Prinz der Wölfe

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Z serii: Pathfinder Saga #1
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„Seht!“, schrie der Kutscher und deutete mit seiner Peitsche nach links. Mein Kopf ruckte herum und ich sah zwei Wölfe, die neben der Kutsche her rannten. Einer lief auf den Hinterbeinen wie ein Sprinter. Anstelle von Pfoten hatte er menschliche Hände, die eine Armbrust hielten, die er einem der gefallenen Wächter abgenommen hatte. Dieses beunruhigende Detail lenkte mich von einer anderen merkwürdigen Sache ab, die ich gerade bemerkt hatte: Der ausgestreckte Arm des Fahrers war nackt. Als ich mich wieder zu ihm umwandte, sah ich, dass er gänzlich nackt war, abgesehen von dem hohen Hut. Er ließ die Zügel und die Peitsche los und drehte sich zu mir um. Ich sah nicht Petru, sondern das grinsende Antlitz von Vili, dem Sänger der Sczarni.

Er schlug mir die Armbrust aus der Hand, gerade als ich den Abzug betätigte. Der Bolzen verschwand zwischen den Bäumen. Ich drückte mich nach vorn, um ihn von der Kutsche und unter die Räder zu schieben, doch er veränderte die Gestalt, während er sich wand. Als er aufstand, brachte er mich zu Fall und drückte mich gegen das Dach, während seine Grimasse sich zu geifernden Kiefern verbreiterte. Ich hieb ihm die Armbrust ins Maul, doch er riss sie mir aus der Hand und schleuderte sie davon.

Vili, nun ein Halbwolf, auf dessen nackter Haut sich neues Fell aufstellte, ging in die Hocke – nicht um zuzuschlagen, sondern um in Deckung zu gehen. Zu spät bemerkte ich, dass er mich übertölpelt hatte. Ich hörte eine Sehne einrasten, gerade als ich mich umdrehte, und sah, dass der Wolf mit den Menschenhänden auf mich zielte.

Ich holte mit meinem linken Arm aus. Desna lächelte, denn ich fing den Bolzen. Doch dann lachte die Göttin auch, denn das Geschoss steckte bis zur Feder in meiner Handfläche. Meine Hand war so gut wie unbrauchbar, doch zumindest war die silberne Spitze knapp vor meiner Brust aufgehalten worden.

Jemand rief meinen Namen, aber ich konnte nicht sagen, ob es einer der Wächter oder jemand aus der Kutsche war. Mit einem Satz erreichten wir den Rand der Senir-Brücke. Ich wäre vom Dach gestürzt, hätte Vili mit seinem Maul nicht meinen gesunden Arm gepackt. Er biss zu – hart.

Der Schmerz überzog die Welt mit Blut. Alles, was ich sah, war rot und schwarz. Ich schrie in Vilis halb hundeartiges Gesicht, doch er schreckte nicht länger vor dem Anblick meiner Zähne zurück. Seine Klauen durchschnitten von beiden Seiten die Luft, doch ich blockte sie mit den Ellenbogen ab. Mit einem meiner Sporen erwischte ich ihn am Arm, und er winselte – doch sein Maul blieb geschlossen, mein Arm saß fest. Seine Kiefer hätte genauso gut ein eiserner Schraubstock sein können.

„Radovan“, schrie der Prinzipal. Die Kutschentür öffnete sich, doch als die Kutsche sich in diese Richtung neigte, riss Vili mich wieder in die andere. Die Räder der Kutsche schlugen hart auf – Funken sprühten, als der Stahl auf den Stein der Brücke krachte.

Ich hatte keine Zeit, dem Prinzipal zu antworten. Ich konnte kaum meine Eingeweide vor Vilis Klauen schützen. Das Messer an meinem Rücken war nicht zu erreichen, genauso wie jene in meinen Stiefeln und Ärmeln. Der Werwolf brauchte nur noch zwei oder drei Mal mit dem Kopf zu rucken, und von meinem rechten Arm würde nichts anderes übrigbleiben als zerfetzte Sehnen. Meine linke Hand war noch immer von dem Armbrustbolzen gelähmt, und ich konnte nur noch zusehen, dass ich mich damit nicht selbst erstach.

Was mich auf eine Idee brachte.

Ich konnte meine Hand kaum spüren, ballte sie jedoch zu einer lockeren Faust und schlug aus der Hüfte heraus zu. Wir schrien gemeinsam auf, als der versilberte Bolzen in Vilis Unterkiefer, durch meinen Arm zwischen seinen Zähnen hindurch drang und schließlich das Gehirn des Werwolfs durchbohrte.

