Erleuchtung, Evolution, Ethik

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TRANSZENDENZ?

Die frühesten buddhistischen Lehren wurden im sogenannten Palikanon gesammelt, der annähernd elfmal so lang ist wie die Bibel. Das darin enthaltene Material ist so umfassend und vielfältig, dass fast jede Verallgemeinerung riskant wäre. Das gilt besonders für das Wesen von Nirvana. Dieses Buch ist zwar nicht der Ort einer umfassenden Analyse des Kanons, es ist aber wichtig, sich einige der – vielleicht nur scheinbaren – Widersprüchlichkeiten anzusehen, wie Nirvana umschrieben wird. Zahlreiche Abschnitte in den Nikayas – den Schriften des frühen Buddhismus – legen anscheinend Transzendenz nahe, aber vielleicht ebenso viele lassen sich im Sinne von Immanenz verstehen. Bevor wir das Thema näher betrachten, sollten wir zunächst klären, worauf wir uns einlassen.

Der Überlieferung zufolge wurden die Texte des Palikanons auswendig gelernt und wenigstens dreihundert Jahre lang mündlich weitergegeben, bevor man sie aufgeschrieben hat. Wie genau sie die tatsächlichen Worte des geschichtlichen Buddha bewahren und inwieweit es in jener Phase schon zu Bearbeitungen und Veränderungen gekommen ist, ist eine Streitfrage, die man vielleicht nie beilegen kann. Möglicherweise freuen wir uns an der Vorstellung, die Sutras würden uns direkt mit dem verbinden, was der Buddha tatsächlich gesagt hat, doch so einfach ist das nicht. Religiöse Lehren können sich rasch entwickeln, zumal in ihrer Frühzeit, wenn jene Institutionen gerade erst entstehen, die das Erbe des Stifters bewahren sollen. Die Gleichnisse Jesu, eines apokalyptischen jüdischen Propheten, wurden im Verlauf von nur einer Generation von seiner neuen Rolle als auferstandener Gott, der uns retten kann, überschattet. Das war der außerordentlich erfolgreichen Missionstätigkeit des Paulus zu verdanken, der dem lebendigen Jesus zwar nie begegnet war, anscheinend aber besser als alle anderen wusste, was dieser tatsächlich gemeint hatte. Wie sicher dürfen wir da sein, dass die Bearbeiter des Palikanons das vom Buddha Gemeinte zutreffend erkannt hatten und seine Lehre nun genau überlieferten?

Manche mythischen Elemente in den Schriften spiegeln Denkweisen wider, die zu Lebzeiten und in der Umgebung des Buddha (im Indien der Eisenzeit) allgemein akzeptiert waren, heute aber nur schwerlich Geltung beanspruchen können. Sie stellen die Welt als Zauberreich übernatürlicher Mächte und körperloser Geister vor. Da gibt es Geschichten von Gesprächen des Buddha mit Göttern oder über die Beschwerde eines Baumgeistes, dessen Wohnung abgeholzt worden war. Wir lesen, der Buddha sei durch die Luft geflogen und mit gekreuzten Beinen über einem Fluss geschwebt, um einen Kampf zwischen zwei Armeen zu beenden. Ein andermal habe er sich nach einem Disput plötzlich in die Luft erhoben und sei fortgeflogen. Auch zum Tuschita-Himmel sei er aufgestiegen, um dort seine verstorbene Mutter das Abhidhamma – den dritten Teil des Palikanons – zu lehren.

Weitere Punkte sind in anderer Hinsicht problematisch. Eine besonders umstrittene Episode im Kanon betrifft die Entscheidung des Buddha, auch Frauen in die sangha, die klösterliche Gemeinschaft, aufzunehmen. Nach dem Bericht im Vinaya (dem zweiten Teil des Palikanons, der die Regeln für Mönche und Nonnen enthält), sträubte sich der Buddha zunächst, sie in der Sangha zuzulassen, bis sein Begleiter Ananda ihn fragte, ob Frauen denn dasselbe Potenzial zum Erwachen hätten wie Männer. Dies bejahte er, und dann stimmte er zu, sie aufzunehmen.

