Prinz der Wölfe

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Z serii: Pathfinder Saga #1
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„Gräfin Caliphvaso sieht sehr gesund aus“, meinte er.

„Allerdings“, bestätigte ich.

„Wenn ich recht informiert bin, kennt Ihr sie seit geraumer Zeit.“

„Dem ist so. Wir begegneten uns, als ich auf meinem Weg zur Universität von Lepidstadt war, um einige Nachforschungen anzustellen.“

„Ah, dann müsst ihr mit Meister Nagrea bekannt sein, dem Fechtlehrer.“

Nun verstand ich, in welche Richtung Kasomir die Unterhaltung zu lenken beabsichtigte. Als ich an der Universität weilte, überredeten mich einige meiner Kommilitonen dazu, an einem traditionellen Brauch zur Feier ihres Abschlusses teilzunehmen. Nach der Komplettierung ihres Fechtunterrichtes bringen die Studenten ihre Rapiere und große Mengen Wein auf eine hochgelegene Klippe über dem Fluss. Dort stellen sie sich nacheinander mit ihren Fersen am Rand des Abgrundes auf und tragen dabei nur ein stählernes Visier, um ihre Augen zu schützen. Einer nach dem anderen prüfen ihre Kameraden ihre Kampffertigkeit und ihren Mut. Die Herausforderer müssen sich zurückziehen, sobald der Verteidiger ihnen eine Wunde, üblicherweise einen leichten Kratzer am Arm, zugefügt hat, doch erst nachdem der Verteidiger einen Streich im Gesicht erlitten hat, erlaubt ihm die Ehre, seinen Posten zu verlassen. Die Kameraden des Siegers erheben ihre Gläser auf ihn und gießen Wein auf die frische Wunde, um sicherzustellen, dass eine Narbe zurückbleibt. Unter den Adligen von Ustalav ist die Lepidstadtnarbe berühmter als ein gräfliches Siegel.

„Nein“, antwortete ich. „Eventuell fand mein Besuch vor seiner Amtszeit statt.“

„Ah“, machte Kasomir und musterte mein Gesicht. Er hatte zweifellos von Anfang an bemerkt, dass ich weder die berühmte Narbe noch ein Schwert trug. Versuchte er, mich zu provozieren? Es schien mir eine solch plumpe List zu sein, dass ich eine dermaßen offensichtliche Erklärung anzweifelte, dennoch sagte er nichts mehr, bis wir am Mittag eine Rast einlegten.

Kasomir begleitete seine Base bei einem Spaziergang rund um unser Lager am Straßenrand, während Nicola die Zubereitung eines kalten Mittagessens in die Wege leitete. Ich fand Radovan unter den Wachmännern, die Nicolas Kommandos entgangen waren. Die Einheimischen brachten ihm varisische Redewendungen bei, während sie sich ausstreckten, um die Schmerzen der Reise zu lindern. Zunächst war ich enttäuscht zu hören, dass die meisten dieser Ausdrücke Prahlereien und Beleidigungen in ländlichem Dialekt waren, die den Grundlagen des sauberen Varisisch zuwiderliefen, welches ich versucht hatte, meiner Dienerschaft während unserer Reise von Cheliax nahezubringen. Jedoch würde sich der vulgäre Dialekt für Radovan zweifelsohne als nützlich erweisen, wenn er mit den niederen Klassen in Kontakt kam.

Ich sah zu, wie Radovan einen seiner berühmten Tricks vorführte. Er und Grigor, der langhaarige Bogenschütze, standen ungefähr zwanzig Schritte voneinander entfernt, jeder leicht versetzt vor einer Birke, und beide hielten ein Messer aus Radovans Stiefelschäften seitlich in der Hand. Seit ich darauf bestanden hatte, sie als Vorbereitung für unsere Expedition versilbern zu lassen, beschwerte sich Radovan darüber, dass die Balance verlorengegangen sei, und hatte bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Werfen mit ihnen geübt. Auf dem Boden zwischen ihnen lagen einige Silbermünzen – ihr Einsatz. Luka, der an der Seite stand, zählte rückwärts: „Drei … zwei … eins!“

Gleichzeitig warf jeder sein Messer in Richtung des Baumes des anderen. Radovans drang zwei Zoll tief in das Birkenholz ein, und nur einen Augenblick später fing er das Messer seines Gegenübers auf und schleuderte es zurück. Nur einen Zoll über dem ersten Messer blieb es zitternd stecken.

„Ein kleiner Trick, den ich unten in der Aalgasse gelernt habe“, erklärte Radovan ihnen auf Taldani.