Dies hätte ihn auf der Stelle töten sollen, doch noch einmal stieß sich Vili mit den Beinen ab und warf uns vom Dach der Kutsche. Wir flogen an einem steinernen Gargyl vorbei, der auf einem Brückenpfeiler ruhte, so nahe, dass ich die Hand nach ihm hätte ausstrecken können, wenn nicht beide Arme an meinem Feind festgenagelt gewesen wären. Mit dem Gesicht nach unten hatte ich einen schönen Ausblick auf das schwarze Band des Flusses unter uns. Mein Bein streifte das Geländer, als wir hinüber fielen. Wir taumelten, und die Zeit wurde langsamer, während wir hinabstürzten. Zwei rote Sterne glänzten unter der Brücke, und eine orangefarbene Blüte öffnete sich, wo die Kutsche gewesen war.

Das Letzte, was ich sah, waren die Türen der roten Kutsche, die, umringt von einem feurigen Glorienschein, hinter mir ins Wasser fielen. Dann spürte ich die kalte Hand Pharasmas, die mich schlug wie ein Neugeborenes kurz vor dem ersten Schrei.

Kapitel fünf

Weidenweh

Ich konnte mich schon immer an jeden Traum erinnern.

Als Kind unterhielt ich meine Mutter und die Dienerschaft am Frühstückstisch, indem ich meine Schlummerfantasien nacherzählte, die mich zwei- oder dreimal pro Woche besuchten. Zu meinem siebten Geburtstag schenkte meine Mutter mir ein Tagebuch, gebunden in blaues Eidechsenleder, das knisterte, wenn ich meinen Finger über den Umschlag gleiten ließ. Sie bat mich, meine Schlafvisionen darin festzuhalten, die, wie sie mir sagte, Gaben der Göttin Desna waren. Zu meinem nächsten Geburtstag hatte ich die dreihundert Seiten gefüllt, und sie schenkte mir ein weiteres. Und so fuhren wir bis zu ihrem Tod fort, nach welchem ich meine Traumtagebücher zusammen mit dem letzten Rest meiner Kindheit beiseite schob. Auch wenn ich sie nicht länger aufschrieb, während meines ganzen Erwachsenenlebens blieben mir meine Träume jedes Mal frisch und lebendig im Gedächtnis, wenn ich erwachte.

Daher war es merkwürdig, mit dem Wissen in einem großzügigen Bett zu erwachen, dass ich aus einem beeindruckenden, jedoch unbekannten Traum erwacht war. Verwirrt durch die nie gekannte Erfahrung, lag ich da und starrte auf den seidenen Baldachin. Eine ewige Jagdgesellschaft ritt die bestickten Ränder entlang. Männer folgten Hunden, die Hirsche verfolgten, deren Flucht Wölfe anzog, die wiederum die Männer verfolgten. Dann erkannte ich, dass ich im Haus des Grafen Lucinean Galdana geruht hatte.

Ich zog die Decken beiseite und entdeckte, dass ich meine eigene Schlafbekleidung trug. Ich stand auf und suchte meinen Körper nach Wunden ab, fand jedoch nicht mehr als einen Kratzer. Irgendeine verschwommene Lücke verzerrte meine Erinnerungen daran, wie ich diese Zufluchtsstätte erreicht hatte. Wir waren auf der Flucht vor den Wölfen auf der Senir-Brücke gewesen. Die Bestien hatten einige der Wächter von ihren Pferden gerissen. Radovan stand auf dem Dach, und ich wollte hinaufklettern, um ihm zu helfen, doch ich hatte gezögert, da ich meinen Wunsch, ihm zu Hilfe zu kommen, gegen meine Pflicht abwägen musste, Tara und Kasomir zu beschützen. Ich erinnerte mich daran, wie ich meine Hand an die Tür gelegt hatte, und da war ein Geräusch, doch dann … von da an fehlten meine Erinnerungen.

Wie viel Zeit vergangen war, wusste ich nicht. War es erst der nächste Morgen? Unwahrscheinlich, wenn man die Distanz bedachte, die wir noch zurückzulegen hatten, als wir angegriffen wurden. Die Morgensonne schien durch die Fenster, die nach Osten und Süden zeigten. Ein großes Feuer knisterte im Kamin.

Ein Feuer war auch auf der Brücke ausgebrochen. Dessen war ich sicher. Es hatte eine Menge Feuer gegeben.