Früher mochte ich diesen Vorfall als ein Beispiel dafür, wie bereitwillig der Buddha sich von anderen überzeugen ließ – bis ich erkannte, wie naiv ich damit doch war. Zum einen werfen gewisse textliche Probleme Zweifel an der Faktentreue dieser Geschichte auf, zum Beispiel eine offensichtliche Diskrepanz zwischen dem Zeitpunkt der Aufnahme von Frauen – etwa fünf Jahre, nachdem der Buddha zu lehren begonnen hatte – und dem viel späteren Zeitpunkt, an dem Ananda zu seinem Begleiter wurde.

Erst ganz zuletzt wurde mir klar, dass Anandas Rolle vermutlich erst später in die Geschichte eingefügt worden war, und zwar als Mittel, um ihm die Verantwortung für die Zulassung von Frauen zu geben! Etliche Darstellungen im Palikanon sollen Ananda offensichtlich in ein schlechtes Licht rücken. Dazu gehört auch eine befremdliche Passage im Mahaparinibbana-Sutta, das von den letzten Tagen des Buddha berichtet. Mitten in einer klaren, eindeutigen Beschreibung seines körperlichen Verfalls und nahenden Todes tadelt der Buddha plötzlich Ananda, weil dieser die Tragweite einer Andeutung missachtet habe, die der Buddha unmittelbar zuvor gemacht hatte: Ein Buddha könne aufgrund seiner hoch entwickelten magischen Kräfte viele Tausend Jahre lang leben; Ananda habe diesen Hinweis nicht aufgegriffen und es versäumt, den Buddha nun genau darum zu bitten:

Daher liegt der Fehler bei dir, Ananda. In dieser Sache hast du versagt, weil du unfähig warst, den offenen Hinweis, den deutlichen Wink, den der Tathagata gegeben hat, zu begreifen, und dann hast du den Tathagata nicht gebeten zu bleiben. Wenn du das nämlich getan hättest, Ananda, dann hätte der Tathagata zweimal abgelehnt, beim dritten Mal aber hätte er zugestimmt. Darum, Ananda, liegt der Fehler bei dir; in dieser Sache hast du versagt.

Damit wir es auch wirklich verstehen, wird diese abstruse Kritik noch zweimal wiederholt. Andere Berichte zeigen, dass Mahakaschyapa, der Ordensältere, der nach dem Tod des Buddha offenbar die Führung der Sangha übernahm, ständig mit Ananda haderte. Darum ist es vielleicht kein Zufall, wenn manch eine Begebenheit im Palikanon anscheinend den Zweck verfolgt, Ananda in ein schlechtes Licht zu rücken.

Ich erwähne diese magischen Vorführungen und persönlichen Animositäten nicht, um die Lehren des Palikanons herabzusetzen, sondern um dessen Zuverlässigkeit hinsichtlich historischer Genauigkeit zu hinterfragen. Die Annahme, die ursprünglichen Ereignisse und Lehren seien dreihundert Jahre lang wortgetreu ohne Hinzufügung, Streichung oder »Klärung« weitergegeben worden, ist gelinde gesagt nicht plausibel. Sie passt auch nicht zu einem wesentlichen Unterschied zwischen mündlichen und schriftlichen Überlieferungen. Sobald ein Text schriftlich vorliegt, wird die Frage, ob eine Abschrift ihn genau wiedergibt, wichtiger und zugleich leichter zu beantworten. In den mündlichen Überlieferungen schriftloser Kulturen sind gewöhnlich verschiedene Versionen der wichtigsten Erzählungen im Umlauf, und es gibt keinen einheitlichen, kanonisch festgelegten Satz von Lehren, den die Praktizierenden anzunehmen und anzuwenden haben. Solange es keine Schriftfassung gibt, die das Wort fixiert, liegt alles Gewicht darauf, den Sinn zu vermitteln, und das erlaubt größere Freiheit im Ausdruck. Wie ein Lehrer oder eine Lehrerin ein Thema versteht, beeinflusst naturgemäß die Art der Darbietung. In mündlichen Kulturen beeinflusst dies unvermeidlich, wie die Lehren an zukünftige Generationen weitergegeben werden.

