Die neue Medizin der Emotionen

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»FLOW« UND DAS LÄCHELN DES BUDDHA

Um harmonisch mit anderen Menschen zusammenzuleben, gilt es, ein Gleichgewicht zwischen unseren unmittelbaren emotionalen – instinktiven – und den rationalen Reaktionen, die auf lange Sicht soziale Bindungen aufrechterhalten, zu erlangen und zu bewahren. Die emotionale Intelligenz findet dann am angemessensten ihren Ausdruck, wenn die beiden Hirnsysteme, das kortikale und das limbische, ständig zusammenarbeiten. In diesem Zustand gestalten und realisieren sich die Gedanken, die Entscheidungen, die Gesten auf ganz natürliche Weise und laufen ab, ohne dass wir dem besondere Aufmerksamkeit schenken. Wir wissen jederzeit, welche Wahl wir treffen müssen, und verfolgen unsere Ziele ohne Angestrengtheit, in einem Zustand natürlicher Konzentration, da wir entsprechend unseren Werten handeln. Und diesen Zustand des Wohlbefindens streben wir ständig an: die sichtbare und vollkommene Harmonie zwischen dem emotionalen Gehirn, das die Energie liefert und die Richtung vorgibt, und dem kognitiven Gehirn, das die Durchführung reguliert. Der große amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi, der im Ungarn der Nachkriegswirren aufwuchs, widmete sein Leben dem Versuch, das Wesen des Wohlbefindens zu verstehen. Er nannte diesen Zustand »Flow«.17

Seltsamerweise gibt es ein sehr einfaches physiologisches Anzeichen dieser Harmonie der Gehirne, dessen biologische Grundlagen Darwin vor über einem Jahrhundert untersuchte: das Lächeln. Ein falsches Lächeln – zu dem man sich aus gesellschaftlichen Gründen zwingt – stimuliert lediglich die Jochbeinmuskeln im Gesicht, die, wenn man die Lippen schürzt, die Zähne entblößen. Im Gegensatz dazu mobilisiert ein »echtes« Lächeln zusätzlich die Muskeln um die Augen herum. Diese lassen sich nicht willentlich, mittels des kognitiven Gehirns, zusammenziehen. Der Befehl dazu muss aus den primitiven, tief liegenden limbischen Bereichen kommen. Deshalb lügen Augen nie: Die Kräuselung um sie herum zeigt, ob ein Lächeln echt oder falsch ist. An einem herzlichen, einem echten Lächeln merken wir intuitiv, ob unser Gesprächspartner sich in genau diesem Augenblick in einem Zustand der Harmonie zwischen dem, was er denkt, und dem, was er fühlt, zwischen Kognition und Emotion befindet. Das Gehirn verfügt über eine angeborene Neigung zum »Flow«. Das universellste Beispiel dafür ist das Lächeln Buddhas.

Ziel natürlicher Methoden, die ich in den folgenden Kapiteln vorstellen will, ist es, dies zu ermöglichen. Im Gegensatz zum IQ, der sich in Verlauf eines Lebens kaum höher entwickelt, kann man die emotionale Intelligenz in jedem Alter pflegen und weiterentwickeln. Es ist nie zu spät zu lernen, wie man besser mit seinen Gefühlen und mit seiner Beziehung zu den Mitmenschen umgeht. Der erste hier beschriebene Ansatz ist zweifelsohne der grundlegendste. Es geht darum, den Herzrhythmus zu optimieren, um dem Stress standzuhalten, die Angstgefühle unter Kontrolle zu bringen und die Vitalität, die in uns steckt, zu maximieren. Dies ist der erste Schlüssel zur emotionalen Intelligenz.

I Heute gibt es antipsychotische Medikamente, deren Auswirkungen ausgewogener sind und mit denen man Halluzinationen und Wahnvorstellungen unter Kontrolle bringen kann, ohne das Gefühlsleben der Patienten derart einzuschränken.

