Prinz der Wölfe

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Z serii: Pathfinder Saga #1
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Als wir uns zum ersten Mal begegneten, kam ich auf Grund ihrer Verführungskünste zu spät in meiner Winterresidenz nahe der Universität von Lepidstadt an, doch lernte ich in diesem Sommer mehr als in den vergangenen sechs Monaten des Studiums in den ältesten Bibliotheken Ustalavs. Zu der Zeit erschien sie mir älter als ich, obgleich ich in Wahrheit doppelt so alt war. Dennoch wirkte ich dank des Blutes meines Vaters wie ein junger Mensch in den Mittzwanzigern. Nun jedoch hatte mein Spiegelbild begonnen, mich mit der zerfurchten Straßenkarte, die mein Gesicht ist, zu verspotten, während Carmilla genauso gut ein dreißig Jahre altes Porträt von sich als Spiegel hätte hernehmen können.

„Wie ich sehe, sind die Gerüchte, du würdest im Blut von Jungfrauen baden, nicht gänzlich aus der Luft gegriffen“, sagte ich. Es war einer von diesen unreifen Scherzen, die ich mir in meiner Jugend oft erlaubt hatte, doch sie schenkte mir ein Lächeln. Ich löste mich gerade lang genug aus ihrem Griff, um ihre Hand zu küssen.

„Eine ungeheure Unterstellung“, sagte sie und verpasste mir einen Klaps mit dem Fächer aus geschnitztem Elfenbein, den ich ihr als Abschiedsgeschenk verehrt hatte und wiedererkannte. Seit meiner Ankunft in Caliphas war das Wetter kühl gewesen, sodass es keines ausgeprägten Scharfsinns bedurfte, um zu erkennen, dass sie mir schmeicheln wollte, indem sie das Präsent zur Schau stellte. Sie ließ den Fächer von ihrem Handgelenk baumeln, während sie mit einem Finger gegen Senirs bestickten Ärmel tippte. „Dennoch hat mich unser Bischof hier stets im Auge, wenn wir zu Abend essen, und sorgt dafür, dass ich jedes mit Knoblauch zubereitete Essen koste.“

Senir verbeugte sich knapp ob ihrer Stichelei und lächelte ohne jede Belustigung.

„Ihr könnt unseren Besucher nicht ganz allein für Euch beanspruchen, mein lieber Bischof“, sagte Carmilla und ignorierte unbekümmert den Rest unserer Gesellschaft, ohne deren Ärger auf sich zu ziehen. Ich kann nicht verstehen, wie sie zu diesem Kniff imstande ist, obwohl ich sie des Öfteren dabei beobachtet habe. „Es gibt Dutzende junger Leute, die unseren werten Grafen Jeggare noch nicht kennengelernt haben, und wir sollten ihnen die Bekanntschaft mit ihm nicht verwehren.“

Es ist ein Glück, dass ich durch beinahe ein Jahrhundert der Übung in der Lage bin, meine Heiterkeit zu verbergen, denn Senirs Blick war scharf und prüfend. Ich sah in seinen Augen die Erkenntnis, dass ich gerettet worden war – und ich wusste, dass es stimmte. So lächelten wir uns arglos an, als ob wir keine solchen Gedanken hegen würden. Die anderen in unserer Runde lächelten gleichermaßen, abgesehen von dem ungehobelten Lowls, der mit etwas herausplatzte, das klang, als wolle er ein Treffen mit mir vereinbaren, damit ich mir seine Zeichnungen ansah. Dann jedoch lenkte seine kluge Geliebte ihn ab, indem sie verlangte, zurück zum Dessertbuffet zu gehen.

Während Carmilla mich von ihnen fort geleitete, beschaffte ich mir von dem Tablett eines Dieners zwei Gläser süßen Weins. Eine Weile gingen wir schweigend, und sie hielt meinen Arm so nahe und drückte ihren warmen Körper so sanft an mich, dass ich ein Wiederaufflammen der Zuneigung verspürte, die wir einst geteilt hatten. Oder zumindest der Zuneigung, die ich einst verspürt hatte. Man konnte nicht verhehlen, dass ich nicht nur jung, sondern auch, wie man so sagt, beeinflussbar gewesen war, und nur ein Narr würde annehmen, die erfahrene Dame hätte so viele Gefühle in mich investiert wie ich in sie. Es war ein gefährliches und unergiebiges Gefühl, doch eine Minute lang genoss ich es, während wir an den Porträts der Fürsten und Grafen vorbeischritten, jedes eine Generation älter als das vorangegangene. Ich stellte sie mir als eifersüchtige Rivalen vor, die uns um unser wiedergefundenes Glück beneideten. Dann entließ ich diese Laune wie einen gefangenen Vogel aus seinem Käfig.