Die im Theravada übliche Betonung peinlich genauen Memorierens und Rezitierens lässt vermuten, dass es sich beim Palikanon um eine Ausnahme handeln könnte, doch diese Möglichkeit wird von den kürzlich entdeckten Gandhara-Schriftrollen auf Birkenrinde – den derzeit ältesten buddhistischen Manuskripten – nicht gestützt. Sie stammen aus der Zeit vom ersten Jahrhundert vor bis zum dritten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung – dem Zeitraum, in dem man wahrscheinlich begann, die mündlichen Lehren aufzuzeichnen –, und die Schriftrollen sind unvereinbar mit der traditionellen Überzeugung, die definitive Fassung des Buddhawortes sei schon kurz nach seinem Tod im ersten Konzil (unter Leitung Mahakaschyapas) festgelegt worden. Obwohl die neuen Funde einiges vertraute Material enthalten, lassen die meisten ihrer bruchstückhaften Abhandlungen und Kommentare neue Züge der buddhistischen Literatur erkennen, die im Palikanon, wie wir ihn heute kennen, nicht eingeschlossen sind. Gelehrte des frühen Buddhismus haben die herkömmliche Grundannahme, alle buddhistischen Schriften und Schulen seien Äste ein und desselben Stammes, inzwischen mit dem Bild eines Zopfstroms ersetzt, dessen zahlreiche ineinander fließende Bäche nicht nur aus einer einzigen Quelle stammen. Der Übersetzer Richard Salomon zog daraus den Schluss, dass keine der vorhandenen buddhistischen Sammlungen früher indischer Schriften »Vorrechte als einzig authentisches oder ursprüngliches Wort des Buddha beanspruchen kann«.

Niemand mehr ist der Ansicht, es gebe einen ursprünglichen Kanon.

Oskar von Hinüber, Pali-Gelehrter

Halten wir diese differenzierte Auffassung des Palikanons im Sinn, wenn wir nun zur Frage zurückkommen, was der Kanon über Nirvana sagt: Transzendiert es diese Welt oder ist es dieser Welt immanent – oder ist es vielleicht etwas ganz anderes?

Eine der meist verbreiteten Umschreibungen von Nirvana ist »das Ende von Geburt und Tod«: Wer voll und ganz erwacht ist, wird nicht mehr geboren und sterben. Ein bekannter Abschnitt im Udana, einem der sogenannten »Kurzen Texte« des Palikanons, drückt es so aus:

Es gibt, ihr Mönche, ein Ungeborenes, ein Nicht-zum-Sein-Gebrachtes, ein Nicht-Gemachtes, ein Nicht-Geformtes. Wenn es, ihr Mönche, kein Ungeborenes, Nicht-zum-Sein-Gebrachtes, Nicht-Gemachtes, Nicht-Geformtes gäbe, dann könnte man keine Flucht aus dem erkennen, was geboren, zum Sein gebracht, gemacht, geformt ist. Weil es aber ein Ungeborenes, ein Nicht-zum-Sein-Gebrachtes, ein Nicht-Gemachtes, ein Nicht-Geformtes gibt, deshalb wird auch eine Flucht aus dem erkannt, was geboren, zum Sein gebracht, gemacht, geformt ist.

Eine andere Sammlung im Palikanon, das Itivuttaka, enthält dieselbe Passage und fügt einige Verse an, die diesen erhabenen Zustand ausdrücklich als glückselig beschreiben.

 

Das Geborene, Zum-Sein-Gebrachte, Geschaffene,

Das Gemachte, Geformte, Nichtbeständige,

Mit Verfall und Tod Verbundene,

Ein Hort der Krankheit, vergänglich,

Aus Nahrung und der Schnur des Begehrens entstanden -

Das eignet sich nicht, sich daran zu freuen.

Die Flucht daraus, das Friedliche,

Jenseits des Denkens, beständig,

Das Ungeborene, das Ungeschaffene,

Der sorglose Zustand, der unbefleckt ist,

Das Ende der mit Leiden verbundenen Zustände,

Das Stillwerden des Bedingten – Glückseligkeit.

Ein weiterer Abschnitt des Udana scheint das buddhistische Ziel noch mehr von der Welt, in der wir jetzt leben, zu unterscheiden:

Wo weder Wasser noch Erde,

Wo weder Feuer noch Luft Fuß fassen können,

Dort strahlen keine Sterne, dort strahlt keine Sonne.

Dort scheint kein Mond, und doch herrscht dort keine Finsternis.

Wenn ein Weiser, ein Brahmin, dies

Für sich in eigener Erfahrung erkannt hat,

Dann ist er von Form und Nicht-Form,

Von Lust und Schmerz befreit.

