Die Ökonomie der Hexerei

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Übertretungen des Ego – Distanz

Der Ethnologe Michael Oppitz, der viele Jahre bei den Schamanen in Nepal verbracht hat, gab mir vor meiner Abreise den Rat: „Bleiben Sie in Afrika, bis Sie eine Neurose kriegen!“

Ich verstehe das als Aufforderung, sich der mentalen Dekonstruktion auszuliefern, oder, psychoanalytisch ausgedrückt: sich derart zum Objekt von Übertragungen machen zu lassen, dass man zu Übertretungen verführt oder gedrängt wird. „Let’s get lost.“ Zeit zur nachträglichen Reflexion und Rekonstruktion des Dekonstruierten bleibt dann noch alleweil.

Ich habe einmal mit Elisabeth Hsü, einer Ethnologin, die lange Feldforschungen in China betrieben hat (und zwar über das Thema, wie ein Heiler sein Wissen auf einen Schüler übermitteln, übertragen kann) die Frage diskutiert, wie man eigentlich in einer Feldforschung etwas Fremdes wahrnehmen kann, das heißt etwas, das im eigenen System nicht vorgesehen ist, sondern das eigene System modifiziert, überschreitet. Und sie gab mir eine Antwort, die ich nicht erwartete, eine auf den ersten Blick ganz unepistemologische, unmethodologische Antwort. Sie sagte nämlich: „Es gibt eine Möglichkeit: Indem du dich verliebst.“

Sich verlieben, sich verführen lassen. Paradox: Gerade die Extremform von Übertragung und Irrationalität als Erkenntnisinstrument, als Möglichkeit, die eigenen ewigen Übertragungen zu überschreiten und etwas Neues zu sehen. Sich verlieben als Aufweichung des Eigenen, das dem Nicht-Eigenen den Eintritt ermöglicht. Sich verlieben, nicht nur in eine Frau oder in einen Mann, sondern in eine ganze neue Welt. Sich verausgaben, sich ausliefern, nicht aus Schwäche, sondern als Stärke, wie der heidnische Bischof, der sich verschenkt, wie der Agronomiestudent, der sich verwickeln ließ ohne es eigentlich zu wollen, einfach indem er da war. Teilnehmende, Anteil nehmende Beobachtung.

Coulibaly pflegte gerne zu sagen: „Pour gagner des connaissances et des secrets, il faut se déplacer.“ Mir gefällt das Wort „deplatzieren“, weil es Assoziationen wachruft an (inneres und äußeres) Deplatziert-Sein, Fehl-am-Platz-Sein, Durcheinanderbringen, Versetzung, Versetzt-Werden oder sogar Entsetzen. Es erinnert daran, dass Erkenntnis immer auch etwas mit Umbau zu tun hat und nicht ohne eine Phase der Bewegung, des Bröckelns, des Schlitterns, ja des Chaos oder der Zerstörung eintreten kann. Kurz: Dass keine Verschiebung im Übertragungsgefüge (ein bescheideneres Wort für Erkenntnis), kein Übergang, kein Übertritt ohne Übertretung, ohne Fehler, ohne faux pas eintritt. Insofern muss man aus Übertragung und Übertretung nicht eine eigene Methode machen. Übertragungen und Übertretungen ergeben sich, sobald eine Beziehung da ist, sie sind die Beziehung. Aber es ist etwas anderes als Beobachtung, die eine saubere Trennung von Subjekt und Objekt voraussetzt, ein Subjekt, das seine Unkontaminiertheit durch das Objekt zur Voraussetzung der Objektivität macht. Demgegenüber würde ich eher eine Radikalisierung und Generalisierung der Erkenntnistheorie vorschlagen, die in gewisser Weise in der Psychoanalyse impliziert ist: Ich erkenne das Objekt nur insofern, als es Subjekt – also Teil von mir selber – wird.