Die Wächter murmelten anerkennend, sogar Grigor, der seine Wette verloren hatte.

Ich trat vor, um mitzuteilen, dass ich es vorzog, Kavapesta mit der gleichen Anzahl Finger zu erreichen, mit der wir Caliphas verlassen hatten, doch Radovan kam mir zuvor.

„Hört mal, Prinzipal“, sagte er. „Die haben mir noch ein bisschen Varisisch beigebracht: Ich bin größer, als ich aussehe. Mit mir ist nicht zu spaßen.“

Die Ustalaver lachten. „Guter Akzent“, sagte ich. „Die Redewendung bedarf allerdings noch des Feinschliffs.“

„Größer, als ich aussehe“, wiederholte er unter noch mehr Gelächter. Die Männer mochten ihn, dennoch fragte ich mich immer noch, wie fähig sie waren.

„Solange ihr Männer euer Training fortführt, seid doch so nett und erheitert mich mit einer Demonstration“, bat ich.

„Was wollt Ihr sehen?“, fragte Radovan. „Bogenschießen? Nahkampf?“

„Schwertkampf“, erwiderte ich.

„In Ordnung“, sagte er. „Anton, Luka!“ Der kahle Soldat und der Pferdedieb traten vor. „Zeigt dem Prinzipal, was ihr könnt“, sagte er auf Taldani und fügte auf Varisisch hinzu: „Nicht töten oder den Kopf schneiden. Ist zum Bessern.“ Er hielt eine Goldmünze hoch, wohl wissend, dass ich sie bei seinem nächsten Zahltag ersetzen würde.

Anton und Luka brauchten keinen weiteren Anreiz. Sie zogen ihre Waffen und traten aufeinander zu. Die Parierstange von Antons Schwert trug das königliche Wappen, die Waffe eines Veteranen. Luka trug einen Säbel, den er vermutlich bei einem Glücksspiel am Hafen gewonnen hatte. Sie gingen in die Hocke und ließen ihre Klingen einige Male aufeinanderprallen. Anton parierte einen Stoß gegen seinen Arm und konterte, wobei er Lukas Oberarm ritzte.

Radovan schüttelte den Kopf. „Das war erbärmlich“, sagte er zu Luka. Er warf Anton die Münze zu, doch ich fing sie in der Luft auf.

„Ich habe nicht um ein Schauspiel gebeten“, sagte ich. „Ich möchte sehen, ob ihr kämpfen könnt. Radovan, nimm Lukas Platz ein.“

„Kommt schon, Prinzipal“, sagte er. „Ihr wisst, dass ich nicht gut mit dem Schwert bin.“

Es stimmte, dass ich Radovan niemals mit einem Schwert in der Hand gesehen hatte, das er nicht zuvor einem Angreifer abgenommen hatte, und in diesen Fällen hatte er die Waffe entweder beiseite geworfen oder ihren Knauf dazu verwendet, seinen Gegner niederzuschlagen. Er bevorzugte den Kampf auf sehr kurze Distanz.

„Von mir aus“, sagte ich und legte meinen Mantel ab. „Leih mir deine Klinge, Luka!“

Der Wachmann zögerte kurz, bevor er mir seine Waffe übergab und sich zurückzog. Ich erspürte ihr Gewicht und durchschnitt einige Male die Luft. Es war keine ideale Waffe für ein Duell.

Anton hielt eine Hand hoch. „Bitte, Herr“, sagte er. „Ich möchte Euch keinen Schaden zufügen.“

„Zehn Goldstücke“, sagte ich, „wenn du mir einen Kratzer beibringst.“

„Zehn!“, sagte er begeistert. Er hob seine Waffe.

Plötzlich fühlte ich mich wie ein Narr. Es war viele Jahre, vielleicht sogar mehr als ein Jahrzehnt her, seit ich regelmäßig geübt hatte. Ich hatte eine exzellente Lehre genossen, doch dies war auch Jahrzehnte her, und einer der vielen Gründe, weswegen ich Radovan in meinen Diensten habe, ist, dass ich eine Abneigung dagegen habe, mich zu schlagen.

Doch jetzt, was tat ich hier? War es so wichtig, Kasomir zu zeigen, dass mich die fehlende Lepidstadtnarbe nicht zum Eunuchen machte? Mir von diesem Mietling einen Kratzer beibringen zu lassen, wäre mehr als ein ausreichender Beweis dafür, dass ich nicht länger ein Schwertkämpfer war.