Ein dritter Auszug aus dem Udana beginnt ebenfalls mit »Da gibt es, ihr Mönche, jenen Zustand, wo es keine Erde, kein Wasser, kein Feuer, keine Luft gibt …«, fährt dann aber mit der Behauptung fort, in diesem Zustand gebe es »weder diese Welt noch eine andere, noch beide; weder Sonne noch Mond. Dort, so sage ich, ihr Mönche, gibt es weder Kommen noch Gehen, noch Verweilen, noch Hinscheiden, noch Entstehen. Ungefestigt, unbeweglich, ist er ohne Stütze. Genau dies ist das Ende des Leidens« (Hervorhebung von mir). An anderer Stelle erfahren wir, es gebe keine Möglichkeit, das Bewusstsein von jemandem zu messen, der »erloschen« ist, denn es sei zeichenlos, grenzenlos, ganz und gar licht: Namarupa, Name-und-Gestalt seien zerstört.

Anscheinend stützen derartige Passagen – vielleicht mit Ausnahme des letzten Zitats aus dem Udana, das unser Thema zusätzlich verkompliziert – ein Verständnis von Nirvana als einem nichtbedingten Zustand oder einer Dimension, die Samsara, unsere Welt des Leidens, der Begierde und Unwissenheit, transzendiert. Letztendliches Ziel ist, der unbefriedigenden Welt, in der wir jetzt leben, durch Beendigung der physischen Wiedergeburt zu entrinnen. Wer Nichtanhaften entwickelt, kann schon jetzt Gelassenheit und Herzensgüte erfahren, doch für sich genommen ist das noch keine letztendliche Lösung des Leidensproblems. Obwohl wir natürlich unser Leben verbessern wollen, solange wir uns hier befinden, ist das Hauptziel, Wiedergeburt ganz zu vermeiden, denn wieder in diese Welt geboren zu werden, bedeutet neues Leiden.

Allerdings gibt es – wie Sie sich wahrscheinlich schon gedacht haben – andere wichtige Abschnitte im Palikanon, die eine eher diesseitige Deutung des letztendlichen Zieles nahelegen. Viele buddhistische Gelehrte glauben, das Sutta Nipata im Khuddaka Nikaya gehöre zur ältesten Schicht des Kanons und vermittle daher vielleicht einen genaueren Eindruck von den ursprünglichen Lehren und Praktiken des Buddha. Besonders wichtig wird dies, wenn wir beachten, dass manche Texte im Sutta Nipata eine transzendente Lösung für Dukkha nicht bestätigen, denn sie beschreiben Erwachen als selbstlose, nichtgreifende Art, hier und jetzt zu leben.

Im frühen Buddhismus ist die Bewegung von Samsara zu Nirvana keine Reise zu einer »separaten Realität«, sondern von der Anhaftung zur Nichtanhaftung, von der Gier und Besorgtheit zur Stille und zum Gleichmut, oder vom »Selbst« zum »Nicht-Selbst«.

Donald Swearer

Das kurze Atthakavagga, das »Achterbuch« des Sutta Nipata, gibt hierfür ein gutes Beispiel. Grace Burford unterstreicht in ihrer Studie Desire, Death, and Goodness: The Conflict of Ultimate Values in Theravada Buddhism, dass man im Atthakavagga keine metaphysischen Behauptungen darüber finden kann, welche Rolle eigenes Karma bei der Verursachung von Wiedergeburt spielt, und auch nichts über die Wichtigkeit, dem Kreislauf von Geborenwerden und Sterben zu entrinnen. Stattdessen liegt der Fokus einzig und allein darauf, Begierde und Anhaftung zu überwinden. Burford zufolge geht es »schlicht um einen Wertewandel innerhalb des menschlichen Daseins«, der suddhi, Reinheit, santi, Frieden, und panna, Weisheit, mit sich bringt. Weil wir süchtig nach etwas verlangen, was zu Besorgtheit und Streit führt, liegt die Lösung einfach darin, diese Sucht zu beseitigen, und dann können wir die uns verbleibenden Tage heiter und glücklich verbringen.