„Ich sollte wütend auf dich sein“, gurrte Carmilla. „Es verletzt meinen Stolz zu wissen, dass du schon so lange in Caliphas bist, ohne auch nur einen Gruß gesendet zu haben, während du den ganzen Tag bei diesem widerlichen Doktor Trice verbringst.“

„Unvergleichliche Herrin“, sagte ich, „selbst die größte Freude wird durch die vorherige Erfüllung aller lästigen Pflichten versüßt, und kein Vergnügen ist größer als das, dich wiederzusehen.“

Carmilla legte den Kopf in den Nacken, um mich zu taxieren. „Ein wenig dick aufgetragen.“

„Vergib mir“, sagte ich. „Ich bin aus der Übung.“

„Wie schade“, sagte sie. „Mir würde es missfallen, wenn unser Verhältnis dich für die Frauen in Cheliax verdorben hätte.“

Ich zuckte mit den Schultern, als könne ich es nicht leugnen, und sie lächelte, womit sie das angedeutete Kompliment annahm.

„Trotz der unerträglich langen Zeit in der du fort warst, habe ich dich zu gern, als dass ich dir eine passende Strafe auferlegen könnte, mein süßer Varian. Deine jugendlichen Schwärmereien sind mir über die Jahre immer noch klar im Gedächtnis geblieben. Sag nicht, wie viele es waren.“ Sie legte einen Finger auf meine Lippen. „Lass es unser Geheimnis bleiben.“

Während wir Arm in Arm weitergingen, veränderten sich die Bilder der Porträts, die in der äußeren Galerie hingen, nach und nach in Stil und Darstellung. Die derzeitigen Herrscher von Ustalav waren kräftige, bärtige Männer mit Schnauzbärten oder blasse Frauen, die allesamt in Kostümen gekleidet waren, die für die chelische Oper gerade richtig gewesen wären. Ihre Vorfahren waren ein ganz anderer Schlag –

Männer und Frauen mit harten Gesichtszügen, eher in Eisen denn in Seide gekleidet und mit hervorstechenden Nasen, die weniger oft von den Händen kriecherischer Maler verschönert worden waren. Als wir an den bekannten Monarchen Ustalavs vorbeigeschritten waren, entdeckte ich hier und da Gemälde, die durch dunkle Samtvorhänge verdeckt waren. Carmilla bemerkte meine Neugier.

„Die Verfluchten und die Verdammten“, sagte sie.

„Die Schurken der Geschichte?“, fragte ich.

„Nicht immer, nein“, antwortete sie. „Aber Fürsten, deren Vermächtnisse man besser der Vergesslichkeit der Akademie überlässt.“

Mit einem verstohlenen Blick nach beiden Seiten griff sie nach einer der samtenen Zugschnüre.

„Warte“, sagte ich, jedoch zu spät, um sie aufzuhalten.

Sie enthüllte ein Porträt, dessen dicke Farbschicht von Rissen durchzogen war wie Matsch in einer von der Sonne verbrannten Wüste. Unter den rauen Konturen des darunter liegenden Lacks kam die Gestalt eines Mannes zum Vorschein, dessen teuflische Züge unbestreitbar waren. Auf dem Rücken seiner Hakennase war ein drakonischer Höcker zu sehen, und von seinen Augenbrauen aus verlängerte sich eine zerfurchte Fläche zu beiden Seiten zu langen, weißen Hörnern, wo ein Karikaturist die Augenbrauen eines Weisen zeichnen würde. Kleine weiße knöcherne Wölbungen reihten sich an hervorstechenden Wangenknochen auf, und sein langes Kinn war spitz wie ein Spatel. Wenn man die Farbveränderungen durch Alter und Lack in Betracht zog, konnte man annehmen, dass seine Haut ursprünglich die Farbe geschmolzenen Kupfers gehabt haben musste. Es war das Gesicht einer Höllenbrut, eine, die ihrem teuflischen Vorfahren noch recht nahe war.