II Natürlich verschwanden gleichzeitig einige charakteristische Merkmale, etwa die Behaarung, das Gesicht mit vorspringenden Vorderzähnen sowie Kiefer und so fort.

3 HERZ UND
VERNUNFT

Adieu, sagte der Fuchs. Hier ist mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Antoine de Saint-Exupéry, Der Kleine PrinzI

HERBERT VON KARAJAN HAT EINMAL ERKLÄRT, er lebe nur für die Musik. Zweifelsohne war ihm selber gar nicht klar, in welchem Maße dies zutraf: Er starb in eben dem Jahr, in dem er nach dreißig Jahren an der Spitze der Berliner Philharmoniker in den Ruhestand trat. Am erstaunlichsten ist jedoch, dass zwei österreichische Psychologen dies hätten voraussagen können. Zwölf Jahre zuvor hatten sie untersucht, wie das Herz des Maestro auf dessen verschiedene Betätigungen reagierte.1 Die größten Schwankungen hatten sie verzeichnet, wenn er eine besonders gefühlsgeladene Passage der dritten Leonoren-Ouvertüre Beethovens dirigierte. Es genügte sogar, dass er diese Takte hörte, und schon konnte man die gleiche Beschleunigung des Pulses regelrecht beobachten.

Es gibt in dieser Komposition Passagen, die für einen Orchesterchef körperlich weit anstrengender sind. Karajans Herz ließen sie jedoch nur geringfügig schneller schlagen. Was seine anderen Aktivitäten anging, so schien er sie sich weniger zu Herzen zu nehmen, wenn man so sagen kann. Ob er mit seinem Privatflugzeug zur Landung ansetzte oder gar einen Fehlstart hinlegte, sein Herz schien dies kaum zur Kenntnis zu nehmen. Das Herz Karajans gehörte ganz und gar der Musik. Und als der Maestro die Musik aufgab, spielte sein Herz nicht mehr mit.

Wer hat noch nie die Geschichte von einem betagten Nachbarn gehört, der wenige Monate nach seiner Frau gestorben ist? Oder von einer Großtante, die nach dem Tod ihres Sohnes das Zeitliche segnete? Der Volksmund spricht in solchen Fällen von einem »gebrochenen Herzen«. Lange Zeit hat die medizinische Wissenschaft derlei Vorfälle verächtlich abgetan und sie auf das Konto bloßer Zufälle verbucht. Erst seit etwa zwanzig Jahren haben mehrere Kardiologen- und Psychiaterteams sich ernsthaft mit diesen »Anekdoten« befasst. Wie sie entdeckten, ist Stress, was Herzkrankheiten betrifft, ein noch größerer Risikofaktor als Rauchen.2 Man ist auch dahintergekommen, dass eine Depression nach einem Herzinfarkt den Tod des Patienten innerhalb des nächsten halben Jahres präziser vorhersagt als jede Messung der Herzfunktion.3 Wenn das emotionale Gehirn aus den Fugen gerät, leidet das Herz darunter und gibt schließlich auf. Die überraschendste Beobachtung ist jedoch, dass dieses Verhältnis umkehrbar ist. Das Gleichgewicht unseres Herzens beeinflusst ständig unser Gehirn. Manche Kardiologen gehen sogar so weit, von einem untrennbaren »Herz-Hirn-System« zu sprechen.4

Gäbe es ein Medikament zur Harmonisierung dieser engen Beziehung zwischen Herz und Gehirn, hätte es wohltuende Auswirkungen auf den Organismus als Ganzen. Es würde den Alterungsprozess verlangsamen, Stress und Müdigkeit abbauen, Angstgefühle beseitigen und uns vor Depressionen bewahren; nachts würde es uns helfen, besser zu schlafen, und tagsüber, entsprechend unseren Fähigkeiten zur Konzentration und Genauigkeit zu funktionieren. Vor allem würde es uns dann leichter fallen, jenen Zustand des Flow, der gleichbedeutend mit Wohlbehagen ist, herzustellen. Es wäre ein Mittel gegen Bluthochdruck, Angstzustände und Depressionen, »alles in einem«. Gäbe es eine solche Arznei, jeder Mediziner würde sie verschreiben. Vielleicht würden letztlich die Regierungen sie sogar dem Trinkwasser beimengen, so wie in manchen Ländern das Fluor für die Zähne.