Diese Sichtweise passt gut zu anderen Beschreibungen von Nirvana im Palikanon. Oft wird das Ziel einfach als Beendigung der »drei Feuer« (oder auch der »drei Gifte«) beschrieben, der unheilsamen Motivationen von Gier, Übelwollen und Verblendung. Für jemanden, der diese zu zerstören vermag, ist das Nirvana dem Samyutta Nikaya zufolge »direkt sichtbar, unmittelbar, einladend, zu kommen und zu sehen, wert, sich dafür einzusetzen, und etwas, was von den Weisen persönlich erfahren wird.«

Eine der interessantesten Beschreibungen findet sich in einem Kapitel des Udana. Der Bahiyer Daruciriya, ein wandernder Asket, fragt den Buddha bei dessen Almosengang im Dorf mit großer Dringlichkeit, wie er sich üben könne. Der Buddha antwortet so:

Im Gesehenen gibt es nur das Gesehene, im Gehörten gibt es nur das Gehörte, im Empfundenen gibt es nur das Empfundene, im Erkannten gibt es nur das Erkannte: Dies, Bahiyer, ist, wie du dich selbst üben solltest.

Wenn es für dich, Bahiyer, im Gesehenen nur das Gesehene, im Gehörten nur das Gehörte, im Empfundenen nur das Empfundene, im Erkannten nur das Erkannte gibt, dann gibt es, Bahiyer, in Verbindung damit kein »Du«.

Wenn es, Bahiyer, in Verbindung damit kein »Du« gibt, dann ist da kein »Du«.

Wenn es da, Bahiyer, kein »Du« gibt, dann bist du, Bahiyer, weder hier noch dort noch zwischen beiden.

Das, genau das, ist das Ende des Leidens.

Udana 1.10

Das Ende des Leidens ist die häufigste Umschreibung von Nirvana, das auch der Bahiyer erlangte, sobald er diese Worte gehört hatte. Später werden wir auf diese Passage zurückkommen; jetzt sei nur angemerkt, dass es auch hier keinerlei Hinweise auf die Beendigung der Wiedergeburt gibt oder darauf, irgendeine andere Wirklichkeit zu erlangen. Stattdessen gilt es als hinreichend, durch Fokussierung auf das Gesehene und Gehörte die Vorstellung eines Selbst, das dieses Sehen, Hören und so weiter tut, zu überwinden.

Natürlich können diese wenigen Belege aus einigen Abschnitten des Palikanons keine gründlichere Analyse seiner Lehren ersetzen. Sie genügen aber, Zweifel an einem Verständnis von Nirvana anzumelden, das in den frühesten Texten definitive Antworten zu finden versucht. Ich habe mich manchmal gefragt, warum der Buddha sich nicht klarer hinsichtlich der Natur des Nirvana ausgedrückt hat. War auch dies ein Beispiel für seine Anweisung, wir sollten uns nicht übermäßig in die Philosophie vertiefen? »Wenn du verstehen willst, was das Nirvana ist, erfahre es selbst!« Vielleicht war er aber auch so deutlich, wie er sein konnte. Liegt das Grundproblem in den Beschränkungen der Sprache? Gibt es die Abweichungen im Kanon deshalb, weil unterschiedliche Schüler des Buddha sich an verschiedene Lehren erinnert oder unterschiedlich verstanden haben? Oder sind diese Widersprüche erst später, infolge absichtlicher oder unabsichtlicher Veränderungen im Zuge mündlicher Übertragung und Erklärung, aufgekommen? Oder gibt es die Unstimmigkeiten nur in unserem nicht erwachten Geist?

Die eine Hälfte der Menschheit hält beispielsweise die Bilder ihrer religiösen Überlieferungen für Fakten. Die andere Hälfte macht geltend, dass sie keineswegs Fakten seien. Das Ergebnis: Wir haben jene, die sich für Gläubige halten, weil sie Bilder als Fakten annehmen, und wir haben jene, die sich als Atheisten verstehen, weil sie religiöse Bilder für Lügen halten.

Joseph Campbell, Thou Art That: Transforming Religious Metaphor

Mein Hauptanliegen ist hier, jegliche Auffassung von Nirvana als nichtbedingtem Bereich, der von der bedingten Welt, in der wir nun leben, getrennt sei, kritisch zu befragen: Macht solch eine transzendente Deutung des Erwachens vielleicht den gleichen Fehler, dem viele religiöse Überlieferungen erliegen – Metaphern wortwörtlich zu nehmen? Verwirklichung des Todlosen – dessen, was jenseits von Geburt und Tod liegt – lässt sich als Erlangen einer anderen Wirklichkeitsdimension auffassen und damit als Flucht aus dieser vergänglichen Welt, in der alles entsteht und vergeht. Man kann es aber auch als Umschreibung der Empfehlung des Buddha an den Bahiyer verstehen, hier und jetzt zu erkennen, dass es kein »Du« gibt, das je geboren wurde oder sterben kann. Modern ausgedrückt ist die Vorstellung eines »Ich«, das diese Erfahrungen hat, ein Konstrukt, das der Buddha uns zu dekonstruieren rät, denn die Illusion eines getrennten Selbst ist die Quelle unseres beschwerlichsten Dukkha. Vielleicht geht das aber nicht damit einher, dass man irgendeine andere Realität erreicht, sondern offenbart nur die wahre Natur dieser Realität.