Carmilla ließ die Schnur los und gab das Porträt wieder der Dunkelheit preis. „Sieh jetzt nicht hin“, flüsterte sie. Ich konnte nicht umhin, mich umzudrehen und sah eine kleine Gruppe aus Gästen des Fürsten hinter uns um eine Ecke biegen.

„Wenn du mich küsst“, sagte Carmilla, „haben sie etwas zu tratschen.“

Ich konnte ihr Argument nicht bestreiten, also gehorchte ich. Es war so lange her gewesen, und ich hatte vergessen, wie weich und warm sie war und wie sehr ich mich fühlte, als würde ich schmelzen wie der letzte Schnee des Winters. Schon bald waren alle anderen Gedanken aus meinem Geist vertrieben. Als sie mich sanft von sich schob, fühlte ich die Verzweiflung eines Mannes im Exil. Mein Gesicht brannte sowohl vor Reue über verlorene Jahre als auch von der Wirkung des Weines, den ich an diesem Abend getrunken hatte. Carmilla machte eine Schau daraus, sich mit ihrem Fächer Luft zuzufächeln, während ich meine Fassung wiedergewann. Die Spione hatten sich zurückgezogen, aber nun hatten wir Gewissheit darüber, was sie berichten würden.

„Ich bin doppelt froh, dass du mich aufgesucht hast“, sagte ich zu ihr. „Wenn es auch nichts gibt, das mit der Freude unseres Wieder­sehens vergleichbar wäre, hatte ich doch gehofft, du könntest mir helfen bei ...“ Ich machte eine Pause, um meiner Bitte ein schmeichelhaftes Gewand zu geben.

„Bei dieser recht ermüdenden Angelegenheit?“, schlug sie vor.

„In der Tat“, antwortete ich. „Eine meiner Kolleginnen ist verschwunden, und ich bin hergekommen, um sie zu finden.“

„Sie?“, bemerkte Carmilla. „Vielleicht ist diese Angelegenheit doch nicht so ermüdend.“

„Unsere Beziehung ist rein kollegialer Natur“, sagte ich. „Es ist wichtig für unsere Gesellschaft, dass ich sie finde.“ Carmilla bedurfte keiner Bestätigung, aber sie genoss, dass ich so tat, als sei ich beschämt. Ich wünschte, ich wäre ein besserer Schauspieler, denn ich sah die gute Laune in ihrem Gesicht schwinden, also fügte ich hinzu: „Es ist wichtig für mich.“

Sie sah mich lange abschätzend an. Ich fürchtete schon, den Zauber unserer kürzlich wieder aufgelebten Romanze gebrochen zu haben, doch sie lächelte. „Wie erwachsen du geworden bist, mein lieber Junge“, sagte sie. Sie strich mir mit einem ihrer alabasterfarbenen Finger durchs Haar, und in meiner Eitelkeit fragte ich mich, ob sie eine der silbrigen Strähnen entlangfuhr, die in den letzten Jahren immer stärker hervorgetreten waren. „Wenn du doch nur eine Weile in Caliphas bleiben könntest. Eventuell könntest du mir dieses Mal das eine oder andere beibringen.“

 

„Das wage ich zu bezweifeln, meine Herrin“, sagte ich.

Diesmal zeigte mir ihr Lächeln ihre Freude darüber, dass ich mich der Hierarchie unterwarf – ich war nur an Jahren der Ältere. Mit einem lauten Aufschnappen ihres Fächers lenkte sie die Aufmerksamkeit eines Dieners auf sich, der sich bei den Türen des Festsaals herumdrückte, und deutete auf unsere leeren Gläser.

„Wie es sich ergibt“, sagte sie, „habe ich etwas, das dir von Nutzen sein könnte.“

Ich verspürte kurz einen Funken Hoffnung, bevor der Zynismus sich wieder breitmachte. Da sie mich darin noch nie enttäuscht hatte, bestätigte Carmilla auch diesmal meine Befürchtungen.