Ich ging zu einem Spiegel neben dem Waschbecken. Abgesehen von einem Bluterguss an der Seite meines Kinns gab es keine sichtbaren Wunden. Die Verletzung schien frisch zu sein und war bei Berührung immer noch schmerzempfindlich. Als der dumpfe Schmerz abgeklungen war, wurde ich mir der nagenden Leere in meinem Magen bewusst. Ich hatte das Gefühl, tagelang nichts gegessen zu haben.

Der Krug enthielt klares Wasser, also füllte ich das Becken auf und wusch mir den Sand aus den Augen. Mutter hatte diese Ablagerungen immer „Desnas Fußspuren“ genannt. Warum konnte ich an diesem Morgen nicht aufhören, an meine verstorbene Mutter zu denken? Ich hatte sie vor so langer Zeit verloren und niemals wieder solch einen Verlust erlitten.

Wo war Radovan? Wo waren die anderen Mitglieder unserer Reisegesellschaft?

Eine Durchsuchung des unbekannten Zimmers förderte mein Gepäck zutage. Ich bemerkte, dass der Kleiderschrank aus Zedernholz meine gesamte Kleidung enthielt, und nicht nur die, in der ich gereist war. Am Boden des Schranks lagen die Taschen, die meine persönliche Habe und meine Bücher enthielten, darunter auch meinen kleinen, tragbaren Schreibtisch und dieses Tagebuch. Die Vorsehung lächelte mir zu, wenn auch nur kurz.

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür unterbrach mich bei meiner Garderobe.

„Herein“, sagte ich.

Hinein schlüpfte eine kleine, junge Frau in den Farben der Galdanas, kornblumenblau und weiß. Sie war ungefähr fünfzehn Jahre alt und hatte genug Erfahrung im adeligen Haushalt, um zu versuchen, ihre Furcht zu verbergen, jedoch nicht genug, um damit Erfolg zu haben. Sie vollführte einen nervösen Knicks in dem Versuch, die Gebräuche aus dem Süden nachzuahmen, und starrte auf den Boden zu meinen Füßen.

„Was gibt es, Mädchen?“

„Mein Herr, ich bin hergeschickt worden, um mich um Eure Bedürfnisse zu kümmern.“

„In der Tat“, sagte ich und musterte sie. Ich erinnerte mich ausreichend an die ustalavische Gastfreundschaft, um zu wissen, dass sie sich nicht großartig von der chelischen unterschied, was die Geschlechterrollen betraf. Wenn Nicola nicht verfügbar war, so wurde erwartet, dass der Gastgeber einen männlichen Diener schickte, um mir bei meiner Toilette zu helfen. Ein junges Kammermädchen mit einer solch mehrdeutigen Aufgabe zu betrauen, war eine Einladung zur Indiskretion. Selbst wenn der Graf ein Mann mit liberalen Moralvorstellungen war, war es doch keine geringe Kränkung anzunehmen, ich würde seine Indiskretionen teilen.

 

„Wie ist dein Name?“, fragte ich.

„Anneke“, antwortete sie mit einem weiteren Knicks.

„Anneke, ich wünsche, mit deinem Herren zu sprechen“, sagte ich, wohl wissend, dass sie nicht in der Lage sein würde, meine Fragen zu beantworten. Auch meldete sich mein Magen mit einem peinlichen Zwischenruf zu Wort. „Außerdem wünsche ich, mein Frühstück einzunehmen.“

Sie vollführte unnötigerweise erneut einen Knicks. „Mein Herr, der Herr Kasomir ist in Kavapesta“, sagte sie. „Und die Herrin Tara verbleibt in ihren Gemächern.“

„Was ist mit Graf Galdana?“

„Er ist seit den letzten fünf Wochen fort, mein Herr“, antwortete sie. Nach einem Augenblick des Zögerns fügte sie hinzu: „Und zwei Tagen.“

„Wann wird er zurückerwartet?“

„Mir wurde gesagt, dass er vor dem Schnee zurückkehren soll, wie es seine Gewohnheit ist.“

„Seine Gewohnheit?“

„Seine Exzellenz jagt jeden Herbst in den westlichen Tälern.“

Ich erinnerte mich, in Caliphas einige Gerüchte über diese Verschrobenheit gehört zu haben. Unter Galdanas Standesgenossen gab es einige Debatten darüber, ob seine Expeditionen in die am wenigsten bewohnten Gebiete seiner Grafschaft Zeichen einer ungewöhnlichen Hingabe für seine Untertanen, schlichtweg Naivität oder Wahnsinn waren. Selbstverständlich war für gewisse Adlige in Ustalav der Unterschied zwischen diesen drei Möglichkeiten sehr gering.