Anton schlug nach meinem Knie, doch ich parierte und zog mich zurück. Er folgte, warf Radovan jedoch einen fragenden Blick zu. Ich antwortete, indem ich seine Klinge aus dem Weg schlug und die Schulter seines Führungsarmes angriff.

Anton wehrte meine Klinge mit der Parierstange ab, während er sich zurückzog. Ich griff weiter an, band seine Klinge mit einem kleinen Kreis, bevor ich einen Streich in die entgegengesetzte Richtung führte, um seinen Arm zu treffen. Die Spitze meiner Klinge schnitt in den ledernen Armschutz an seinem Handgelenk, doch ich hatte ihn nicht verletzt.

„Vielleicht ist das keine gute Idee“, sagte Anton. Mit einem Schulterzucken ließ er seine Verteidigung fallen. Ich ließ die Spitze meiner Klinge sinken. Er sagte: „Ich fürchte, ich werde Euch verletzen ...“

Er machte einen Ausfallschritt und attackierte die Spitze meines Stiefels. Ich hob den Fuß, trat auf seine Klinge und berührte sein Kinn mit der Spitze des Säbels.

Anton, der in eine kniende Position gestolpert war, sah zu mir auf. Eine Sekunde lang überschattete Furcht seine Augen, doch dann schenkte er mir ein versöhnliches Lächeln. „Ich glaube, Ihr habt diesen Trick vielleicht schon einmal gesehen.“

Ich warf Anton die Münze zu und gab Luka den geborgten Säbel zurück. Bereits nach wenigen Sekunden des Schwertkampfes hatte meine Schulter geschmerzt. Als ich mich umwandte, um die Männer in Frieden zu lassen, trat Radovan neben mich.

„Woran denkt Ihr?“, fragte er. So sehr ich seinen Scharfsinn auch schätzte, zog ich es doch vor, wenn dieser sich nicht auf mich konzentrierte.

„Einer unserer Gäste hat mich daran erinnert, dass es viel zu lange her ist, seit ich mich im Schwertkampf geübt habe“, antwortete ich. „Glaubst du, Anton hat absichtlich verloren, um sich bei mir einzuschmeicheln?“

Radovan zuckte mit den Schultern. Es mangelte ihm nicht gänzlich an diplomatischem Geschick. „Jetzt, da Ihr es erwähnt“, sagte er. „Wie lange noch, bevor wir den Männern ihre Präsente überreichen können? Ein paar von ihnen sind es nicht gewohnt, ein richtiges Schwert zu führen.“

Ich hatte gezögert, die versilberten Waffen früher auszuteilen, aus Sorge, dass sich einer oder mehrere der Männer absetzen könnten, um die wertvollen Waffen zu verkaufen, anstatt sich für eine recht geringe Bezahlung auf diese gefährliche Reise einzulassen. Nicht der finanzielle Verlust war meine Hauptsorge, sondern, dass die Anzahl an Waffen nur für ein kleines Kontingent an Wachen ausreichte, und alle von ihnen in der Lage sein sollten, übernatürliche Gefahren auf der Reise genauso abwehren zu können wie solche natürlichen Ursprungs.

 

„Es sei denn, Ihr seid bereit, das alte Zauberbuch auszugraben und ...“ Radovan wedelte in Andeutung einer magischen Geste mit der Hand. Er musterte mich und wartete auf eine Antwort, und ich kannte den Grund.

Während der vielen Jahre unserer Zusammenarbeit hatte Radovan mir dabei zugesehen, wie ich die Identität eines Diebes durch die materiellen Komponenten erkannt hatte, die er dazu verwendet hatte, einen verschlossenen Tresor aufzubrechen. Er hatte mich dabei beobachtet, wie ich die Runen eines uralten Zauberrätsels übersetzt und verändert hatte, um ihre versteckte Botschaft zu offenbaren. Er war sogar Zeuge gewesen, wie ich die Zaubertricks eines Amateurzauberers in einem ansonsten finsteren Fall von Erpressung abgewehrt hatte. Was Radovan hingegen niemals beobachtet hatte, war, wie ich tatsächlich einen Zauber wirkte. Es war ein Wunder, dass er dieses Thema niemals stärker verfolgt hatte. Die Antwort auf diese Frage war peinlich, doch wenn man die möglichen Gefahren einer Reise auf den Straßen Ustalavs bedachte, war es vermutlich an der Zeit, dass er es erfuhr. Auf der anderen Seite gab es da das Problem der Angemessenheit. Er war mein Diener, nicht mein Gleichgestellter.

„Du kannst die Waffen jetzt ausgeben“, befahl ich ihm.