„Natürlich“, sagte sie, „muss ich dich dafür um einen kleinen Gefallen bitten.“

Kapitel zwei

Tanz der Sczarni

Gib mir einfach das gottverdammte Geld.“

Nicola beugte sich vor, um über seine dürre Nase zu mir hinunterzublicken, und stierte mich mit seinen schwarzen Augen an. Er hatte keine Ahnung, wie sehr er durch diese Haltung einem riesigen Grashüpfer ähnelte. Wenn wir Publikum gehabt hätten, hätte ich es ihm gesagt, nur um zu sehen, wie er rot anlief. Unglücklicherweise hatte sich sogar der angeheuerte Fahrer von uns entfernt, um seine Pfeife ungestört von Nicolas Beschwerden über den Rauch genießen zu können. So standen wir allein neben dem Wagen, der mit Vorräten für die Expedition beladen war. Die aufgehende Sonne hatte den Morgennebel vertrieben, und langsam wurde es warm auf der gepflasterten Straße, die sich von den geschäftigen Märkten ausgehend den Hügel hinaufschlängelte. Wir hatten unsere Einkäufe erledigt und ich war erpicht darauf, für einen kühlen Schluck des lokalen Gebräus wieder hinunter zum Markt zu kommen.

„Gerade du solltest wissen“, sagte Nicola, „dass ich meine Pflichten ernstnehme. Der Herr hat mir aus gutem Grund seine Börse anvertraut, und er hat nichts von einem Taschengeld für dich erwähnt, nachdem du zusätzlichen Schutz für uns angeheuert hast. Da das nun erledigt ist, nehme ich an, dass du über genügend eigene Mittel verfügst, um dich auf dem Markt zu amüsieren, oder wo auch immer du in Caliphas deine Freizeit verbringen willst. Falls nicht, gebe ich dir den Rat, besser auf dein Geld zu achten. Es wäre mir ein Vergnügen, dir eine simple Methode für eine monatliche Kostenabrechnung zu zeigen ...“

„Hör zu.“ Ich stieß ihm mit dem Finger auf die Brust, nicht zu hart, da ich keinen blauen Fleck hinterlassen wollte, den er dem Prinzipal hätte zeigen können. „Wenn ich nicht gewesen wäre, hättest du die Börse gar nicht mehr.“ Der junge Beutelschneider, dem wir zuvor begegnet waren, war kein Anfänger gewesen, aber ich hatte mehr Übung als er mit seinen zehn oder zwölf Jahren.

„Und für diesen Dienst werde ich dich mit Freuden Seiner Exzellenz empfehlen“, sagte Nicola. „Und als persönlichen Dank werde ich darüber hinwegsehen, dass du die Aufmerksamkeit der Gendarmen auf uns gezogen hast.“

Da konnte ich kaum widersprechen. Die kleine Kanalratte hatte mich gebissen, als ich ihn um die Börse erleichterte, und wir hatten so nahe am Wasser gestanden, dass ich nicht hatte widerstehen können und ihn hineinschmiss. Mir hätte klar sein müssen, dass er sofort Zeter und Mordio schreien würde, sobald er nach Luft schnappend an die Oberfläche kam. Trotz Nicolas makelloser Jeggare-Livree sah der Wächter, der uns angehalten hatte, in uns beiden keine unschuldigen Besucher seines schönen Landes sondern zwei Ausländer mit einer fetten Geldbörse. Mein teuflisches Aussehen half dabei wenig. Che­laxianer sind selten irgendwo willkommen, aber eine Höllenbrut reicht aus, um einen Aufstand anzuzetteln.

Ich atmete tief durch und schenkte Nicola ein schmales Lächeln, weil es keinen Sinn gehabt hätte, ihm zu drohen. „Hör zu, der Wächter wollte nur ein kleines Stück vom Kuchen. Das ist alles, was ich dir sagen wollte.“

„Du meinst, so etwas wie ein Schmiergeld?“ Nicolas Wangen wurden rot.

Desna weint. „Ich meine genau so etwas wie ein Schmiergeld.“

„Mach dich nicht lächerlich. Er hat immer wieder betont, dass es ihm nur um das Wohlergehen dieses Straßenbengels ging ...“

„Der sich verzogen hat, weil er ein Taschendieb war.“

„... und um die Aufrechterhaltung des Friedens entlang des Ufers ...“

„Der von dem Bengel gestört wurde, der deine Börse geklaut hat.“

„Wenn dein Varisisch zu etwas mehr ausreichen würde, als zu ein paar Phrasen, um Bier zu bestellen und die Dienste von Prostituierten in Anspruch zu nehmen, hättest du verstanden, dass der Mann nur seine Pflicht getan hat.“

„Warum hat er dann seine Hand so aufgehalten?“ Ich demonstrierte es ihm.