Denn letztlich sind wir blind; wir haben keinen unmittelbaren Zugang zu einem Außen. Die Psyche kann nur Psychisches wahrnehmen und verarbeiten. Die Realität ist nur als psychisch konstruierte zugänglich. Insofern finde ich eine Passage zum Andern letztlich nur durch Introspektion und nur in dem Maße, indem der Andere in mir selber gegenwärtig, vertreten, anwesend, wirksam wird. In dem Maße, in dem ich selber zum Erkenntnisinstrument werde, an mir selber etwas ablesen kann, indem ich mich zum Objekt des Objekts machen lasse. Psychoanalytisch würde man von Gegenübertragung sprechen, von Introjektion und Projektion, von Identifikation oder auch von projektiver Identifizierung. In Afrika würde man es Besessenheit oder Verhexung nennen, im Falle eines Heilers und seines Patienten Hellsichtigkeit, double vue oder Telepathie. Indem ich mich – zumindest partiell – fernsteuern lasse, bekomme ich eine Ahnung von den Umrissen und Kräften des andern – und er von den meinen: Denn Übertragung, Übertretung, Verliebtheit, Verführung, Beziehung ganz allgemein bedeuten ja, dass „Mein“ und „Dein“ sich ineinander falten.

Sich aber auch gegenseitig begrenzen, stören oder sogar zerstören: Jede Wahrnehmung ist in gewisser Hinsicht „projektive Identifizierung“, in dem Sinne, als ich das Andere nur identifizieren kann, indem ich Bilder von schon Bekanntem darüber lege, darauf projiziere. Insofern wird das Nicht-Eigene immer dem Eigenen assimiliert. Auf der andern Seite werde ich selber zum Objekt von Übertragungen, Projektionen, Zuschreibungen, die nicht ohne Folgen bleiben: Das Eigene wird immer wieder von Fremdem aufgeraut, durchkreuzt, aufgestört. Damit wird meiner Aneignung des Andern eine oft verwirrende, manchmal gewalttätige Grenze gesetzt; Unübertragbarkeit wird signalisiert.

Diese gegenseitigen Übertragungen sind immer Übergriffe und Übertretungen von Grenzen zwischen dir und mir. Sie sind nicht einfach ein Film, der auf den Körper des andern projiziert wird, ohne diesen zu affizieren. Der Film macht nicht Halt auf der Haut; er brennt sich ein, dringt ein. Mit andern Worten: Das Übertragungsgeschehen ist kein phantasmatisches Theater auf einem Schauplatz fern der „objektiven Realität“ oder ein innerpsychisches Spiel, das sich einer an sich übertragungslosen Wirklichkeit hinzugesellte. Es gibt keine Wirklichkeit vor der Übertragung; die Übertragung hat immer schon stattgefunden, und damit auch der Übergriff und die Übertretung. Kein Eigenes vor dem andern. Wir sind immer schon verführt, verhext, verstört, um nicht zu sagen vergewaltigt.

Oder: Immer schon erregt und infiziert.

Denn vergessen wir nicht: Die „Übertragung“ ist selbst von weither übertragen – sie trägt die Geschichte von Ansteckung, Seuche, Sterben und Eros mit sich. Vielleicht ist die sexuelle Übertragbarkeit als altes, ja archaisches Modell nicht am schlechtesten geeignet, die Übertragung radikal zu denken: Als zugleich reales und phantasmatisches Geschehen, wo sich Leben und Tod, Hoffnung und Angst, Liebe und Zerstörung fortpflanzen, als Risiko und Chance der lebensgefährlichen Berührung und Ansteckung mit Krankheits-, aber auch andern Erregern.

In Coulibalys Welt
Der Féticheur aus Mali

Ich habe erzählt, wie ich 1994 in Abengourou den Féticheur Coulibaly kennen lernte, wie ich mir von ihm Weissagungen, Medikamente und Opfer machen ließ und wie ich brieflich mit ihm auch nach meiner Abreise in Kontakt blieb. Dann machte ich einen zeitlichen Sprung und berichtete kurz von meiner Reise mit ihm in sein Heimatdorf und von den Schwierigkeiten bei der Rückreise in die Elfenbeinküste, als uns Geld und Geduld ausgingen. Ich möchte jetzt in einer etwas detaillierteren Weise nachholend berichten, wie sich unsere Beziehung in der Zwischenzeit entwickelte und wie ich nach und nach Einblick in seine Welt bekam. Dabei werde ich öfters abschweifen, vor allem um Begegnungen mit anderen Heilkundigen zu schildern, die sich ausgehend von meiner Bekanntschaft mit Coulibaly ergaben.