Radovan war unnachgiebiger als die widerwärtigen Terrier meiner Großnichte. „Doch Ihr seid bereit, sie mit Zauberei zu unterstützen, richtig?“

„Du hast ihnen das nicht gesagt, nehme ich an.“

„Natürlich nicht, nein, aber ich dachte, ...“

„Du solltest dich nicht darauf verlassen, dass ich irgendwelche bedeutenden Zauber wirke“, sagte ich.

„Was ist mit all diesen arkanen Büchern und Sachen aus Eurer Biblio­thek?“

Ich seufzte. „Das Studium des Arkanen war eine meiner frühesten Leidenschaften. Während ich in der Theorie recht geübt war, bereitete mir die Praxis unglücklicherweise einige Schwierigkeiten.“

„Ach ja?“, fragte Radovan. „Welche Art von Schwierigkeiten?“

Was die meisten Beobachter, die mit dem Arkanen nicht vertraut sind, nicht verstehen, ist, dass ein Magier eigentlich den Großteil ­eines Zaubers wirkt, bevor er dessen Macht auf die Welt loslässt. Für die meisten Zauberkundigen ist die Freisetzung von Magie nur eine Frage dessen, die letzten auslösenden Schlagworte auszusprechen, eine abschließende Geste zu vollführen und vielleicht einen katalytischen Stoff aufzubrauchen.

Für mich bedeutet es leider auch – um offen zu sprechen –, dass ich mein letztes Essen wieder von mir gebe.

Von dem Augenblick an, an dem ich den Zauber in meinem Geist fixiere, bis zu dem, in dem ich ihn wirke, wird mein Körper von Krämpfen geschüttelt. Ich schwitze in höchst unziemlicher Weise, und zuzeiten habe ich sogar ein unerträgliches Stottern entwickelt. Je länger ich den vorbereiteten Zauber zurückhalte, desto schlimmer wird mein Zustand. Selbst die Erlösung durch die Freisetzung der Macht geht unvermeidlich mit einem widerlichen Erbrechen einher, welches, wie ich Dir versichern kann, meinen Kommilitonen an der Academae in Korvosa unendliches Vergnügen bereitete.

Doch dies ging Radovan nichts an. Es war höchste Zeit, ein förmlicheres Verhältnis zu den Angestellten aufzubauen. Ich schickte ihn mit einer Handbewegung fort und sagte: „Die Männer sind hungrig. Kümmere dich um sie!“

Kapitel vier

Die Senir-Brücke

Im Gegensatz zu Jägern und Mädchen finde ich Pferde nicht im Geringsten romantisch. Sicher, die verdammten Biester haben mich schon immer gehasst, ich bin also voreingenommen. Ein paar andere Höllenbruten haben mir erzählt, sie hätten dasselbe Problem, während andere den ganzen Tag auf einem Pferd verbringen können. Allerdings reicht ein Schniefen von mir aus, damit die meisten Zugtiere vor Angst wiehernd in die Scheunen zurückrennen. Die Mutigen warten manchmal, bis ich nahe herankomme, und dann versuchen sie, mich zu Tode zu trampeln. Der Sicherheitsabstand liegt bei drei Metern, sodass ich nicht auf dem Bock der roten Kutsche mitfahre, es sei denn, der Prinzipal hat es eilig.

Also, so oft ich auch von Reitern höre, die sich darüber beschweren, dass sie sich wund geritten haben: Ich weiß, es ist allemal besser, als auf dem Trittbrett zu stehen. Nach fünf Tagen, die ich hinten an der Kutsche hing, fühlten sich meine Beine an wie zwei Säulen aus geschmolzenem Blei. Ich hielt es nicht mehr aus. Mein Rücken brachte mich um, und die Kutsche verdeckte die Hälfte meines Blickfelds. Ich kletterte auf das Dach.

Da es so hoch gestapelt war, brachte das Gepäck die Kutsche aus dem Gleichgewicht, also hockte ich mich neben eine Kiste mit Armbrustbolzen und sah mich um. Die letzten bewohnten Bauernhöfe bei Caliphas lagen bereits eine Tagesreise hinter uns. Am Morgen waren wir an einigen zerfallenen Kaminen vorbeigefahren, den Grabsteinen verlassener Häuser. Seitdem war die Straße das einzige Zeichen menschlichen Lebens in der Landschaft. Sie wand sich hinauf in das bewaldete Gebirge bis zu einem Pass, von dem aus wir die winzige Grafschaft Ulcazar durchqueren würden, bevor wir nach Amaans einfuhren, das Hoheitsgebiet Graf Galdanas.