„In diesem Fall“, sagte ich, „schicke den Hausdiener in den Speisesaal.“

„Ja, Exzellenz.“ Sie neigte kurz den Kopf und verschwand geduckt zur Tür hinaus.

„Einen Moment“, sagte ich und zog meine Stiefel an. „Du musst mir den Weg zeigen.“

Einen Augenblick lang waren ihre Gesichtszüge vor Überraschung leer, als sich unsere Augen trafen. „Natürlich, mein Herr.“

Sie führte mich durch das unbekannte Haus. Als wir die Stufen ins Erdgeschoss hinuntergingen, entdeckte ich draußen einen Mann. Er trug schwere Handschuhe und hatte ein langes, feuchtes Halstuch um sein Gesicht geschlungen. Er kniete neben einer gestürzten Nachtschwalbe und legte sie in einen Leinensack. Bevor er aufstand, vollführte die Spitze seines Daumens die Spirale der Pharasma über seinem Herzen.

Ich hielt neben dem offenen Fenster inne und beobachtete ihn, wie er seinen Rundgang um das Haus fortsetzte. Zwanzig Schritte weiter kniete er sich erneut nieder, um einen weiteren toten Vogel aufzuheben. Der Sack hing schwer an seiner Seite.

Neben mir zog Anneke verstohlen die Spirale der Pharasma über ihrem Bauch.

Ich nickte in Richtung des jungen Mannes im Hof und fragte: „Dein Ehemann?“

„Mein Ehemann!“, sagte sie. „Oh, nein, mein Herr. Ich bin nicht verheiratet.“

„Natürlich nicht“, sagte ich und verbarg meine Überraschung. Nun war meine unausgesprochene Frage die, ob das Kind, das sie trug, Graf Galdanas Bastard war.

Tara erwartete mich in einem von Sonnenlicht durchfluteten Speisesaal. Hinter ihr gaben mit Fenstern versehene Türen den Blick auf das östliche Panorama frei. Große, weiße Wolken zogen über den Himmel, und ihre Formen spiegelten sich im Fluss. Jenseits des Wassers, in der Ferne kaum auszumachen, lag die Stadt Kavapesta. Ich hatte sie noch nie von diesem Aussichtspunkt aus gesehen, doch ich erkannte die zwiebelförmigen Türme ihrer Tempel von einem früheren Besuch.

„Im Namen meines Vetters, des Grafen Galdana, heiße ich Euch in Weidenweh willkommen“, sagte Tara. Sie vollführte einen Knicks in der Art meines Landes, jedoch tiefer, als ich es seit meinem letzten Besuch im Ballett gesehen hatte. Da ich wusste, dass ihre Standesgenossen in Caliphas bestrebt gewesen sein mussten, ihr die Bräuche auszutreiben, die sie in Vudra gelernt hatte, rührte mich diese Geste. „Wir schulden Euch unser Leben, Euer Exzellenz.“

Ich erwiderte ihre Höflichkeit mit einer förmlichen Verbeugung. „Obgleich mich nichts mehr erfreuen würde, als zu wissen, Euch bei Eurer sicheren Ankunft unterstützt zu haben, bin ich ratlos, was die Einzelheiten betrifft.“

Tara verzog ihr Gesicht zu einer hübschen kleinen Grimasse und blickte auf eine Stelle oben auf meinem Kopf, obwohl ich dort keine Wunde fühlte. „Das haben wir befürchtet, Euer Exzellenz.“

Ich hob eine Hand. „Bitte“, sagte ich. „Erweist mir die Ehre, mich mit meinem Vornamen anzusprechen: Varian.“

Sie vollführte einen weiteren Knicks, wiederholte meinen Namen jedoch nicht. So sehr ich ihre gute Erziehung auch schätzte, meine eigene war über die Jahre etwas abgenutzt, und ich hatte für einen Morgen genug Höflichkeit ertragen.

„Wo sind meine Bediensteten?“, fragte ich.

Sie wandte den Blick ab, und ich kannte die Antwort, bevor sie sie mir gab. „Ich bedauere, Euch mitteilen zu müssen, dass sie nun auf Pharasmas Acker liegen.“

„Allesamt?“ Die Frage blieb mir in der Kehle stecken.