Der Mann, der mit bloßen Worten ein Huhn töten konnte

Nachdem wir uns also nach unserer ersten Begegnung anderthalb Jahre nicht mehr getroffen hatten, kehrte ich im März 1996 nach Abengourou zurück, um Coulibaly wiederzusehen. Auf der Busfahrt von Abidjan lernte ich einen jungen Lobi namens Balenfon kennen. Ich erzählte ihm von meinem Interesse für die afrikanischen Heiler.

Er fragte: „Würdest du etwas von einem Féticheur annehmen?“

„Ja“, sagte ich.

In Abengourou angekommen, tranken wir ein Hirsebier in einem Hinterhof beim Markt, und er erzählte allerhand abenteuerliche Geschichten, insbesondere über einen Magier, der ein Huhn mit bloßen Worten töten könne. Später lud er uns in sein Haus ein, wo er, mit seiner Freundin und einem Kind, wohnte. Auf meine Nachfragen konnte er mir keine brauchbaren Antworten geben; der Magier sei ein alter Lobi in einem Dorf im Norden, das mit „S ...“ beginne. Aber schließlich meinte er, wir könnten morgen hinfahren. Ich ließ mich nicht zweimal bitten.

Balenfon hatte von einem „kleinen Ausflug“ gesprochen. Das Unternehmen stellte sich dann als etwas aufwendiger heraus. Frühmorgens erwischten wir – Balenfon, meine Freundin Nadja und ich – einen Minibus bis Tanda, wo wir nach dem Mittag ankamen. Dort erkundigte er sich genauer nach dem Dorf und nach Möglichkeiten hinzukommen. Plötzlich schien mir, er sei noch gar nie dort gewesen, kenne den Ort vielleicht bloß vom Hörensagen, habe geblufft oder fantasiert. Doch dann gab es eine seltsame Überraschung. Das gesuchte Dorf stellte sich als Sandégué heraus. Warum „Überraschung“? Bei meinem letzten Aufenthalt in der Elfenbeinküste hatte ich die Bekanntschaft von Jean-Paul Eschlimann, dem Pater und Ethnologen, gemacht. Er galt als der beste Kenner der Agni-Kultur überhaupt; ich hatte seine Bücher31 mit Faszination gelesen, und die Tage, die ich damals mit ihm in Tankessé und in umliegenden Dörfern verbringen konnte, waren mir unvergesslich. Nach meiner Abreise blieben wir in brieflichem Kontakt. Er lud mich ein, ihn in Sandégué zu besuchen, wo er eine Pfarrstelle innehatte. Meine zwei letzten Briefe jedoch, in denen ich ihm meine Ankunft ankündete, blieben unerklärlicherweise unbeantwortet. So hatte ich schließlich davon abgesehen, die Reise nach Sandégué ohne seine definitive Einladung anzutreten (Telefon gab es dort nicht, wie übrigens auch keinen Strom). Aber so sollte ich also durch einen Zufall doch noch nach Sandégué gelangen. Wir warteten einige Stunden in Tanda, bis uns schließlich ein Polizist auf der Ladefläche seines Kleintransporters in besagte Ortschaft mitnahm. Kurz vor der Dunkelheit kamen wir an, von Kopf bis Fuß staubrot, meldeten uns beim Polizeiposten, und mithilfe des Polizisten fanden wir uns alsbald im Hof des Heilers wieder.

 

Das Dorf bestand aus einer Lobi-Hälfte und einer Abron-Hälfte. Der alte Heiler, der tatsächlich weitherum bekannt war für die tödliche Kraft seiner Worte, wie mir der Uniformierte bestätigte, war zugleich der Chef der Lobi (die alle mehr oder weniger zu seiner Verwandtschaft gehörten) und hieß Dah Konwiré. Wir setzten uns auf dem Dorfplatz unter den Baum, warteten und übergaben die mitgebrachte Flasche Gin. Dann erschien der vieux. Er hörte sich unsere Höflichkeitsbezeugungen, die letzten Neuigkeiten aus der Stadt und schließlich unser Anliegen an. Er meinte, er müsse zuerst die Geister um Erlaubnis fragen.

Er verschwand mit dem Schnaps in der Fetischhütte nebenan, wir hörten das Glöckchen, mit dem er die Geister anlockte, und seinen Singsang. Er brachte ihnen vom Gin dar. Dann kam er zurück, gab uns aber keinen Bescheid.