Nicola blickte auf meine Hand hinunter. Ich übertrieb nicht zu sehr, doch man konnte diese Aufforderung unmöglich missverstehen. „Ich hatte angenommen, es sei eine lokale Geste“, sagte er. „Außerdem ist er schließlich doch weggegangen, oder nicht?“

„Sicher doch“, sagte ich mit so viel Sarkasmus, dass ich fürchtete, meine Lippen würden gleich bluten. „Und wann genau war das nochmal?“

„Gleich nachdem du seine Hand geschüttelt ...“ Er stand einige Sekunden mit einem komischen Gesichtsausdruck da, als der Groschen langsam fiel. „Du hast ihm Schmiergeld gezahlt!“

„Den Rest von meinem Kleingeld“, sagte ich, „weshalb ich auf den Aquirierungsfonds zurückgreifen muss.“ Nun wurde es Zeit für Nicola zu kapieren, dass es einfacher war, mir das Geld zu geben. Er war zwar ein händeküssender Speichellecker, aber nicht völlig verblödet. Manchmal brauchte er nur einen kleinen Stoß in Richtung Vernunft. Ich winkte mit meiner Hand und hielt sie so auf, wie der Stadtwächter es getan hatte.

„Das kannst du vergessen, Radovan“, sagte er mit einem griesgrämigen Blick. „Trotz deines offensichtlichen Grolls darüber, dass mir Graf Jeggare vertraut, habe ich versucht, dir ein Freund zu sein. Zweifellos hast du in der Vergangenheit den zwangloseren Umgang mit dem Herrn genossen, aber da er mich in seine Dienste genommen hat, solltest du keinen Zweifel daran haben, dass er eigentlich eine traditionelle Rangordnung unter seinen Dienern bevorzugt.“

„Eigentlich bin ich nicht sein Diener, sondern ...“

„Sei mir gegenüber bitte so höflich und unterbrich mich nicht. Ich versuche, dir zu helfen, Radovan. Viele in meiner Position würden dies nicht tun. Nein, ich spreche nicht von den unglücklichen Umständen deiner Herkunft – natürlich beuge ich mich in all diesen Dingen dem Urteil des Herren, und da er es für angebracht hält, dich trotz des höllischen Schandfleckes auf deiner Familie in seinen Diensten zu haben, unterstütze ich seine Wahl vorbehaltlos. Stattdessen ist es vielmehr der Schatten, unter den dich deine eigenen Handlungen gestellt haben, Radovan, der verhindert, dass andere dich in einem so sympathischen Licht sehen, wie ich es immer getan habe. Kam nach dem bedauernswerten Vorfall mit dem Wein des Herrn je ein Wort der Verurteilung über meine Lippen? Nein, kam es nicht, Radovan!“

Wenn er meinen Namen noch einmal gesagt hätte, wäre es mir schwergefallen, ihm nicht mein besonders breites Grinsen zu zeigen, und das endete immer übel. Stattdessen atmete ich tief durch die Nase ein und zischte: „Du hast ihm gesagt, ich sei der derjenige gewesen, der den Seeleuten verraten hätte, dass Wein im Frachtraum lagerte.“ Ich wusste nicht, ob das stimmte, doch die Art, wie böse der Prinzipal mich nach seiner Unterredung mit Nicola angesehen hatte, war ein ziemlich guter Hinweis gewesen. Der Prinzipal hätte mir dankbar sein müssen. Ich bin der Einzige, der es ihm sagt, wenn er zu tief im purpurnen Meer schwimmt. Alles, was ich getan hatte, war – ganz zwanglos und in Hörweite der Mannschaft – zu erwähnen, dass eventuell ein paar Dutzend Flaschen guten chelischen Weines in der Kabine der roten Kutsche verstaut wären, die sie mit so viel Mühe in den oberen Lade­raum verfrachtet hatten. Diese Arbeit hätte sicher durstig gemacht, hatte ich – mehr oder weniger – beiläufig erwähnt. Wie hätte ich denn wissen sollen, dass der abstinente Kapitän den Rest des Weines über Bord werfen lassen würde? Ich konnte schließlich nicht der Einzige gewesen sein, der mitgehört hatte, wie er Cayden Cailean und all seine betrunkenen Diener verflucht hatte, während er seiner verkaterten Mannschaft Befehle zubrüllte.