„Die Männer des Grafen haben nicht alle Eurer angeheuerten Wächter gefunden“, sagte sie, erbleichend. „Das heißt, ihre Leichen. Doch Kasomir sagte mir, Eure Diener seien bei einem Dorf nahe der Senir-Brücke beigesetzt worden.“

Eine kalte Schwere legte sich bei dieser Nachricht über das Gespräch, und ich bereute die Ungeduld, die mich veranlasst hatte, die junge Frau über ein solch unangenehmes Thema zu befragen. „Vergebt mir“, sagte ich. „Ich sollte diese Angelegenheit mit Kasomir besprechen. Man sagte mir, er sei in der Stadt.“

„So ist es, Euer … Varian“, verbesserte sie sich. „Bei unserer Rückkehr erfuhren wir, dass Kavapesta von einer Seuche heimgesucht wird. In Abwesenheit seines Onkels hat Kasomir den Fluss überquert, um sich mit den Herren der Stadt zu beraten. Er wird noch vor Einbruch der Nacht zurückkehren.“

„Ich verstehe.“ Zweifellos hatten die unangenehmen Geschehnisse ihre schwache Konstitution bereits angegriffen, sodass ich, trotz meiner aufgewühlten Emotionen, nicht weiter in sie drang. Der Hausdiener ersparte es mir, ein unverfänglicheres Thema zu suchen, indem er, gefolgt von anderen Bediensteten, die abgedeckte Mahlzeiten auf einem Tablett trugen, hereinkam. Der Hausdiener half Tara dabei, Platz zu nehmen, und sie sagte: „Hab Dank, Felix.“ Er schob den Stuhl für mich zurück, bevor er den anderen Dienern die Speisen abnahm und sie vor uns platzierte. Er enthüllte sie gleichzeitig. Ein Trio von pochierten Eiern in Sahnesoße lag auf Dreiecken von geröstetem Brot neben gebratenen Kartoffeln, die mit Knoblauch und Rosmarin angemacht waren, und das Gericht war mit einem glänzenden Häufchen Hechtkaviar garniert. Es sah hervorragend aus, doch das Aroma kam mir seltsam vor. Tara genoss den Duft.

„Graf Galdana beschäftigt den besten Koch im westlichen Ustalav“, sagte sie. Sie hatte sich gezwungen, fröhlich zu klingen, doch ihre Augen waren schwer von Mitgefühl oder Erschöpfung oder vielleicht von ihrem eigenen Kummer. Ich fragte mich, ob sie ebenso viel Heimweh empfand wie ich, der nun der einzigen beiden Begleiter beraubt war, die ich aus Cheliax mitgebracht hatte. Sie spießte ein Ei auf eine silberne Gabel und kostete es, während sie ihre Augen vor Wonne schloss.

Die Bestätigung des Todes meiner Diener hatte mir den Appetit verdorben. Ich bereute es, Nicola in meine Dienste gestellt zu haben, um solch eine lange Reise zu unternehmen, nur damit er in einem fremden Land starb. Mir tat es auch um die Männer leid, die ich angeheuert hatte, um uns zu beschützen. Natürlich, sie waren Söldner gewesen und hatten das Risiko gekannt, aber sie waren immer noch menschliche Wesen, alles anständige Männer, soweit ich sie kennengelernt hatte.

Ebenso wie die Söldner hatte Radovan von dem Augenblick an, als ich ihn in meine Dienste nahm, gewusst, dass er eines Tages gezwungen sein würde, sein Leben zu geben um meines zu verteidigen. In den ersten Jahren unserer Zusammenarbeit hatte ich erwartet, dass dieser Augenblick jederzeit kommen könnte. Wir hatten gemeinsam viele Gefahren durchgestanden, und immer hatte er sich ohne Zögern zwischen mich und die Bedrohung gestellt. Meiner Sicherheit wegen hatte er Prügel, Messerstiche und sogar Verbrennungen davongetragen, die einen Leibwächter rein menschlichen Blutes in Brand gesetzt hätten. Ich hatte angefangen, ihn für unverwüstlich zu halten.

Nun konnte ich nicht umhin, mir die letzten Augenblicke seines Lebens vorzustellen. Hatten die Wölfe ihn geholt? Was war mit diesem Feuer, an das ich mich halb erinnerte? Es hatte ihn mit Sicherheit nicht getötet, da er sich in der Vergangenheit als ungewöhnlich widerstandsfähig gegen Feuer erwiesen hatte, selbst für jemanden mit teuflischer Herkunft. Dennoch bedeutet widerstandsfähig nicht ­immun, und er konnte durch ausreichend Hitze verbrannt werden, wenn sie zum Beispiel durch Magie entstand. Ich betete, dass er zumindest nicht sehr gelitten hatte, doch rückblickend schien es, dass er den Großteil seines Lebens damit zugebracht hatte auf die eine oder andere Art Schmerz zu ertragen. Er hatte ein aufrichtiges Herz, und auch wenn er es bisweilen zu leicht verschenkte, schien er die meiste Zeit in meinen Diensten glücklich gewesen zu sein.