Es waren noch Stunden bis zum Einbruch der Nacht, doch die Schatten der Bergspitzen im Westen streckten sich nach uns aus, und ihre Finger kamen mit jeder Kurve näher. Ich spürte ein Frösteln und wünschte mir, unter der Jacke etwas Wärmeres angezogen zu haben. Ich hätte eines dieser wollenen Hemden kaufen sollen, die ich auf dem Markt von Vauntil gesehen hatte, doch nach einem langen Tag auf dem Trittbrett war ich zu müde, um selbst eine halbe Stunde in einem vernünftigen Bett gegen die Aussicht auf Bequemlichkeit einzutauschen. Es war keine Frage der Kohle – ich hatte das Geld aus Nicolas Börse als Einsatz beim Türme-Spiel verwendet, nachdem ich die Sczarni verlassen hatte. Ich war also flüssig. Man sollte meinen, Varisier seien beim Spiel mit den Turmkarten besser, doch Desna lächelte mir zu. Vielleicht spielten sie einfach nicht so wie wir unten im Süden. Sie bekamen nicht einmal mit, wie ich ihre Karten einsteckte, als ich ging. Ich streute damit noch Salz in die Wunden, das weiß ich, aber ich wollte einen genaueren Blick auf das hiesige Blatt werfen.

Die Aufmachung war anders als das, was ich bisher gesehen hatte, aber das war nicht ungewöhnlich. Im Laufe der Jahre hatte ich ein halbes Dutzend Variationen der Karten gesehen. Selbst in Cheliax verwenden die Wahrsager auf den Märkten sie für die Turmdeutung, und adlige Damen halten es für schick, sich über Kuchen und Likör ihre eigenen Menetekel zu legen. Mein alter Brötchengeber, Sandros der Schöne, verbot der Bocksherde das Spielen mit den Turmkarten, was er für unheilbringend, wenn nicht sogar für eine ausgemachte Gotteslästerung hielt. Er war übermäßig abergläubisch geworden nachdem er eine varisische Hexe um ihre Ersparnisse gebracht hatte und sich bald darauf langsam in etwas zu verwandeln begann, das einer Ziege ähnelte. Ich hatte ihn fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen, aber wenn es irgendeine Gerechtigkeit auf der Welt gab, lief der verkommene alte Bastard mittlerweile auf allen Vieren und fraß aus Mülleimern.

Dadurch, dass er den Jungs das Spielen mit den Turmkarten untersagt hatte, machte er es unter uns nur beliebter. In den Jahren verbotener Glücksspiele in der Aalgasse hatte ich die unterschiedlichsten Turmkarten gesehen, sodass ich die vierundfünfzig Karten auswendig kannte. Trotzdem hatte ich noch nie eine gesehen, wie Malena sie mir gezeigt hatte. Das Motiv blieb mir wegen meiner Überraschung darüber lebhaft im Gedächtnis: Ein Mann, der ein Zepter hielt, eine Krone zu seinen Füßen, glühende Augenpaare an einem dunklen Hügel.

Ich wollte den Prinzipal fragen, ob er etwas über diese Karte wusste, doch er war mit seinen Gästen beschäftigt. Außerdem war er in letzter Zeit außergewöhnlich hochnäsig gewesen, und wenn man an seine Launen dachte, war ich nicht bereit, ihm von meiner Meinungsverschiedenheit mit den Sczarni zu erzählen. Ich würde einfach den nächsten Turmdeuter fragen, den ich traf. Es gab mindestens einen in jedem größeren Dorf in Ustalav.

Die Münze, die Malena mir gegeben hatte, war ein weiteres Rätsel. Das Gesicht des Mannes, der darauf abgebildet war, hatte etwas Bekanntes an sich. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich es schon einmal auf einem Gemälde oder in einem der Bücher aus der Bibliothek des Prinzipals abgedruckt gesehen hatte, doch das fühlte sich nicht richtig an. Es war, als wäre ich einmal jemandem begegnet, der wie der Mann auf der Münze aussah, doch die Erinnerung war in der Kindheit vergraben, die ich solange versucht hatte zu vergessen. Oder die Nebel von Ustalav beflügelten meine Vorstellungskraft.

Vor dem Aufbruch aus Caliphas hatte ich den Hufschmied bei den Ställen dafür bezahlt, ein Loch nahe dem oberen Rand von Malenas Kupfermünze zu stanzen und ein Lederband hindurchzuziehen. Seitdem trug ich sie wie einen Talisman um meinen Hals. Ich sagte mir, es sei ein Andenken, das mich an den Duft von Malenas Haar erinnerte, doch wenn es um Turmdeutung geht, bin ich nicht so skeptisch, dass ich nicht auf Nummer sicher gehen würde.