Leider existiert dieses Wundermittel noch nicht. Dafür kennen wir seit kurzem ein einfaches und wirksames Verfahren, das jedermann zur Verfügung steht und offenbar genau die notwendigen Voraussetzungen für eine Harmonie zwischen Herz und Hirn schafft. Obwohl diese Methode erst vor kurzer Zeit entwickelt wurde, haben mehrere Untersuchungen bereits ihre günstigen Auswirkungen auf Körper und Gefühle derjenigen, die sie beherrschen, bewiesen, einschließlich einer Verjüngung ihrer Physiologie. Um zu verstehen, wie das möglich ist, müssen wir uns zunächst kurz die Funktionsweise des Herz-Hirn-Systems ansehen.

DAS HERZ DER GEFüHLE

Gefühle verspüren wir im Körper, nicht im Kopf – zumindest dies scheint selbstverständlich. Schon 1890 schrieb William James, Harvard-Professor und Vater der amerikanischen Psychologie, ein Gefühl sei vor allem ein körperlicher Zustand und erst dann eine Wahrnehmung im Gehirn. Seine Schlussfolgerungen leitete er daraus ab, wie wir normalerweise Gefühle empfinden. Sagt man nicht beispielsweise: »Mir steckt die Angst in den Knochen«, oder es sei einem »leicht ums Herz«, dass einem »die Galle überläuft«, oder auch, man sei »verbittert«? Es wäre falsch, in diesen Wendungen lediglich Stilfiguren zu sehen. Vielmehr sind es recht genaue Beschreibungen dessen, was wir in verschiedenen Gemütsverfassungen verspüren. In der Tat weiß man seit kurzem, dass Darm und Herz eigene Netzwerke von zigtausend Neuronen besitzen, die so etwas wie »kleine Gehirne« im Körper darstellen. Diese lokalen Gehirne können selber Dinge wahrnehmen, ihre Wirkungsweise in Abhängigkeit davon modifizieren und sich entsprechend ihren Erfahrungen sogar verändern, das heiß, in gewisser Weise eigene Erinnerungen ausformen.5

Doch das Herz verfügt nicht nur über ein eigenes, halbautonomes Nervensystem, sondern ist auch eine kleine Hormonfabrik. Es sondert Adrenalin ab, das es freisetzt, wenn es seine Kapazitäten voll ausschöpfen muss. Zudem schüttet es das Hormon Noradrenalin aus, das den Blutdruck reguliert, und kontrolliert dessen Freisetzung. Und es sondert sein eigenes Oxytocin ab, das Liebeshormon. Dieses wird ins Blut freigesetzt, beispielsweise wenn eine Mutter ihr Kind stillt, wenn ein Paar sich umwirbt oder auch bei einem Orgasmus.6 Alle diese Hormone wirken unmittelbar auf das Gehirn ein. Zu guter Letzt lässt das Herz den gesamten Organismus an den Veränderungen in seinem ausgedehnten elektromagnetischen Feld teilhaben, das man noch in einigen Metern Entfernung vom Körper nachweisen kann, dessen Bedeutung man jedoch noch nicht kennt.7 Man sieht also, die Bedeutung des Herzens für die Sprache der Gefühle ist nicht nur eine Metapher. Das Herz nimmt Dinge wahr und fühlt. Und wenn es spricht, beeinflusst es die Physiologie unseres gesamten Körpers, angefangen beim Gehirn.