„Ihr solltet Euren Hunger stillen, Varian“, sagte Tara. „Den Toten können wir nicht mehr helfen.“ Ich erkannte die Weisheit in ihrem Rat, obgleich ich sie nicht fühlte. Es war besser, für die Notwendigkeiten der Gegenwart zu leben, als im Schmerz der Vergangenheit zu versinken.

Ich erwiderte ihre Höflichkeit mit einem Lächeln, das ich nicht wirklich empfand, und nahm einen Bissen des Frühstücks dieses „besten Kochs im westlichen Ustalav“ zu mir. Er löste sich auf meiner Zunge auf wie verwesendes Fleisch, während seine Fäulnis meine Kehle hinunter und meine Nasenhöhlen hinauf drang. Ich schaffte es kaum, rechtzeitig die Serviette zum Mund zu führen, um mich selbst daran zu hindern, das üble Zeug zurück auf den Teller zu spucken.

„Exzellenz!“, keuchte Tara. Sie sah eher erstaunt als beleidigt aus. Ich wandte mich ab um ihr den Anblick zu ersparen, wie ich den Inhalt meines Mundes mit der vormals exquisiten Serviette wegwischte. Es reichte nicht aus, ihn von dem Geschmack zu befreien. Ich trank aus meinem Kelch, doch sofort verdarb die restliche Fäulnis das Wasser vollständig, sodass ich nicht zu schlucken wagte. Ich eilte durch die Glastüren hinaus und spuckte das scheußliche Zeug aus. Felix folgte mir mit einem weiteren Kelch und einem Mundtuch nach draußen. Schluck auf Schluck reinigte ich langsam meinen Mund, bis ich meinen Würgereflex unter Kontrolle gebracht hatte.

Ich drehte mich um, um eine Entschuldigung hervorzubringen, und sah, dass Tara sich zurückgezogen hatte, um mir weitere Beschämung zu ersparen. Trotz ihrer Güte erfüllte mich heiße Scham, die sich zu dem kalten Gefühl des Verlustes gesellte, ohne dieses auszugleichen. Felix stand diskret in der Nähe, bis ich ihn ansprach.

„Ich werde etwas frische Luft schnappen gehen“, sagte ich.

„Vielleicht wünschen Euer Exzellenz ein anderes Mahl?“, fragte er. Er nickte in Richtung eines mit Moos bewachsenen Pavillons in einem nahe gelegenen Hain. „Vielleicht in der Rotunde?“

„Etwas Obst wäre wohltuend“, antwortete ich. „Keine Eier.“

Felix verneigte sich und zog sich in Richtung des Herrenhauses zurück. Ich nutzte die Gelegenheit, mir die Beine am Ufer zu vertreten, entlang dessen sich dunkle Weiden dem Fluss zuneigten und ihre Flechten ins Wasser tauchten. Der Strom erzeugte die Illusion, die bewaldeten Inseln in seiner Mitte seien Boote, in denen die Helden der Ulfen beigesetzt wurden.

Nach Süden hin erhob sich düster das verfluchte Gebirge von ­Ulcazar. Ich würde diesen Ort auf ewig dafür hassen, dass er das Leben meiner Diener genommen hatte, besonders das Radovans. Abgesehen von seiner Verstimmung in letzter Zeit hatte unsere Zusammenarbeit lange gewährt und war größtenteils zum gegenseitigen Vorteil gewesen, obgleich ich vor diesem Tage nicht viele Gedanken daran verschwendet hatte. In den besten Zeiten sah ich in ihm mehr als nur einen Diener, doch die Ungleichheit unserer Herkunft machte eine Freundschaft natürlich unmöglich. Wenn ich doch nur von Anfang an die nötige Distanz gewahrt hätte, dann würde ich seinen Verlust jetzt nicht dermaßen betrauern.

Zu sterben, wenn man seiner angestammten Heimat so nahe gekommen war, schien eine besonders grausame Ironie des Schicksals zu sein. Ich hatte niemals das Heimatland meines Vaters in Kyonin besucht. Die Elfen heißen keine Halbblüter in ihren Landen willkommen, die sie selbst vor so langer Zeit verließen, bevor sie zurückkehrten, um sie erneut zu beanspruchen. Vielleicht hatte der Tod Radovan davor bewahrt, von seinem eigenen Volk zurückgewiesen zu werden.

