesalzener Speck, und in früheren Zeiten Aale, war die einzige Zugabe, die der Bauer während sechs Monaten im Jahr zu seinem Roggen- oder Gerstenbrot erwarten konnte, und wir halten daher natürlich die Verbesserungen der neueren Landwirtschaft für nötig, zu einer guten und vollständigen Kost und zum Wohlsein jeder ackerbauenden Bevölkerung. In Ländern aber, wo der Winter nicht so lange anhält, und wo die Erzeugnisse des Bodens mannigfacher sind, ist der Fortschritt der Wissenschaft des Landbaues nicht in demselben Grade nötig zum Wohlsein der Gemeinde. Der „zurückstehende Ackerbau“ ist daher eine Redensart, welche nicht denselben Begriff ausdrückt, wenn man sie auf Länder in verschiedenen Breiten anwendet.

Ferner ist in unserer konstitutionellen Gedankenreihe der Ausgangspunkt, auf den wir zurückblicken, das Lehnswesen. Die Masse der Bevölkerung war damals wirkliches Eigentum, und da jeder Schritt, der geschehen ist in der Erlangung gesellschaftlicher Rechte, in der Festsetzung der Gleichheit, in der Erhebung der Macht und des Charakters eines allgemeinen Gerichtsstandes, eine Verbesserung der ursprünglichen Staatsverfassung war, so betrachten wir das Vorwärtsschreiten als gleichbedeutend mit Verbesserung. Im Morgenland ist der Ausgangspunkt: freies Eigentumsrecht jedermanns und Gleichheit aller vor dem Gesetze. Jede Abweichung von dieser ursprünglichen Verfassung ist als Verletzung ihrer Grundsätze und als Verletzung der Volksrechte vorgegangen. Morgenländische Bevölkerungen wünschen daher das Bestehenbleiben als die Sanktion der Volksrechte; der Europäer hingegen, der einsieht, das Vorrücken der Volksrechte liege in dem Worte Fortschritt, begreift den Orientalen nicht, der auf das Feststehende als auf etwas Vortreffliches hinsieht. Während also den Europäer seine vorgefasste Meinung der Fähigkeit beraubt, eine so wichtige und wertvolle Gedankenfolge zu begreifen, stellt er irrtümliche Angaben als die Grundlage aller seiner Folgerungen auf.

Sodann veranlasst das Wort „Lehnswesen“ eine ähnliche Verwirrung. Das Lehnswesen, in seiner wahren und wesentlichen Bedeutung hat im ganzen Morgenland seit allen Zeiten bestanden, und besteht noch. Dennoch habe ich mich, als ich den zwischen dem Osten und Westen bestehenden Unterschied in dem einfachsten Ausdrucke zusammenfasste, genötigt gesehen, zur Erläuterung des Gegensatzes eine Grenzlinie zwischen den Nationen zu ziehen, die das Lehnswesen durchgemacht, und den anderen, welche das nicht getan haben. Unter den ersteren verstand ich die Bewohner des westlichen Europa, mit Ausnahme einiger Bruchstücke von Rassen, z.B. der baskischen Provinzen, der Inseln Guernsey, Jersey u.s.w.

Obgleich das Lehnswesen von Osten nach Westen gebracht worden, gingen damit in unseren westlichen Gegenden Abänderungen und Modifikationen vor, die das Wesen desselben völlig umänderten. Der ursprüngliche Charakter des Lehnswesens war eine örtliche militärische Organisation zur Verteidigung des Grundes und Bodens, wofür eine regelmäßige Abgabe gezahlt wurde, die sich auf den Zehnten des Ertrags von dem so beschützten Boden belief. Das Innehaben dieser Belehnung hing von dem Willen des Souveräns ab, und in den früheren Zeiten waren es allgemein jährliche Übertragungen. Im Westen wurden die Lehnsträger, die Vasallen, Eigentümer des Bodens, mit dessen Schutz sie beauftragt waren, und stürzten so die Grundsätze des Systems gänzlich um und verfälschten den Zweck. Das Lehnswesen im Morgenland lässt dem Bebauer das Eigentumsrecht; das Lehnswesen im Abendland hat ihn dieses Recht beraubt, hat das Land auf den Lehnsträger übertragen und den Bebauer in einen Leibeigenen verwandelt. Das System ist völlig verschieden, aber das Wort ist dasselbe. Der Europäer stösst auf ein Verhältnis, das er als Lehnswesen bezeichnet, und augenblicklich wendet er nun seine Ansichten vom abendländischen Lehnswesen auf den Zustand einer bürgerlichen Gesellschaft an, wo nichts dergleichen jemals bekannt war. Daher entstehen unsere Missbegriffe von den Eigentumsrechten unserer Hindu-Untertanen und eine Grundquelle von Missbegriffen jedes Grundsatzes orientalischer Regierung, Gesetze, Eigentumsverhältnisse und Gesetzgebung.