 

Für die fünfzigjährige Marie waren dies nicht nur theoretische Überlegungen. Sie litt seit mehreren Jahren unter plötzlichen Angstanfällen, die sie immer wieder, gleichgültig, wo sie sich aufhielt, überkamen. Dann fing ihr Herz zu rasen an und klopfte viel zu schnell. Eines Tages überfiel sie auf einem Empfang ein plötzliches Herzjagen, und sie musste sich am Arm eines ihr Unbekannten festklammern, da die Beine ihr den Dienst versagten. Die Unsicherheit, wie ihr Herz sich aufführen würde, belastete sie sehr. Nach und nach schränkte sie ihre Aktivitäten ein. Seit dem Vorfall auf dem Empfang ging sie nur mehr in Begleitung guter Freunde oder ihrer Tochter aus. Aus Angst, ihr Herz könne sie »im Stich lassen«, wie sie es ausdrückte, fuhr sie nicht mehr allein über die Autobahn zu ihrem Landhaus. Marie hatte keine Ahnung, was diese Attacken auslöste. Es war, als beschließe ihr Herz unvermittelt, über irgendetwas, das ihr nicht bewusst war, ganz fürchterlich zu erschrecken; ihr Denken verwirrte sich, sie wurde unruhig und begann am ganzen Körper zu zittern.

Ihr Kardiologe hatte einen »Vorfall der Mitralklappe« diagnostiziert, eine meist harmlose Vorwölbung einer Herzklappe, deretwegen, so erklärte er ihr, sie sich keine Sorgen zu machen brauche. Er hatte ihr Betablocker empfohlen, um das Herzjagen zu unterdrücken, doch die machten sie müde, und sie bekam davon Albträume. Sie hatte sie daher eigenmächtig abgesetzt. Als sie zu mir in die Sprechstunde kam, hatte ich gerade im American Journal of Psychiatry einen Artikel gelesen, laut dem das Herz bestimmter Patienten gut auf Antidepressiva reagiert, so als hätten ungewollte Beschleunigungen des Herzschlags ihren Ursprung eher im Gehirn als in den Herzklappen.8 Leider hatte meine Behandlung auch kaum mehr Erfolg als die meines Kardiologenkollegen, und darüber hinaus war Marie sehr unglücklich über die Kilos, die sie nach Einnahme des Medikaments, das ich ihr verschrieben hatte, zugenommen hatte. Das Herz von Marie würde sich nur beruhigen, wenn sie lernte, es direkt zu bändigen. Fast hatte ich Lust zu sagen: »Wenn Sie mit ihm zu sprechen lernen.«

Die Beziehung zwischen dem emotionalen Gehirn und dem »kleinen Gehirn« des Herzens ist einer der Schlüssel zur emotionalen Intelligenz. Wenn wir – im buchstäblichen Sinne – lernen, unser Herz unter Kontrolle zu bringen, lernen wir, unser emotionales Gehirn zu zähmen und umgekehrt. Denn die engste Bindung zwischen Herz und emotionalem Hirn ist diejenige, die vom so genannten peripheren autonomen (vegetativen) Bereich des Nervensystems hergestellt wird, der das Funktionieren all unserer Organe reguliert und sich sowohl unserem Willen als auch unserem Bewusstsein entzieht.