 

Wie als Antwort auf meine Gedanken donnerte es in der Ferne. Weit im Westen braute sich eine Sturmfront über den Virlychbergen zusammen. So war es auch das letzte Mal gewesen, als ich diese gequälten Bergspitzen betrachtet hatte. Grausame Magie verheerte noch immer jenes verdorbene Terrain, die Echos von Zaubern, die einst ganze Legionen vernichtet hatten und nun die Seelen ihrer besiegten Feinde heimsuchten. Selbst durch ihren endgültigen Sieg konnten die Armeen der Menschen und Zwerge den Wispernden Tyrannen nur einsperren, nicht vernichten. Manche in Ustalav sagen, die Stürme seien seine Träume.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder meiner unmittelbaren Umgebung zu. Selbst an chelischen Standards gemessen war Gut Weidenweh ein großes und sehr altes Gebäude. Es war größtenteils aus behauenem, graublauen Sandstein erbaut, und seine Giebel aus grauem Schiefer verliehen ihm eine bestimmte Art von Pracht in einer ansonsten ländlichen Umgebung. Anders als bei den Gutshäusern im Süden verschmolzen seine Gärten unmerklich mit der sie umgebenden Vegetation und schienen an ihren spektakulärsten Punkten nichts weiter als glückliche Launen der Natur zu sein. Das Pförtnerhaus, die Quartiere der Dienerschaft, ein großer Stall und mehrere abgeschiedene Pavillons genossen alle den Schutz schattenspendender Bäume. Bestände von Pappeln, Eschen, Linden und Birken waren gestutzt, aber nicht in militärischer Ordnung umgepflanzt worden, wie es die Gewohnheit der Gärtner in Egorian war. Ich fand diese friedliche Übereinkunft zwischen Zivilisation und Wildnis höchst ansprechend, doch gab es eine auffallende Ausnahme zu dieser Regel: Im Nordwesten lag das außergewöhnlichste Heckenlabyrinth, das ich je gesehen hatte. Über seinen Abgrenzungen erhoben sich die Köpfe fantastischer Topiari. Unter den am nächsten stehenden entdeckte ich das Haupt eines Hirschbocks, eines Bären und eines grotesken Ogers. Solche Spielereien hätten mich in meiner Jugend verzaubert, und um ehrlich zu sein, ich empfand immer noch Freude daran, solche einfachen Irrwege zu erforschen, wenn ich auf ein Labyrinth stieß, das ich zuvor noch nicht gesehen hatte. Ich entschied, nach dem Frühstück einen besseren Aussichtspunkt von den westlichen Räumen aus aufzusuchen.

Meine Besichtigung führte mich an einigen Dienern vorbei, die für den Außenbereich zuständig waren. Zwei flachsblonde Burschen, offensichtlich Brüder, fegten das leere Kutschenhaus aus. Sie beobachteten mich aus den Augenwinkeln, überlegten wohl, ob sie ihre Kappen ziehen und mir ihre Aufwartung machen sollten. Ich entdeckte kein Anzeichen für eine Kutsche in dem Bauwerk und sorgte mich, was aus meiner geworden war. Zum ersten Mal seit Beginn unserer Bekanntschaft wartete ich ungeduldig auf Kasomirs Rückkehr.

Hinter dem Kutschenhaus in einer Koppel richtete ein strammer Pferdeknecht zwei ausgezeichnete Hengste ab. Durch die offenen Türen des Stalles sah ich sechs weitere gleichsam herrliche Tiere im nächstgelegenen Flügel des L-förmigen Gebäudes. Ein Zwinger war außen angebaut worden, dessen Abschnitte von drei riesigen Hunden bewacht wurden, die mich musterten, als ich vorbeiging. Zwei von ihnen waren ausgewachsene, ustalavische Wolfshunde, die Brustkörbe so mächtig wie die von Doggen, jedoch mit längeren Beinen und einem dichten, grauen Fell. Beide hatten herunterhängende Schnauzer über ihren vierkantigen Mäulern, und ihre Ähnlichkeit mit bestimmten Adligen Ustalavs hätte etwas Lachhaftes gehabt, wäre meine Laune nicht so getrübt gewesen. Der dritte Hund war eine jüngere Verkörperung der älteren, dessen adultes Fell sich erst noch entwickelte und dem der Schnauzer seiner Eltern fehlte. Er würde beide übertreffen, wenn er erst einmal ausgewachsen war. Die Ohren des Welpen stellten sich auf, als bellende Laute vom Fluss her zu hören waren, wo seine Kameraden spielten. Nach einem neidischen Blick in ihre Richtung wurde er wieder wachsam und hielt seine Augen auf den Fremden gerichtet, der das Land seines Herrn durchstreifte. Ebenso wie seine Eltern ­würde auch er einmal ein Wächter werden.