DAS TRANSZENDENZPROBLEM

Der Einfluss achsenzeitlicher Überlieferungen wird weiter abnehmen, je deutlicher sich zeigt, dass ihre Werkzeuge den moralischen Herausforderungen der Globalisierungsproblematik nicht gewachsen sind. Vor allem soweit diese Überlieferungen einen kosmologischen Dualismus und individuelle Erlösung betonen, kann man ihnen Gleichgültigkeit gegenüber der Integrität natürlicher und sozialer Systeme vorwerfen.

Loyal Rue, Everybody’s Story

Eine Dualität zwischen dieser unbefriedigenden Welt des Samsara und einem überweltlichen Ziel mag die ursprünglichen Ansichten des historischen Buddha zutreffend widerspiegeln oder auch nicht. Ähnliche Dualitäten findet man auch in vielen anderen spirituellen Überlieferungen, die etwa zur selben Zeit – in der sogenannten Achsenzeit, der Periode von circa 800 bis 200 v.u.Z. – entstanden sind. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers hat die Auffassung vertreten und bekannt gemacht, während dieser Geschichtsperiode seien voneinander unabhängig in China, Indien, Persien, Judäa und Griechenland die spirituellen Fundamente der Menschheit gelegt worden. Damals entstanden nicht nur der Buddhismus, sondern auch der Vedanta, Jainismus, Konfuzianismus, Daoismus, das Judentum sowie die vorsokratische griechische Philosophie und der Platonismus – und gemeinsam bilden sie heute die Grundlagen der wichtigsten Religionen, einschließlich des Christentums und des Islam.

Die abrahamitischen Glaubensrichtungen heben einen Schöpfergott (im Himmel) von unserer gefallenen Welt ab. Die Überlieferungen des Vedanta unterscheiden diese trügerische Welt der maya (Illusion) von Brahman, dem Grund des Universums. In beiden Fällen wird die Welt, wie wir sie gewöhnlich erfahren, im Vergleich mit einer transzendenten Realität abgewertet. Auch der frühe Buddhismus stützte sich nach allgemeinem Dafürhalten wie diese anderen Entwicklungen der Achsenzeit auf einen kosmologischen Dualismus. Statt des Gegensatzes zwischen Gott und seiner Schöpfung gab es den zwischen Samsara und Nirvana, und unsere Welt wurde auf ganz ähnliche Weise als ein Ort des Leids, der Begierde und der Verblendung gesehen und abgewertet. Wie im Vedanta und in den abrahamitischen Traditionen galt es gewöhnlich als höchstes Ziel buddhistischer Praxis, die Welt zu transzendieren. Erneut müssen wir aber fragen: Was ist mit »transzendieren« gemeint? Heißt das, in irgendeine andere Wirklichkeit zu fliehen, oder heißt es, zu erkennen, dass diese Welt eigentlich ganz anders ist, als wir bisher geglaubt haben?

Ein weiterer Aspekt des kosmologischen Dualismus dieser Traditionen ist die Auffassung, meine individuelle Erlösung oder persönliche Befreiung sei von deiner unabhängig. Wie das Zitat von Loyal Rue nahelegt, kann uns das Bestreben, ein Nirvana zu erlangen, das diese Welt des Samsara transzendiert, von den ökologischen und gesellschaftlichen Aufgaben ablenken, die sich uns gerade hier stellen. Warum sollen wir uns um das kümmern, was hier passiert, wenn unsere höchste Bestimmung doch anderswo liegt? Falls unser grundlegendes Dukkha aber auf der verblendeten Annahme eines Selbst beruht, das sich vom Rest der Welt getrennt wähnt, dann dürfen wir Erleuchtung nicht so auffassen, als würde jenes Selbst nun irgendeine andere Wirklichkeit erlangen. Wie wir sehen werden, kann man Erwachen gemäß einer Umschreibung von Dogen auch als ein Sich-selbst-Vergessen verstehen – als Loslassen des Selbstsinns und Erkennen der eigenen Nichtdualität mit der Welt. Diese Verwirklichung motiviert ganz natürlich zu verantwortlichem Tun für die Welt, denn man kann nunmehr das Wohl »anderer« nicht mehr vom eigenen trennen.