Man ist es gewohnt, die Regierung der Türkei, wie die der übrigen morgenländischen Nationen, als Despotismus zu bezeichnen, und diese Bezeichnung hat sich nicht nur auf Reisebücher beschränkt, sondern wird von Schriftstellern eines wissenschaftlichen Charakters und in der Klassifizierung der Länder gebraucht. Nun aber ist es ein sonderbar Ding, dass unsere Idee von Despotismus dem Geiste des Orients ganz unbekannt ist; dass, um einem Orientalen das Wort zu erklären, man ihm einen gesellschaftlichen Zustand beschreiben muss, wo die Leute über die Grundsätze von Recht und Gesetz uneinig sind. Die Idee des Despotismus, oder die Verfälschung des Rechtes durch die Gewalttat der Macht, kann nur da existieren, wo zwei Meinungen über Recht und Unrecht vorhanden sind, so dass eine schwankende und zufällige Mehrheit ihren Willen als die Richtschnur von Gerechtigkeit und Gesetz durchsetzt. Solch ein Zustand der Dinge hat Gefühle tiefer Erbitterung unter den Menschen erzeugt und entwickelt, und daraus entsteht folgerichtig eine Erbitterung des Ausdrucks in allen mit der Politik verknüpften Ideen. In Ländern aber, wo die Grundsätze der Regierung niemals im Widerspruch standen mit den Meinungen irgendeiner Volksklasse, ist der Missbrauch der Gewalt Tyrannei, aber nicht Despotismus. Die Menschen mögen dulden unter der Gewalttat der Macht, aber sie werden nicht erbittert dadurch, dass Ansichten, die sie verwerfen, in Gesetze verwandelt werden.

Zu den allen Europäern gemeinsamen Quellen der Täuschung kommen noch die, welche aus den Sekten- und Partei-Ansichten der Reisenden entspringen. Jeder Engländer gehört zu der einen oder der anderen der politischen Parteien, die sein Vaterland zerspalten. Unfähig, eine unparteiische Ansicht von seinem Vaterland zu fassen, wie kann er der Beurteiler eines anderen Landes sein? Selbst seine Sprache ist unanwendbar auf den Gegenstand, und die Worte rufen die Antipathie seiner Parteilichkeit hervor. Der Liberale nennt die Türkei eine despotische Regierung, verwirft sie schon durch dies Wort und forscht nicht weiter; der Tory erblickt in der Türkei volkstümliche Grundsätze und sieht nicht weiter hin; der Radikale sieht dort Grundsätze, die er für aristokratische hält, und der Begünstiger der Aristokratie verachtet die Türkei, weil es dort keine erbliche Aristokratie gibt; der Konstitutionelle hält ein Land ohne Parlament nicht der Mühe wert, weiter daran zu denken; den Legitimisten verdrießen die dort der königlichen Gewalt gesteckten Grenzen; der Staatsökonom stösst auf ein Steuersystem, das er inquisitorisch nennt, und der Verteidiger des „Schutzes der Industrie“ kann ohne Zollhaus keinen Wohlstand, keine Zivilisation sehen. So findet das Mitglied jeder Partei, der Bekenner jeder Klasse von Meinungen in den Worten, die er zu gebrauchen gezwungen ist, dasjenige, was seine Grundsätze verletzt und seine Theorie umstürzt.