Die Lichter der Kutsche gingen an, als wir in ein dichteres Waldstück einfuhren. Selbst nach fünf Tagen war der Kutscher, Petru, von diesem Effekt noch immer überrascht, da er es gewohnt war, bei Dämmerung anzuhalten und an einem profanen Fahrzeug die Öllampen anzuzünden. Ich hoffte, der Prinzipal würde aus dem Inneren ein Auge auf ihn haben und die Lampen genau in dem Moment anzünden, wenn es ihn am meisten erschreckte. Doch das schien unwahrscheinlich, so wie der Prinzipal sich in letzter Zeit benommen hatte. Er wurde mehr und mehr wie jedes andere Mitglied dessen, was er als „Adelsstand“ bezeichnete.

Von meinem Ausguck auf dem Kutschendach aus entdeckte ich die Späher. Anton und Kostin ritten einige hundert Meter voraus und hielten auf der Straße nach möglichem Ärger Ausschau. Sie trugen ihre Armbrüste auf den Rücken gegürtet, also hatten sie nichts Außergewöhnliches entdeckt. Dimitru und Emil flankierten, wenn möglich, die Kutsche und ritten vor dem Gespann her, wenn das Unterholz neben der Straße zu dicht wurde. Grigor und Luka bildeten die Nachhut. Ich winkte dem Pferdedieb zu, zufrieden darüber, dass er sich nicht mit unserem besten Pferd davongemacht hatte. Zumindest noch nicht.

Zwischen dem Gepäck zu hocken war wesentlich bequemer als hinten an der Kutsche zu hängen, doch es führte mich in Versuchung, mich zurückzulehnen und ein Nickerchen zu machen. Selbst wenn ich hätte eindösen wollen, war das keine gute Idee, denn je höher wir ins Gebirge kamen, desto mehr Äste streiften das Dach. Nachdem ich nach der Armbrust gegriffen hatte, die ich neben der Kiste mit Munition untergebracht hatte, kroch ich nach vorne, um dem Kutscher auf die Schulter zu klopfen.

Petru schreckte auf, als ich ihn an der Schulter berührte, nickte mir dann aber zu. Als wir uns kennengelernt hatten, hatte er nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als er in mir die Höllenbrut erkannte. Im Dunkeln komme ich als Mensch durch, oder wenn die Kneipe voller Betrunkener ist, aber für die meisten ist es offensichtlich, dass ich nicht wirklich einer von ihnen bin. Nur wenige hatten es so ruhig aufgenommen wie Petru, erst recht in Ustalav.

Petru war ein außerordentlich gepflegter Varisier von dreißig oder vierzig Jahren. Trotz seiner bescheidenen Geldmittel trug er einen Zylinder mit bunten Pfauenfedern, die in der Krempe steckten. Sein langer Frack war sauber, und ich hatte ihn dabei beobachtet, wie er den Mantel bei jedem Halt ausbürstete, nachdem er sich um die Pferde gekümmert hatte. Er hatte einen fantastischen spitzen Haaransatz und faszinierende Augen, wie Schauspieler oder Magier sie haben. Nicola hatte ihn angeheuert, aber das wollte ich Petru nicht zur Last legen. Er rutschte herüber, um mir auf dem Bock Platz zu machen, doch ich schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, die Pferde zu verschrecken.

„Wie weit noch, bis wir anhalten?“, fragte ich. Sein Gesicht war ausdruckslos. Ich hatte vergessen, dass er nur wenig Taldani sprach. „Viel weit?“, versuchte ich es in seiner Sprache.

„Hinter Brücke, zwei, drei Stunden. Nach Dunkelheit.“

Welche Freude, dachte ich bei mir. Kein Grund, guten Sarkasmus auf mein schlechtes Varisisch zu verschwenden.

Bevor ich wieder zurück kletterte, sah ich noch einmal nach vorn. Anton hatte angehalten und hob die Faust über den Kopf.

 

„Heda“, sagte ich zu Petru. Die Bedeutung war in beiden Sprachen die gleiche. Er zog die Zügel an, und die Kutsche wurde langsamer und kam zum Stehen.

Die Kutschentür öffnete sich, als ich hinunter sprang. „Was ist los?“, fragte Nicola.