 

Trotz vieler Unterschiede zwischen den Überlieferungen der Achsenzeit zeigen sie bemerkenswerte Parallelen. Ganz allgemein unterschieden sich diese Weltanschauungen stark von Vorgängerkulturen wie denen Mesopotamiens oder Ägyptens. Dort hatte man geglaubt, die Götter kommunizierten mit den Menschen vor allem durch den König, Kaiser oder Pharao, der an der Spitze der sozialen Pyramide stand. Die Autorität dieser Herrscher war gleichermaßen heilig und weltlich, denn nur sie standen in unmittelbarer Beziehung mit den göttlichen Gefilden; faktisch galten die Herrscher oft als Götter oder gottähnlich. Zusätzlich zu ihren politischen Pflichten wirkten sie als Oberpriester und zelebrierten die Rituale zur Erhaltung der Harmonie zwischen der menschlichen und der himmlischen Ordnung – Feiern, die nur sie leiten durften. Dem Ägyptologen Bruce Trigger zufolge war der Pharao »der alleinige Vermittler, der den Göttern dienen und so den Fluss der Energieströme in die Welt erhalten konnte«. In Amerika war es nicht anders. Der Forscherin Lynn Foster zufolge galten die Mayakönige als »Kanäle, durch die übernatürliche Kräfte in die Menschenwelt geleitet wurden«.

Die Aktivität dieser heiligen Zwischenträger war unentbehrlich, um den Kosmos im Gleichgewicht zu halten. Die Mesopotamier glaubten, die Götter hätten sich die Menschen zu Sklaven erschaffen und die kosmische Ordnung würde gefährdet, wenn diese die Götter nicht mit Speisen (Opfern) und Wohnstätten (Tempeln) versorgten. Die Azteken waren dafür berüchtigt, dass sie ihren geweihten Opfern das noch schlagende Herz herausschnitten und dem Sonnengott opferten, um ihn auf seiner himmlischen Umlaufbahn zu halten; großes Unglück werde sich ereignen, falls er vom vorgesehenen Pfad abkam. Kurz gesagt kannten die Gesellschaften bis zur Achsenzeit im Allgemeinen eine Unterscheidung noch nicht, die uns heute selbstverständlich ist: die Trennung von religiöser und weltlicher Autorität. Sie glaubten, ihnen selbst komme eine wichtige Rolle in der Erhaltung der kosmischen Harmonie zu.

Mit der achsenzeitlichen Revolution wurde das anders. Sie formulierte neue Visionen der kosmischen und moralischen Ordnung, und dazu gehörte auch eine neue Beziehung zwischen dem Heiligen und jedem einzelnen Menschen. In der Tat brachte diese Beziehung erst das hervor, was wir heute »Individuum« nennen. Anstatt sich nur vermittelt durch einen Priesterkönig auf Transzendentes zu beziehen, hat seither jede und jeder eine eigene persönliche Beziehung zu Gott, Brahman oder dem Dao. In der Sprache des Buddhismus haben wir alle dieselbe Grundnatur wie der Buddha, und das bedeutet, wir haben dasselbe Potenzial zu erwachen. Zugleich ist damit ein Kreis der Empathie entstanden, dem alle angehören, die eine gleich gelagerte Beziehung mit dem Heiligen haben.

Der revolutionärste Aspekt dieser neuen Beziehung war ein spiritueller Anspruch, eine Erwartung, dass man sich selbst wandelt. Es genügte nicht mehr, die sozialen Pflichten zu erfüllen, indem man die hochheilige Rolle des Herrschers stützte. Das Transzendente verlangte von jedem Individuum, selbst Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. In den abrahamitischen Traditionen (vor allem im Judentum, Christentum und Islam) bestand dies vor allem in der ethischen Forderung, im Einklang mit Gottes Geboten zu leben. Hier ist aber zu beachten, dass dieser Anstoß, sich zu wandeln, von etwas außerhalb der Welt herrührt – und damit geht unvermeidlich eine gewisse Abwertung dieser Welt einher. Wenn Gott die Quelle alles Guten, allen Sinns und Wertes ist, dann folgt daraus doch wohl, dass es dieser Welt selbst daran mangelt. Und wenn das Aufhören der Wiedergeburt der Weg ist, Leiden, Begierde und Verblendung zu beenden, dann sind diese Gebrechen wohl zwangsläufig dieser Welt des Samsara eigen.