Die zunächst sich darbietenden Hindernisse sind von gesellschaftlicher Art. Täuschungen metaphysischer, logischer und politischer Beschaffenheit missleiten unsere Vernunft; Irrtümer über Sitten empören unser Gefühl. Wir werden im Orient als Verstossene, als Verworfene behandelt. Wir forschen nicht nach der Ursache; wir erwerben uns nicht die Kenntnis, wodurch unsere Stellung verändert werden kann; wir sind folglich geneigt, wo möglich ungünstig zu schliessen, und sind entweder von ihrer Gesellschaft ausgeschlossen, oder, wen wir darin zugelassen werden, leiden wir unter unaufhörlicher Geistesverstimmung.

Die nächste und letzte Quelle des Irrtums, deren ich gedenken will, ist die Religion. Im Widerspruch mit der Liturgie der englischen Kirche sehen wir die Muselmänner als Ungläubige an, und im Geist unseres Zeitalters und Vaterlandes, der nicht weniger fanatisch in der Religion als im Unglauben ist, nicht weniger unduldsam im Glauben als in der Politik, behandeln wir als Feinde unserer Religion diejenigen, welche die Evangelien als ihr Glaubensbekenntnis annehmen und setzen bei ihnen dieselbe Unduldsamkeit gegen uns voraus, deren wir uns gegen sie schuldig machen.

Als ich dieses Werk unternahm, war einer meiner Hauptzwecke, das Wesen des Islam darzulegen, sowohl in der Glaubenslehre, als auch der Ausübung. Umstände aber, die zu erörtern unnütz sein würde, haben mir die nötige Muße genommen, die Frage gehörigermassen zu behandeln. Ich muss sie daher für den Augenblick fallen lassen, und will nur bemerken, dass ich als Presbyterianer und Calvinist den Islam in seiner Glaubenslehre der wahren Kirche näher halte3 als manche Sekten sich so nennender Christen. Der Muselmann gibt nämlich die Rechtfertigung durch den Glauben zu und nicht durch gute Werke; er erkennt die Evangelien als geoffenbarte Schriften und als Glaubensregel; er betrachtet Christus als den Geist Gottes, als ohne Erbsünde, und bestimmt, wenn die Zeit erfüllt ist, zu schaffen, dass „Ein Hirte sei und Eine Herde.“4

Der gesellschaftliche und politische Einfluss des Islamismus ist völlig missverstanden worden, und ich erlaube mir nur einige Bemerkungen über das ausschliesslich weltliche und zeitliche Wesen des Islamismus, um eine andere Quelle des Irrtums in unserer Beurteilung des Orients zu erörtern.

Im Orient hat das Wort Religion nicht dieselbe Bedeutung wie in Europa. Bei uns ist Religion - Glaube und Lehre -ganz verschieden von polizeilichen Massregeln und Regierungsformen. Zur Zeit der Erhebung des Islamismus stellte der Kampf der Religionen den Meinungskampf des Westens in jetziger Zeit dar, wenn gleich mit edleren und nützlicheren Charakterzügen. Unser Meinungskampf bezieht sich auf Regierungsformen; ihr Religionskampf bezog sich auf Regierungsmassregeln. Der Grieche (seinem Glauben und System gemäß) hielt schwere Steuern, Monopole und Privilegien aufrecht. Der Muselmann (Araber und Anhänger Mohammeds) verwarf Monopole und Privilegien und erkannte nur eine einzige Vermögenssteuer an. Tuleihah, ein Nebenbuhler des Propheten, gewann verschiedene Stämme, indem er das Gesetz gegen die Zinsen wegstrich und verschiedene zivilrechtliche Vorschriften abänderte. Mosseylemah5, der größte Nebenbuhler Mohammeds, hatte ein Gesetzbuch aufgestellt, das so wenig von dem seines siegreichen Mitbewerbers abwich, dass nur örtliche und persönliche Zufälle Einfluss hatten auf den „Kampf, der entscheiden sollte, ob dieLehrsätze Mohammeds oder das Gesetzbuch Mosseylemahs der morgenländischen Welt Gesetze geben sollten.“ Er hatte nur die Grundsätze abgeschrieben von wohlfeiler Regierung, gleichem Gesetz und freiem Handel, deren Mohammed sich als der Hebel bemächtigte, die bestehende Ordnung der Dinge umzustürzen und eine neue einzuführen, die er, den Ideen seines Zeitalters und seines Vaterlandes nachgehend, mit religiösen Glaubenslehren verband, das Bestehende verbessernd und das Ganze bildend, das als Religion ausdauerte, ohne seine politischen Züge zu verlieren, und das als politisches System triumphierte, ohne seinen Charakter der Gottesverehrung abzulegen.