Wir unterhielten uns weiter mit seinen Söhnen. Dah Konwiré, erklärten sie uns, hatte vier Frauen. Von der ersten war er inzwischen geschieden. Insgesamt habe er 14 Kinder. (25, resümierte er selbst uns später). Die zweitälteste Tochter hieß Solange und war seit kurzem verwitwet. Sie war Christin, ihre strohgedeckte Lehmhütte (in der wir schließlich für die Nacht untergebracht wurden) war mit Bibel, Gesangbüchern, Kerzen und Heiligenbildern ausgestattet. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie unser Interesse für „Magisches“ nicht billigte. Sie hatte für Jean-Paul Eschlimann gearbeitet und berichtete uns, er habe Sandégué verlassen, weil er kurzfristig nach Rom abberufen worden sei. „Er war so traurig, Afrika verlassen zu müssen. Aber wenn der Papst ruft, muss man gehorchen.“ Am nächsten Tag führte sie uns in sein Haus und zu seinem Nachfolger. Meine zwei Briefe lagen noch auf seinem Schreibpult. (Im Sommer darauf war ich in Rom und wollte ihn anrufen. Da hieß es, er sei wieder in sein heimatliches Elsass zurückgekehrt ...).

Zum Gin, der nun ausgeschenkt wurde, machten allerhand Geschichten zum Thema die Runde.

Einer erzählte: „Einmal vor Jahren hat jemand von diesem Dorf aus einen Mann in Europa verhext. Wie? Er verschloss eine lebende Biene in einem Luftpost-Briefumschlag. In einer Sekunde war sie in Frankreich und tötete das Opfer.“

Als sie mir verschiedene wirkmächtige Pflanzen aufzählten, präzisierte ich, dass ich mich nicht so sehr für die botanische Seite der Heilungen interessiere, als vielmehr für die kulturelle und religiöse.

„Wir Lobi sind nicht religiös“, konterte einer. „Wir sind Fetischisten.“

Wieder ein anderer erzählte: „Hier wird oft Hexerei praktiziert, indem man einen Pfeil auf jemanden schießt, der dann ganz in der Haut und im Fleisch verschwindet, sodass von außen nichts mehr sichtbar ist. Der Alte kann diese Geschosse extrahieren. Aber jetzt ist nicht der geeignete Zeitpunkt dafür. Sein Vater ist vor kurzem verstorben, und noch nicht alle Geister sind darüber unterrichtet. Deshalb kann man sie im Moment nicht für solche Sachen in Anspruch nehmen.“

Es wurde uns auch gesagt, es gebe noch einen stärkeren Heiler im Dorf als den Alten; aber der sei im Moment nicht da.

Das ist übrigens etwas, was ich sehr oft bei meinen Recherchen zu hören bekam, wenn ich ein miracle africain, von dem alle erzählten, mit eigenen Augen sehen wollte: „Kein günstiger Zeitpunkt“, „der Heiler ist gerade abwesend“, „der wirklich starke Magier ist leider gerade vor kurzem verstorben“, „die echten Wunder findet man im Dorf hundert Kilometer flussabwärts“. Man kann das als eine Art Aufschubstrategie lesen: das Wunderbare ist immer nur potentiell (an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit) existent, nicht hier und jetzt. Damit bleibt – auch bei Fehlschlägen – der Glaube und die Faszination lebendig, weil man auf das wirklich Unglaubliche immer vertröstet wird; allerdings bleibt – je nach dem – auch die Skepsis. Im Allgemeinen wird auch bei Falsifikationen bloß der jeweilige Fall, jedoch nicht das System infrage gestellt.

Später verschwand der Alte abermals in der Fetischhütte (maison d’enfants, nannten sie es); er spreche jetzt mit den Geistern seines Vaters, hieß es. Er kam zurück und teilte uns mit, dass auch die Geister seines Vaters uns nun gut aufnähmen. Es wurde eine Ente für uns gebraten und später spielten Balafon und Trommeln zum Tanz in der fast völligen Dunkelheit auf.

Als wir unsere Zimmer bezogen und unser Gepäck hereingetragen wurde, fragte unsere Gastgeberin Solange, die Christin, ob in unseren Säcken auch wirklich kein Zauberzeug sei. Offenbar glaubte sie nicht mehr an all diese Sachen; aber Angst hatte sie trotzdem davor.