Das autonome Nervensystem besteht aus zwei Strängen, die, ausgehend vom emotionalen Gehirn, alle Körperorgane anregen. Der als ›Sympathikus‹II bezeichnete Strang setzt Adrenalin und Noradrenalin frei und steuert Kampf- und Fluchtreaktionen. Seine Aktivität beschleunigt den Herzschlag. Der andere, als ›Parasympathikus‹ bezeichnete Strang setzt einen anderen Neurotransmitter frei, der in Zusammenhang mit Entspannungszuständen wirksam wird.III Er verlangsamt den Herzschlag. Bei Säugetieren sind die beiden Systeme – die Bremse und das Gaspedal – ständig im Gleichgewicht. Das ermöglicht es ihnen, sich außerordentlich schnell an Veränderungen in ihrer Umwelt anzupassen. Wenn ein Kaninchen vor seinem Bau Kräuter knabbert, kann es innehalten, den Kopf heben, die Ohren aufstellen, mit denen es lauscht, und schnuppern, um einen möglichen Räuber zu entdecken. Gibt es kein Anzeichen für Gefahr mehr, kehrt es rasch zu seiner Mahlzeit zurück. Über eine derartige Anpassungsfähigkeit verfügen nur die Säugetiere. Um die unvorhersehbaren Kurven des Lebens zu nehmen, braucht man eine Bremse und ein Gaspedal; beide müssen in tadellosem Zustand sein, und beide müssen gleich leistungsfähig sein, um sich gegenseitig auszugleichen.


Abbildung 2: Das Herz-Hirn-System – Das halbautonome Neuronennetz des »kleinen Gehirns des Herzens« ist eng mit dem eigentlichen Gehirn verbunden. Zusammen bilden sie ein regelrechtes »Herz-Hirn-System«, und beide beeinflussen sich ständig gegenseitig. Dabei kommt vor allem dem aus zwei Zweigen bestehenden autonomen Nervensystem große Bedeutung zu; der »sympathische « Zweig beschleunigt den Herzschlag und aktiviert das emotionale Gehirn, der »parasympathische« wirkt als Bremse.

Nach dem amerikanischen Forscher Stephen Porges hat eben dieses ausgeklügelte Gleichgewicht zwischen den beiden Strängen des autonomen Nervensystems es den Säugetieren ermöglicht, im Lauf der Evolution immer komplexere soziale Beziehungen einzugehen. Die vielschichtigste sei die Liebesbeziehung, vor allem die besonders schwierige Phase der Verführung. Wenn ein Mann oder eine Frau, die uns interessieren, uns ansieht und unser Herz zum Zerspringen klopft oder wir erröten, dann hat unser sympathisches System aufs Gaspedal gedrückt – vielleicht ein wenig zu fest. Wenn wir tief durchgeatmet und wieder einen einigermaßen klaren Kopf haben und das Gespräch ganz natürlich wieder aufnehmen, haben wir in Wirklichkeit auf die parasympathische Bremse gedrückt. Ohne diese ständigen Anpassungen wäre eine Annäherung weit schwieriger und unterläge zahlreichen Fehlinterpretationen, wie so oft bei Jugendlichen, die noch Schwierigkeiten haben, ihr Gleichgewicht zu wahren.

Das Herz nimmt jedoch den Einfluss des zentralen Nervensystems nicht nur hin, sondern schickt auch Nervenfasern zur Schädelbasis zurück, die die Aktivität des Gehirns kontrollieren.9 Außer über die Hormone, den Blutdruck und das Magnetfeld unseres Körpers kann das ›kleine Gehirn‹ des Herzens daher auch über direkte Nervenverbindungen auf das emotionale Gehirn einwirken. Und wenn das Herz aus den Fugen gerät, reißt es das emotionale Gehirn mit. Genau das passierte Marie.

Der unmittelbare Reflex dieses Kommens und Gehens zwischen dem emotionalen Gehirn und dem Herzen ist die normale Veränderung der Herzschlagfrequenz. Da die beiden Stränge des autonomen Nervensystems immer im Gleichgewicht zu sein versuchen, beschleunigen und verlangsamen sie den Herzschlag ständig. Deshalb ist das Intervall zwischen zwei aufeinander folgenden Herzschlägen nie gleich.10 Diese Veränderlichkeit ist an sich gesund, denn sie ist das Zeichen für ein gutes Funktionieren der Bremse und des Gaspedals, folglich unserer gesamten Physiologie. Mit den Herzrhythmusstörungen, an denen bestimmte Patienten leiden, hat dies nichts zu tun. Tachykardien (plötzliche Beschleunigungen des Herzschlags, die einige Minuten andauern) oder Herzjagen bei Angstanfällen sind Zeichen für eine anormale Situation, in der das Herz nicht länger der regulierenden Wirkung der parasympathischen Bremse unterliegt. Im anderen Extremfall, wenn das Herz ohne die geringsten Schwankungen mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms schlägt, ist das ein höchst gefährliches Zeichen. Geburtshelfer erkennen es als Erste: Bei einem Fötus spiegelt es während der Geburt eine möglicherweise tödliche Störung wider, die sie sorgfältig überwachen. Ebenso lässt es bei einem Erwachsenen darauf schließen, denn man weiß mittlerweile, dass das Herz erst einige Monate vor dem Tod mit einer solchen Regelmäßigkeit zu schlagen beginnt.