Nicola hob in schlechter Nachahmung des Prinzipals eine Augenbraue, und ich wusste, dass ich richtig geraten hatte. Er sagte: „Der Herr wünschte, dass ich ihm einen wahrscheinlichen Grund für das Verschwinden seines persönlichen Vorrates nannte, und es war meine Pflicht zu gehorchen. Ich habe mich allerdings nicht schlecht über deinen Charakter oder über die Gewissheit deiner Schuld geäußert. Wie ich jedoch bereits gesagt habe, liegt es an deiner eigenen Unfähigkeit, wenn du das Vertrauen des Herrn verloren hast, und nicht an irgendeiner eingebildeten Konkurrenz meinerseits. Außerdem, während es dir gefällt, den Begriff ‚Diener‘ zu verunglimpfen, hat meine Familie seit Generationen voller Dankbarkeit den Herrschern von Egorian gedient, und ich bin nicht weniger stolz als mein Urgroßvater Orellius, der täglich die Stiefel und die Schwertscheide des großen Generals Fedele Elliendo polierte, mich den Bedürfnissen unseres geehrten Herrn und Meisters, Graf Varian Jeggare, anzunehmen.“

Ich wartete einen Moment, um zu sehen, ob Nicola sein Ziel aus den Augen verloren hatte oder sich bloß aufplusterte. Als er mich ansah, als erwarte er eine Antwort, klopfte ich ihm leicht auf den Arm und sagte: „Tja, Nicola, du hast mich erwischt.“

„Du verstehst also?“, fragte er zögernd.

„Voll und ganz“, antwortete ich und tätschelte ihm erneut den Arm.

„Ausgezeichnet“, sagte er. „Einen Moment lang fürchtete ich, du könntest die Beherrschung verlieren. Ich bin froh, dass wir diese Möglichkeit genutzt haben, uns auszusprechen. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich muss noch einige Dinge für die nächste Etappe der Reise des Herrn erstehen.“ Er zupfte am Revers seiner Jacke und wartete, ob ich ihm die Hand reichen würde. Was ich auch tat und ordentlich zudrückte, aber nicht so fest, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb.

„Danke, Nicola. Ich bin froh, dass wir diesen kleinen Plausch halten konnten.“ Ich winkte und schlenderte davon – dieses Schlendern hatte ich für ebensolche Gelegenheiten eingeübt – und klopfte auf die fette Börse, die ich ihm gerade stibitzt hatte. Sehr bald würde es Nicola sein, der die Beherrschung verlor.

Abgesehen von dem Geschrei der Sklavenhändler oben auf ihren Gerüsten ist der auffälligste Unterschied zwischen den Märkten von Caliphas und Egorian der Geruch von Knoblauch. Wir Chelaxianer mögen das Zeug. Wir ertränken nur nicht alles darin, wie es diese Ustalaver tun. Vielleicht sollte ich mich langsam daran gewöhnen, „wir Ustalaver“ zu sagen, da die Hälfte meines Blutes, die nicht direkt aus der Hölle stammt, gänzlich varisisch ist, vielleicht gänzlich ustalavisch. Ich würde meine Mutter fragen, aber wir haben nicht viel geredet, seit sie mich verkauft hat.

Knoblauch ist, wie der vielzitierte Nebel, eines dieser Dinge, die jeder unten im Süden mit Ustalav in Verbindung bringt. Da die Bevölkerung größtenteils varisisch ist, erwartet man solch eine gewisse Würze zusammen mit den Armreifen und Schleiertänzen, aber langsam begann ich mich zu fragen, was zuerst da war: der Knoblauch oder der Vampir?

Der Prinzipal ist nicht humorlos, obwohl er bei denen, die ihn nur flüchtig kennen, diesen Eindruck erweckt. Als er mir erzählte, dass die Bewohner von Ustalav zu jeder Mahlzeit Knoblauch essen, um Vampire abzuhalten, war ich mir nicht sicher, ob er mich auf den Arm nahm. Ich meine, klar, eine der Kisten, die Nicola auf seiner Inventarliste stehen hatte, war voller silberner Klingen und Armbrustbolzen, dazu noch Phiolen mit heiligem Wasser, Bündel von Eisenhut, all dieser Kram. Das beunruhigte mich nicht, da ich bereits einige Male mit Werratten aneinandergeraten war, als ich damals bei der Bocksherde war. Ich wusste also, dass es eher Pragmatismus denn Aberglaube war.