„Bin nicht sicher“, antwortete ich. „Bleib in der Kutsche!“

Er schürzte die Lippen, bewies aber, dass er schlau genug war, meinen Anweisungen zu folgen.

Anton blieb, wo er war, als Kostin zu uns zurückgeritten kam. Ich kam ihm auf halbem Wege entgegen und ging nahe genug an den Pferden vorbei, um sie nervös zu machen.

„Ein Geräusch“, sagte Kostin. Seine knabenhafte Stimme strafte die Narbe um seinen Hals Lügen. „Fallender Baum.“

„Irgendwas gesehen?“

„Nein“, gab er zurück. „Aber Banditen blockieren manchmal Straße mit Baum.“

Ich pfiff laut genug, um die anderen Reiter zu mir zu rufen. Als sie ankamen, schickte ich Grigor los, um sich Kostin und Anton anzuschließen.

„Bleibt in Sichtweite der Kutsche“, sagte ich. „Wenn ihr irgendwas seht, kommt auf der Stelle zur Kutsche zurück.“

Anton salutierte zackig. Die Anderen nickten, und die drei ritten voraus.

Ich ignorierte Nicola, der seinen Kopf aus dem Kutschenfenster hängte, als ob ich ihm berichten sollte, kletterte zurück auf das Trittbrett und öffnete die Sprechklappe. Der Prinzipal hatte bereits sein Ohr nah an die Öffnung gelegt, sodass ich ihm zuflüstern konnte. Ich erklärte ihm, was wir wussten, und sagte: „Wir fahren vorsichtig weiter, alles klar?“

Er nickte und murmelte seinen Gästen eine beruhigende Variante meines Berichtes zu. Die Frau war ein Schatz. Bevor ich ihr jedoch zuzwinkern konnte, zog der Prinzipal die Klappe zu. Wahrscheinlich besser so. Diese Edelfrauen – sie können nicht genug von mir bekommen. Und ausgehend von dem, was ich von ihrem Vetter gesehen hatte, würde das nichts als Ärger bedeuten.

Wir fuhren verglichen zu vorher mit halber Geschwindigkeit weiter. Ungefähr alle zehn Minuten wandte Anton sich um und gab uns mit einem Winken zu verstehen, dass die Straße frei war. Beim vierten Mal hielt er wieder die Faust hoch. Anstatt Kostin zurückzuschicken winkte er mich nach vorne. Diesmal gab ich mir Mühe, den Kutschpferden aus dem Weg zu gehen, doch sie wieherten trotzdem und stampften mit den Hufen.

„Heulsusen“, murmelte ich.

Unter einem Wegweiser an der Straßengabelung gesellte ich mich zu Anton, Kostin und Grigor. Während mein aktiver Wortschatz mit jedem Tag anstieg, konnte ich doch nicht viel Varisisch lesen. Anton zeigte den rechten Weg hinunter, während er übersetzte.

„Die Senir-Brücke“, sagte er. Das war unser Ziel. Sobald wir den Fluss überquert hatten, ging es von Ulcazar aus abwärts und hinein nach Amaans. Anton zeigte auf den Weg, der nach Westen führte und auf dem quer eine mächtige Tanne lag. „Kloster vom Schleier“, las er laut vor.

Wenn der Prinzipal an diesem Punkt nicht vorhatte, uns mit einem Umweg zu überraschen, lag die Barriere uns nicht im Weg. Trotzdem war der Zeitpunkt verdächtig. Es konnte sein, dass uns jemand absichtlich auf einen bestimmten Weg lenken wollte.

„Gebt mir Deckung“, befahl ich. Anton wiederholte den Befehl für Kostin auf Varisisch. Ich raunte ihm zu: „Sag Kostin, wenn er mich aus Versehen trifft, werde ich ihm ordentlich den Arsch versohlen.“

Anton lächelte mich grimmig an, gab die Nachricht jedoch nicht weiter.

Ich verließ die Straße und machte einen Bogen, um zum Fuß des umgestürzten Baumes zu gelangen. Wie ich vermutet hatte, war er gefällt worden und nicht durchgefault. Und er hatte genau die richtige Größe an genau dem richtigen Ort, um ein Fahrzeug davon abzuhalten, den Weg zum Kloster einzuschlagen.

Zurück bei der Kutsche berichtete ich dem Prinzipal, was ich gesehen hatte. Er wusste, dass er mir nicht zu sagen brauchte, dass jemand uns ganz sicher dazu bringen wollte die Brücke zu überqueren. Der Wald war auf beiden Seiten viel zu dicht, als dass es sicher gewesen wäre, den Baum mit der Kutsche zu umfahren.