CHAOS UND ORDNUNG

Ich habe mein eigenes Herz-Hirn-System auf dem Bildschirm eines Laptop gesehen. Man hatte mir einen kleinen, mit dem Apparat verbundenen Ring über die Fingerspitze geschoben. Der Computer maß einfach das Intervall zwischen den aufeinander folgenden Herzschlägen am Ende meines Zeigefingers. War das Intervall ein wenig kürzer – hatte mein Herz schneller geschlagen –, verschob sich eine blaue Linie auf dem Monitor um eine Stufe nach oben. War es länger – hatte mein Herz sich ein wenig verlangsamt –, so neigte die Linie sich nach unten. Auf dem Bildschirm habe ich gesehen, wie die blaue Linie sich ohne ersichtlichen Grund im Zickzack von oben nach unten bewegte. Mit jedem Schlag passte mein Herz sich offenbar an irgendetwas an, doch es ließ sich keine Struktur in den Gipfeln und Tälern – wenn der Herzschlag sich beschleunigte oder verlangsamte – feststellen. Die Linie, die sich abzeichnete, ähnelte dem unregelmäßigen Kamm eines Gebirgszugs. Selbst wenn mein Herz im Durchschnitt 62-mal pro Minute schlug, konnte die Frequenz von einem Augenblick auf den anderen auf 70 ansteigen und dann auf 55 absinken, ohne dass ich wusste, warum. Die Technikerin beruhigte mich: Das sei die normale Variabilität der Herzfrequenz. Dann bat sie mich, Folgendes im Kopf auszurechnen: »Ziehen Sie 9 von 1356 ab und dann 9 von jeder Zahl, die Sie dabei erhalten …« Das erledigte ich ohne allzu große Schwierigkeiten, auch wenn es nicht gerade angenehm war, vor der kleinen Gruppe neugieriger Beobachter auf die Probe gestellt zu werden, die dieses System zum selben Zeitpunkt kennen lernten wie ich. Sofort wurde zu meiner großen Überraschung der Kurvenverlauf noch unregelmäßiger und chaotischer, und der durchschnittliche Puls kletterte auf 72. Pro Minute zehn Herzschläge mehr, nur weil ich mit ein paar Zahlen jonglierte! Wie viel Energie das Gehirn doch verschlingt! Oder lag es vielleicht an der Belastung, diese Berechnungen mit lauter Stimme vor einem Publikum durchzuführen?


Abbildung 3: Chaos und Kohärenz – Bei Stresszuständen, Angstgefühlen, Depressionen oder Zorn wird der Rhythmus des Pulses ungleichmäßig, »chaotisch «. Wohlbefinden, Mitgefühl und Dankbarkeit führen zu gleichmäßigen Pulsveränderungen, zur »Kohärenz«; der Wechsel zwischen Beschleunigung und Bremsen verläuft gleichmäßig.Kohärenz maximiert in einer gegebenen Zeit die Veränderung, führt zu größerer Variabilität und ist damit gesünder. (Die grafische Darstellung stammt aus dem am Hearth Math Institute in Boulder Creek/Kalifornien entwickelten Computerprogramm »Freeze-Framer«.)