 

Nach langer und sorgfältiger Erwägung, während deren ich mich mehr auf lebendige Eindrücke als auf kalte Erzählungen der Vergangenheit verließ, und wobei ich den Vorteil hatte, die Ursachen und Wirkungen neuerlicher Annahme des Islams durch christliche und heidnische Bevölkerungen ansehen zu können, bin ich zu der folgenden Beurteilung des politischen Charakters des Islams gelangt.

Als Religion lehrt er keine neuen Dogmen, stellt keine neue Offenbarung, keine neuen Vorschriften auf, hat keine Priesterschaft und keine Kirchenregierung. Er gibt dem Volke ein Gesetzbuch, dem Staat eine Verfassung, beide durch die Heiligung der Religion verstärkt. In seinem religiösen Charakter ist er andächtig, nicht dogmatisch. In seinem zivilrechtlichen Charakter ist er so einfach, umfassend und gedrängt, dass das Gesetz durch die moralische Verpflichtung unterstützt wird. In seinem politischen Charakter beschränkt er die Besteuerung, stellt die Menschen vor dem Gesetz gleich, heiligt die Grundsätze der Selbstregierung (wie in Amerika) und die örtliche Kontrolle der Rechnungen. Er setzt eine Kontrolle über die souveräne Gewalt fest, indem er die ausübende Macht der Macht des Gesetzes unterordnet6,

die auf die religiöse Sanktion und auf moralische Verpflichtungen gegründet ist.

Die Vortrefflichkeit und Wirksamkeit jedes dieser Grundsätze, von denen jeder einzelne schon im Stande wäre, seinen Begründer unsterblich zu mache, gibt dem übrigen Wert, und alle drei zusammen gaben dem von ihnen gebildeten System eine Kraft, welche die jedes anderen politischen Systems übertraf. Während eines Menschenlebens verbreitete sich dieses System, obgleich in den Händen einer wilden, unwissenden und unbedeutenden Völkerschaft, über einen grösseren Raum als das römische Weltreich. So lange es seinen ursprünglichen Charakter behielt, war es unwiderstehlich, und seine ausdehnende Kraft wurde erst gehemmt, als (um das Jahr 30 der Hedschra) eine Lüge in seine Jahrbücher aufgenommen wurde.7

So wurden ein Glaube, ein Gesetzbuch und eine Verfassung in einen umfassenden Plan vereinigt, in welchem der Altardienst, die Dorfverwaltung, die Steuererhebung Ehrendienste waren, nicht besoldete Stellen, und wo keine Klasse oder Korporation eine Stelle mit Interessen einnahm, die im Widerspruch ständen mit denen der Gemeinde. Die Erhabenheit der Gottesverehrung, die Einfachheit des Gesetzbuches, die Trefflichkeit des Finanzsystems, die Freisinnigkeit der politischen Lehren, schienen den Islamismus mit den Mitteln zu begaben, zugleich die Einbildungskraft anzufeuern, die Vernunft für sich zu gewinnen, allen Bedürfnissen zu genügen, jeden Zweck, für den die Gesellschaft errichtet ist, zu erfüllen und von jeder denkbaren Seite her dem Menschen beizukommen.