Als ich meinen Rundgang beendet hatte, erwartete Felix mich in der nördlichen Rotunde. Er verneigte sich und rückte meinen Stuhl zurecht.

„Die Herrin Tara bat mich, Euch ihre Entschuldigung für ihre Abwesenheit mitzuteilen“, sagte er. „Sie hofft, Euer Spaziergang hat Euren Appetit wieder angeregt.“

„Richte ihr meinen Dank für ihre Rücksichtnahme aus“, antwortete ich und versuchte, nicht zu beklommen auszusehen, als er das Frühstückstablett und damit eine Ansammlung von Melonenscheiben, Beeren und dampfenden Brötchen aufdeckte. Felix sah zu, wie ich einen Bissen kostete. Er seufzte hörbar, als er bemerkte, dass ich zufrieden war.

„Perfekt“, sagte ich, als er eine Tasse Tee eingoss.

„Habt Dank, Exzellenz“, sagte er. „Gibt es noch etwas, das ich Euch bringen kann?“

„Nein“, antwortete ich. „Du kannst mir jedoch einige Fragen beantworten.“

„Natürlich, Euer Exzellenz“, erwiderte er. Ich konnte nicht umhin, einen Schatten des Widerstrebens über sein Gesicht huschen zu sehen.

„Wann erwartest du, dass der Graf zurückkehrt?“, fragte ich. „Und sage nicht ‚vor dem Schnee‘.“

Er nickte. „Wir erwarten, dass der Graf – genau wie der erste Hauch des Winters – innerhalb der folgenden Woche zurückkehrt. Vergebt mir, Exzellenz. Die Dauer der Herbstjagden meines Gebieters variieren von Jahr zu Jahr.“

Obgleich sie mich nicht zufriedenstellte, war die Antwort nicht schlechter, als ich es verdiente, der ich die Gastfreundschaft eines Herrn ausnutzte, der nicht einmal von meinem Besuch in Kenntnis gesetzt worden war. Dennoch gab es noch viel, was ich während seiner und der Abwesenheit seines Stellvertreters, Kasomir, in Erfahrung bringen konnte. „Erzähle mir von dieser Seuche in Kavapesta.“

„Herr Kasomir ist aufgebrochen, um mehr darüber in Erfahrung zu bringen, doch wie wir gehört haben, hat sie Dutzende befallen. Mehrere sind verstorben, doch die Priester der Pharasma haben die Würdigsten unter den Kranken gerettet.“

Er musste nicht klarstellen, dass unter den Geretteten die großzügigeren Geldgeber der Kirche waren. Wo auch immer die Priester ihre göttliche Heilung dem Volk zuteilwerden ließen, gab es immer dieselbe Hierarchie.

„Ich habe an diesem Morgen einen Mann die Körper toter Vögel aufsammeln sehen“, sagte ich.

„Odav, Euer Exzellenz“, sagte der Hausdiener. „Er ist der Gärtner meines Herrn Galdana.“

„Ja, ja“, gab ich zurück. „Aber mich interessiert eher der Grund, aus dem die Vögel gestorben sind.“

„Selbstverständlich. Vergebt mir, Exzellenz, aber ich kenne den Grund nicht. Es ist ein neues Phänomen.“

„Aber man nimmt an, dass es mit der Seuche zusammenhängt?“

Er hob die leeren Handflächen. „Vielleicht kehrt Herr Kasomir mit der Antwort auf diese Frage zurück, Euer Exzellenz. Bis dahin müssen wir jedwede kluge Vorsichtsmaßnahme ergreifen.“

„Ich verstehe“, sagte ich. „Habt ihr, abgesehen vom Einsammeln der toten Vögel, ansonsten keine weiteren Schritte unternommen, damit diese Seuche sich nicht verbreitet?“

„Euer Exzellenz, Fährfahrten sind untersagt, ausgenommen mit Erlaubnis durch den Bürgermeister oder, in Graf Galdanas Abwesenheit, Herrn Kasomirs. Die Bediensteten sind an Weidenweh gebunden, welches bisher noch nicht betroffen war.“

„Sehr gut“, sagte ich. „Wann ist unsere Gesellschaft angekommen?“

„Gestern Morgen, Exzellenz“, antwortete er. „Wenn ich es auch so verstehe, dass die Zeit, in der Ihr von der Senir-Brücke aus hierher gebracht wurdet, noch einen weiteren Tag betrug.“