Die Technikerin erklärte, die Kurve sei entsprechend der Beschleunigung meines Herzschlags immer unregelmäßiger geworden; dies sei eher ein Zeichen von Angst als das einer geistigen Anstrengung. Ich spürte jedoch nichts. Daraufhin forderte sie mich auf, ich solle mich auf den Bereich um mein Herz konzentrieren und mir eine angenehme oder glückliche Empfindung ins Gedächtnis rufen. Das überraschte mich. Normalerweise braucht man sich, um durch Meditation oder Entspannung einen Zustand innerer Ruhe zu erlangen, nichts Schönes vorzustellen, sondern soll nur möglichst an nichts mehr denken. Doch ich tat, worum sie mich gebeten hatte, und binnen weniger Sekunden war auf dem Bildschirm – welche Überraschung! – eine völlig andere Kurve zu sehen: anstelle unregelmäßiger, unvorhersehbarer Zacken sanfte Auf- und Abbewegungen, eine regelmäßige, sanftelegante Welle. Als schwanke mein Herz jetzt friedlich und gleichmäßig zwischen Beschleunigung und Abbremsung hin und her. Mein Herz wollte anscheinend sicherstellen, dass es – wie ein Sportler, der vor einer Übung die Muskeln an- und entspannt – beides kann, und zwar so oft es will … Wie ein Fenster unten auf dem Monitor zeigte, war in meinem Körper anstelle eines hundertprozentigen Chaos ein Zustand von 80 Prozent Kohärenz eingekehrt. Und dazu hatte es offenbar genügt, mich an etwas Angenehmes zu erinnern und auf mein Herz zu konzentrieren!

 

Im Verlauf der letzten zehn Jahre ist es gelungen, mit Hilfe von Computerprogrammen wie diesem zwei charakteristische Arten von Herzschlagschwankungen zu beschreiben: Chaos und Kohärenz. Meistens sind es nur mäßige und »chaotische« Schwankungen; Bremsen und Beschleunigen folgen ohne jedes System aufeinander. Ist die Variabilität hingegen ausgeprägt und stark, folgen Brems- und Beschleunigungsphasen schnell und gleichmäßig aufeinander. Dies ergibt eine ebenmäßige Welle, die der Begriff »Kohärenz« des Herzschlags sehr gut veranschaulicht.

Zwischen der Geburt, bei der die Variabilität am größten ist, und der Zeit des Sterbens – zum Todeszeitpunkt ist sie am niedrigsten – lässt die Veränderlichkeit um etwa drei Prozent pro Jahr nach11; ein Zeichen dafür, dass unser Körper sich immer weniger gut an Veränderungen der physischen und psychischen Konstellation anpassen kann: ein Symbol des Alterns. Die Variabilität wird geringer, da wir die physiologische Bremse – das parasympathische System – nicht trainieren, sodass es nicht mehr unter Spannung steht. Ein Muskel, dessen man sich nicht bedient, verkümmert im Lauf der Jahre. Der Beschleuniger – das sympathische System – hingegen bleibt weiterhin im Einsatz. Nach Jahrzehnten lässt unser Körper sich schließlich mit einem Auto vergleichen, das freie Fahrt hat und beliebig beschleunigen, aber praktisch nicht mehr auf Befehl abbremsen kann.

Der Rückgang der Herzschlagvariabilität bringt eine Reihe von gesundheitlichen Problemen mit sich, die mit Stress und Altern zusammenhängen: Bluthochdruck, Herzinsuffizienz, Diabetes, Herzinfarkt, plötzlicher Tod und sogar Krebs. Untersuchungen, die dies bestätigen, wurden in Lancet und Circulation (der kardiologischen Fachzeitschrift) veröffentlicht: Sobald es mit der Variabilität vorbei ist, das Herz beinahe nicht mehr auf Gefühle reagiert und vor allem nicht mehr »bremsen« kann, steht der Mensch kurz vor dem Tod.12