Nachdem ich so lange bei den Schwierigkeiten verweilt habe, welche im Wege stehen, um eine genaue Würdigung des Orients vorzunehmen, muss ich bemerken, dass diese Schwierigkeiten einzig und allein in eines Europäers vorgefassten Meinungen liegen. Lasst einen Europäer von mächtigem aber einfachem Geist nach dem Morgenland gehen, und der Schlüssel zur Einsicht steht ihm sofort zu Gebot. Als Beweis dieser Behauptung darf ich nur auf Lady Mary Wortley Montague8 verweisen, die sich nicht länger als vierzehn Monat an der Türkei aufhielt und doch fast jeden Zug der Gesellschaft in jenem Lande genau beobachtete und getreu malte. Während sie die einzige von allen Europäern war, welche richtig urteilte, ist sie auch die einzige gewesen, die oder der jemals dort Einfluss und Achtung erwarb. Die Ursache dieser ausserordentlichen Erscheinung finde ich darin, dass sie von der ersten Stunde an, wo sie das Land betrat, in einem türkischen Haus ihre Wohnung nahm, wodurch sie mit einem Mal dem schädlichen Einfluss fränkischer Einwohner und Dolmetscher entzogen wurde, während sie zugleich als Frau in die Fallstricke des politischen Lebens sich nicht verwickelte und nicht in die Irrtümer der Staatsgelehrten verfiel.

Ich kann es nicht unterlassen, hier Herrn Lane’s Werk über Ägypten zu erwähnen9, der einzigen Beschreibung orientalischer Sitten in europäischer Sprache. Ich finde dieses Werk ganz vorzüglich geeignet, unsere Stellung im Orient zu verbessern, weil es jetzt einem Reisenden unmöglich ist dahin zu gehen, ohne zugleich zu wissen, dass dort ein anderes Gesetzbuch der Sitten und der Höflichkeit gilt, das er studieren muss, wenn er es unternimmt, das Volk zu kennen oder zu beurteilen.

In Bezug auf vorliegende Bände habe ich nur noch zu sagen, dass ich denke, sie werden wenigstens die Untersuchung und Besprechung des Gegenstandes fördern. Die Grundlage ist ein fünfmonatlicher Ausflug in die europäische Türkei. Die damals aufgenommenen spärlichen Noten habe ich ausgearbeitet, während ich unter Türken und an den Ufern des Bosporus lebte. Die Arbeit diente indessen mehr zur Zerstreuung als zur Beschäftigung, während ich körperlich und geistig ernsthaft litt, und den peinlichen Eindrücken preisgegeben war, denen nämlich, dass ich die besten Interessen meines Vaterlandes aufgeopfert und die erhaltenden Grundsätze der türkischen Regierung und Gesellschaft untergraben sehen musste, weniger durch fremden und feindlichen Einfluss, als durch eine unselige Nachahmung abendländischer Sitten, Vorurteile und Grundsätze.

1Hier eine Methode der historischen Forschung des 18. und 19. Jahrhunderts (Red.).

3So war auch die Meinung der Gottesgelehrten zur Zeit der Reformation.

4Ev. Joh. 10, 16 (Red.).

5Beide hier genannten Personen, nämlich die aus Südarabien stammenden Tuleiha ibn Choveiled sowie Moseilana, genossen wie Mohammed das Ansehen, die wahren Propheten Arabiens zu sein.

6So wurde die Armenversorgung, obgleich eine feste Summe, 2 1/2 Prozent vom Einkommen jedes Mannes von hinreichenden Mitteln, der eigenen Verteilung eines jeden überlassen. Daher der Grundstein des muselmanischen Charakters; daher die Gastfreundschaft und das Wohlwollen zwischen Nachbarn und Nebenmenschen.

7Urquhart spielt hier auf die Regentschaft Uthmans ibn Affan (644-656), des dritten Kalifen, an, in dessen Herrschaftszeit die konfessionelle Spaltung des Islam einsetzte (Red.).

8Ihr Ehemann war von 1716-1718 britischer Gesandter in Konstantinopel. (Red.)

9Edward William Lane, ein britischer Afrikareisender (1801-1876), hielt sich von 1825 bis 1828 in Ägypten auf (Red.).