„Wie lange, um die Straße freizuräumen?“, fragte er. Wir hatten zwei Äxte in der Kutsche, aber keine Sägen.

„Ungefähr eine Stunde“, schätzte ich. Weniger, hoffte ich, aber es ist eine dumme Idee, mehr zu versprechen als man halten kann. „Wollt Ihr dort Rast machen?“

Der Prinzipal wandte sich an Kasomir. „Wie weit ist es bis zum Kloster?“

„Vielleicht sechs Meilen“, sagte der junge Adlige. Er zog die Schultern hoch und wandte die Handflächen nach außen. „Ich habe Landkarten gesehen, das Kloster aber nie besucht.“

Der Prinzipal wog vermutlich ab, ob es besser wäre, hier zu bleiben und die Straße freizuräumen, oder zu versuchen, das Kloster zu Fuß zu erreichen. Ein Blick in sein Gesicht sagte mir, dass er keine der beiden Möglichkeiten mochte, nicht mit Fräulein Tara unter seinem Schutz.

„Wir fahren weiter“, sagte er. „Höchste Alarmbereitschaft.“

Das brauchte er mir bestimmt nicht zu sagen, aber vielleicht dachte er, es würde Eindruck auf Kasomir machen und Tara beruhigen.

Ich kletterte wieder auf das Dach, damit alle Männer mich hören konnten, doch als ich mich umsah, zählte ich nur fünf.

„Wo ist Emil?“

Wir alle blickten zu den Bäumen. Sie waren um einiges finsterer, als ich es zu dieser Stunde erwartet hatte. Die dunklen Äste schluckten das Licht, das über die Berge kroch.

„Schaut“, rief Dimitri und zeigte nach vorn. Emils Pferd trottete aus dem Dunkel auf die Kutsche zu, warf dabei seinen Kopf hin und her und blähte stark die Nüstern. Die Augen des Tieres waren geweitet, der Sattel leer.

Kostin und Grigor riefen nach Emil, aber Anton und Dimitru sahen zu mir. Die Veteranen wussten genauso gut wie ich, dass er nicht zurückkommen würde.

„Vorwärts“, befahl ich. Ich nahm meine Armbrust auf und spannte sie. „Bleibt in der Nähe! Beobachtet den Wald!“

Petru ließ die Zügel knallen. Ich legte einen Bolzen gegen die Sehne und ging einen knappen Meter hinter ihm in die Hocke, bereit, an seine Seite zu springen, wenn wir den Pferden zusätzlich Ansporn geben mussten. Vor uns teilten sich die Bäume und gaben den Blick auf die Senir-Brücke frei, eine gewölbte Steinbrücke, die kaum breiter war als die Kutsche. Sobald wir drüben waren, dachte ich, konnten wir uns umdrehen und uns auf die Verteidigung konzentrieren.

Ungefähr da begann das Heulen.

Das Geräusch kam von beiden Seiten und von hinten. Die Erfahrung, die ich erworben hatte, als ich die Gassen des westlichen Egorian durchstreifte, sagte mir, was das bedeutete. Sie trieben uns vorwärts. Ich hob meine Armbrust und heftete meinen Blick auf die Straße vor uns: Wann würden die ersten Augenpaare aufglühen?

Grigor schrie. Ich drehte mich um und sah, dass sein Pferd vor dem, welches Luka geritten hatte, zurückscheute, da es laut wieherte und auf den Rücken fiel. Dahinter, in der Düsternis kaum zu erkennen, zeichnete sich eine dunkle, rote Spur auf der Straße ab. Aus den Augenwinkeln sah ich einen verschwommenen Schatten im Wald verschwinden. Grigor brachte sein Pferd wieder unter Kontrolle und trieb es auf die Kutsche zu, da er nicht gewillt war, allein die Nachhut zu bilden.

Wieder hörten wir den Schrei eines Mannes und eines Pferdes. Vor uns schoss Anton mit seiner Armbrust auf einen grauen Wolf, der Kostin aus dem Sattel gerissen hatte. Es sah wie ein Treffer aus, doch der Wolf, dessen Kiefer rot vom Blut waren, wich nur von der Straße zurück und bereitete sich auf einen weiteren Angriff vor. Die Kutsche machte einen Satz, als sie über Kostins zerrissenen Körper hinweg raste. In der kurzen Zeit, die es brauchte, um es zu beschreiben, hatten sie die Hälfte unserer Wächter erledigt. Das waren keine gewöhnlichen Wölfe, und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich der Grund für ihren Angriff war.