Am nächsten Morgen sagte man uns, der Alte werde uns heute wirklich zeigen, wie man ein Huhn mit bloßen Worten töten kann. „Wobei er natürlich prinzipiell dasselbe auch mit einem Menschen tun könnte.“

Wir gingen mit einem Jungen zum Markt, wo wir das zu opfernde Huhn kauften. Dann suchten wir die obere, kleine case fétiche auf, mit dem Tierschädel auf dem Strohdach.

Auf dem Boden der Hütte stand die hölzerne Fetischgruppe, aus einem einzigen Stück Holz gefertigt, aber aus vier Figuren bestehend, und etwa 20 Zentimeter hoch.

„Die Fetische hat der Alte geschnitzt“, erklärte man uns später. „Sie sind die Ahnen der Geister. Der Alte wird das Huhn nicht selber töten, sondern sein Sohn. Aber der Vater wird ihm seine Kraft leihen.“

An der Wand hingen einige Hühnerfedern an einer Schnur und ein weiterer Fetisch aus einem Rinderschwanz. Wir setzten uns, der Sohn vor den Fetisch, der Alte im Rücken des Jungen. Der Sohn streifte sich einen metallenen Armreif über, dann goss er von unserem Gin in ein Gefäß vor der Fetischgruppe und auf den Rinderschwanz. Darauf begann der Alte sein Glöckchen zu läuten, um die Geister anzulocken. Der Sohn leerte etwas Gin in ein anderes Glas, mischte ein Pulver hinein („das seinen Worten die tödliche Kraft gibt“, wie man uns später sagte) und nahm einen Schluck davon. Dann ergriff er das Huhn, das bislang mit zusammengebunden Füßen in einer Ecke gelegen hatte, an den Beinen, hielt es kopfvoran über den Fetisch und murmelte auf Lobi etwas, das man uns sinngemäß so übersetzte: „Geister, ich bringe euch von den Fremden, die in unser Dorf gekommen sind, um eure Macht zu sehen, dieses Huhn dar; ihr könnt kommen und seine Seele und sein Blut nehmen.“ Diesen Spruch wiederholte er etwa eine Minute lang, währenddessen der Alte sein Glöckchen läutete, dann ließ er das Huhn vor den Fetisch fallen. Es war tot.

Das Gebimmel hörte auf. „Die Geister haben das Opfer angenommen“, sagte man uns, „sie haben seine Seele bereits gegessen.“

Wir gingen nach draußen, mit dem Huhn, das bald darauf zubereitet und verteilt wurde.

Auf dem Vorplatz rief der Sohn abermals die Geister an. Dann drehte er sich plötzlich um und nahm das blaue Fahrrad, das neben ihm stand, mit den Zähnen von hinten am Sattel und hob es so, ohne Zuhilfenahme seiner Hände, in die Luft und trug und wirbelte es etwa eine Minute in der Höhe herum.

„Siehst du“, sagte man mir, „er selber könnte das nicht. Es sind die Geister, die es tragen.“

Dann erschien noch ein kleinerer Sohn des Alten und führte uns vor, wie toll er mit seinen Stelzen herumgehen konnte. Dann war der Geisterzirkus zu Ende.32

Wir setzten uns wieder unter den Mangobaum am Dorfplatz. Der Alte beschrieb uns die Wirkungsweise einiger Heilpflanzen und Medizinen. Zum Beispiel das ku, ein Pulver aus Rinden.

„Hat einen jemand verhext, schluckt man davon. Geht man dann unter die Leute, spürt man es körperlich, wenn der Hexer an einem vorbeigeht. Dann nimmt man von dem Mittel in den Mund und spuckt ihn an. Ist er wirklich der Schuldige, stirbt er auf der Stelle. Das Pulver ist aber auch ein Allheilmittel. Man gibt davon in ein Glas, löst es in kaltem Wasser auf und trinkt es mitsamt dem Bodensatz.“

Dann zeigte er uns einen Baum, dessen Blätter gegen Wahnsinn wirken; allerdings nur solchen, der durch Hexerei oder Vergiftung verursacht ist und nicht par nature.

Im Geäst des Baumes hingen zwei Tiergebisse. Ich sprach den Alten darauf an.