Zu einem Gott im Jenseits zu beten ist, als würde man durch Glas küssen.

Paul West

Im Gegensatz zur ethischen Ausrichtung (Gut versus Böse) der abrahamitischen Religionen betonten indische Überlieferungen eine kognitive Erkenntnis (Verblendung versus Erleuchtung) – diesem Unterschied werden wir uns im dritten Teil eingehender zuwenden. Die Überlieferungen des Samkhya-Yoga beispielsweise waren auf die Erkenntnis ausgerichtet, dass reines Bewusstsein von der materiellen Welt getrennt ist. Brahman, den Vedanta-Traditionen zufolge tiefster Seinsgrund, wurde zunehmend als grundverschieden von den besonderen Manifestation oder Formen, die man in dieser Welt erfährt, verstanden. Die Weisen verschwenden keine Zeit damit, eine letztlich unwirkliche Wirklichkeit zu reparieren. Erwachen heißt Erkennen oder Verwirklichen des wirklich Wirklichen, und das ist etwas anderes als dessen Erscheinungen.

»Gib mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln«, soll Archimedes gesagt haben. Historisch gesehen übte (unser Glauben an) Transzendenz eine solche Hebelwirkung aus. Sie bot den reflektiven Abstand – einen »höheren« Standpunkt –, der nötig ist, um sich selbst zu beurteilen und ändern zu können. Politisch hielt man es ebenso: Die Griechen wandten ihr neu entdecktes philosophisches Denken (eine andere Art Transzendenz) an, um ihre Gesellschaften kritisch einzuschätzen und umzustrukturieren; das berühmteste Beispiel ist die athenische Demokratie. In freier Übertragung einer These von Ernest Renan zum Übernatürlichen ist Transzendentes die Art und Weise, wie Ideales in menschlichen Belangen in Erscheinung tritt. Martin Luther glaubte beispielsweise, er gehorche Gottes Willen und dürfe deshalb auch die gewaltige Autorität und Macht der Kirche herausfordern. So schlug er seine fünfundneunzig Thesen an eine Kirchentür und erklärte: »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.« Die heutige Welt mitsamt unserer Sorge um Demokratie, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit wäre gar nicht denkbar ohne die in der Achsenzeit entwickelte Vorstellung von einer höheren, überwachenden »Anderwelt«.

Achsenzeitliche Denker … schufen alternative Ideologien, um gegen Herrschaft und Politik anzugehen und zu protestieren. Sie entwickelten moralische und rechtliche Systeme jenseits der vorherrschenden Militär- und Gesellschaftsstrukturen ihrer Zeit. Diese Systeme kritisierten den Status quo und boten ethische und oft auch religiöse Wahlmöglichkeiten, die in menschlichen Werten wie persönlicher Verantwortung gegenüber anderen, Güte, Tugend, aktivem Mitgefühl, Gerechtigkeit, Weisheit und Rechtschaffenheit wurzelten. Diese Relativierung des Staates und seiner Kulte brachte die menschliche Subjektivität und persönliche Moral zurück ins Zentrum der Religion.

Rita Nakashima Brock und Susan Brooks Thistlethwaite

Nichtsdestotrotz erwies sich die Vorstellung von einer anderen und besseren Welt für die einzelnen Achsenzeit-Traditionen auch als problematisch. Der Dualismus zwischen dem Transzendenten und dieser Welt wiederholte sich nun in uns zwischen unserem »höheren« Teil (der Seele, der Vernunft), der sich nach Erlösung aus diesem Jammertal sehnt, und dem »niederen«, erdgebundenen Teil (unserem Körper mit seinen Emotionen und Bedürfnissen). Neuere westliche Versionen dieser Hinterlassenschaft der Achsenzeit sind der Geist-Körper-Dualismus von René Descartes, dem ersten Philosophen der Neuzeit, sowie die Phantasien zeitgenössischer »Transhumanisten« über die Vermeidung des Todes durch Speicherung des Bewusstseins auf Silicon-Chips.