„Der Baum geht in der Nacht spazieren. Würdest du noch länger bleiben, würden wir um Mitternacht schauen gehen. Du würdest ihn suchen, aber er wäre nicht mehr an seinem Platz, wo du ihn am Vortag gesehen hast. Du würdest ihn beispielsweise an der Stelle des großen Mangobaumes neben der Opferstelle wiederfinden.“

Er erzählte auch von seinem Vater, von dem er, als ältester Sohn, die Kenntnisse geerbt hatte. „Er hat sie mir auf dem Sterbebett übergeben, als er mit 125 Jahren gestorben ist.“

Später saß ich vor Solanges Haus, als sich mir ein Peul im blauen Bubu näherte. Er zeigte mir seine Identitätskarte. Er war 52, Rinderhändler, Vater von drei Kindern, „der älteste Sohn so alt wie du“.

„Mein Vater war sehr reich. Aber ich selber wurde verhext, und deshalb kann ich nicht mehr in meinem Dorf bleiben, sondern muss immer umherwandern. Zusehends verliere ich meinen Besitz.“

Dann setzte er sich woanders hin, allein.

„Er hat mich aufgesucht“, sagte der Alte, „um ein Mittel gegen Hexerei zu bekommen.“

„Geben Sie ihm ku?“

„Ich gebe ihm nichts. Er selber ist ein Hexer. Er wurde verhext, weil er selber gehext hat. Einem Hexer gebe ich nichts, denn er würde Schlechtes damit tun.“

Eine Stunde später ging der Peul wieder an uns vorbei.

„Er ist enttäuscht“, sagte Solange. „Er hat für viel Geld Kudugu (den einheimischen Gin) gekauft, aber niemand hat ihm zum Trinken angeboten. Er hat drei Felder verkauft und eine Million CFA (= 1600 EUR) gekriegt. Morgen wird er nichts mehr haben. Er wird alles für Schnaps und Geschenke ausgeben. Warum ist er immer noch hier? Er spricht zu viel. Er weiß nicht, wann es Zeit ist zu gehen.“

Schließlich verabschiedete er sich. Außer mir antwortete ihm niemand. Er sah unglücklich, desorientiert, einsam aus, mit leerem Blick. Ich dachte mir, dass man ihn vielleicht später einmal als einen dieser verdreckten, halb nackten fous wiederfinden würde, die in allen afrikanischen Städten auf den Straßen herumgirren.

Ich nehme an, der Peul verschenkte so viel, um sich vom Verdacht der Hexerei reinzuwaschen. Er wollte demonstrieren, dass er nicht habgierig, geizig und neidisch war, wie man es den Hexern nachsagt, sondern sozial. Aber auch das wurde gegen ihn ausgelegt. Man sagte: „Er verliert alles. Das ist der Beweis, dass er verhext wurde.“ (Hexerei als Möglichkeit, den Geizigen zum Teilen zu zwingen, als erzwungene Großzügigkeit, als Robin-Hood-Raub). Und seine Verhexung war nur der Beweis dafür, das er selber zuvor gehext hatte, oder wenigstens, dass irgendein anderer Grund bestand, ihn zu verhexen, eben wahrscheinlich der, dass er ein reicher Geizkragen gewesen war, der durch illegitime Mittel zu seinem Geld gekommen war, was sowohl Zeichen von Hexerei sein kann, als auch Verhexung anzieht; man beachte die schillernde, spiegelhafte Grenze zwischen Hexer und Verhextem. (Den Parvenu-Vorwurf suchte er wahrscheinlich dadurch zu entkräften, dass er sagte, bereits sein Vater sei reich gewesen, und er selbst also als Erbe legitimiert.) Zweifellos legte er angesichts des ablehnenden Verhaltens, das ihm überall entgegengebracht wurde, zusehends tatsächlich ein etwas merkwürdiges Gebaren an den Tag, das dann wiederum gegen ihn verwendet werden konnte, als Unterstützung des Hexereiverdachts33. Der totale Ausschluss, dem er sich ausgesetzt sah, dieser eisige Wind, der ihm entgegenwehte, wohin er auch ging, kam einem sozialen und schließlich vielleicht auch physischen Todesurteil gleich.

Wir machten noch einige Fotos im Hof des Alten, verteilten Geschenke, tauschten die Adressen aus, und er überließ mir ein Säckchen ku. Dann machten wir uns auf den Rückweg nach Abengourou.