Aber mal im Ernst: Knoblauch? Wenn dieses Zeug wirklich wirken würde, würden die Vampire nur einmal an den Mauern von Caliphas schnuppern und niemals zurückkommen. Andererseits ist das vielleicht der Beweis, dass das Zeug wirkt, denn die meisten Vampirgeschichten, die ich gehört habe, spielen sich in irgendwelchen abgelegenen Dörfern ab. Vielleicht ziehen die Vampire von Ustalav Schäfer und Milchmädchen als Kost vor.

Was mich betrifft, bin ich mit einem Laib dieses körnigen Schwarzbrots und einer Kelle Pilzeintopf glücklich. Als ich den großen Markt erreichte, auf dem ich zuvor ein halbes Dutzend Wachleute für unsere Reise ins Inland ausgesucht hatte, lenkte mich etwas von meinem knurrenden Magen ab. Ich folgte der Melodie, bevor ich begriff, was mich anzog.

 

Zunächst konnte ich das Lied nicht von einem halben Dutzend anderer Weisen unterscheiden, die sich im Marktgetöse vermischten. Es gab einige kleine Gruppen von Straßenmusikanten, darunter auch eine Frau mit Opernstimme, die der Prinzipal sicher genossen hätte, wenn er nicht noch ins Elfenland starren würde – zweifellos berieselten ihn die hiesigen Adligen mit hiesigen Angelegenheiten. Ich ließ eine Münze in einen Korb neben einem jungen Mädchen fallen, das mit einem Ausdruck auf sein Hackbrett einhämmerte, der eher dazu gedacht war, Fliegen zu zerquetschen. Ich hielt einen Moment inne, um einem Gnom mit Backenbart zuzusehen, der auf einer Hirtenflöte spielte und um einen trommelnden Bären herumhüpfte. Abgesehen von mir und meinem Brötchengeber, war er der erste Nichtmensch, den ich in Caliphas gesehen hatte.

Das Lied wurde lauter als ich mich einem gewundenen Sträßchen näherte, das mit gestreiften Zelten gesäumt war. An jedes war ein Schild angebracht, einige mit varisischen Worten versehen, andere mit Bildern von Kristallkugeln, Zauberstäben, Karten und Kelchen. Ich kapierte. Das hier war die Mystikergasse, und durch die Öffnungen in den Zelten erspähte ich Handleser, Kristallkugelgucker, Knochenwerfer und Teesatzleser. Die meisten von ihnen waren alte Frauen, eine oder zwei auch jünger und schöner. Einer war ein gebrechlicher alter Mann, der einen purpurnen Turban und ein Pfund Schminke in dem vergeblichen Versuch trug, einem Vudrani-Mystiker zu ähneln. Er formte stumm ein Wort und zeigte mit einer knorrigen Klaue auf mich, doch ich ging weiter.

Das Lied war jetzt nahe genug, dass ich einige Wörter verstehen konnte. Hinter der letzten Biegung der Mystikergasse fand ich eine Gruppe von Städtern, die um ein weiteres, spitz zulaufendes Zelt herumstanden und mit ihren Händen zum Takt des Liedes klatschten. Ich drängte mich nach vorn, um einen besseren Blick zu erhaschen.

Der Sänger war ein junger Mann mit einem langen, schwarzen Schnurrbart und einem kleinen Bärtchen gleich unterhalb der Lippe. Seine Haut, sichtbar unter einer bestickten Weste, war gebräunt. Sein klarer Tenor verband sich mit der Melodie von einer kreischenden Fidel, die von einem schlanken, alten Mann mit grauem Haar und identischer Gesichtsbehaarung gespielt wurde. Sie und die anderen Musiker spielten auf einem ringförmigen Haufen ausgetretener Teppiche, während die Übrigen aus ihrem Clan sich unter das Publikum mischten und jeden dazu ermutigten, den Refrain mitzusingen. In dem Moment, als ich sah, wie sie sich unter den Zuschauern bewegten, wusste ich, was sie waren: Sczarni.

Über die ganze Welt verstreut, sind diese besonderen Clans von umherziehenden Varisiern Diebe, Landstreicher, Betrüger, Banditen, Beutelschneider, Mörder, Schmuggler und Halunken aller Couleur, von durchschnittlichem Grau bis zu Blutrot. Genau die Menschen, die ich mag.

Der Sczarni sang davon, durch Kiefernwälder zu laufen, über grüne Hügel zu wandern, im Nebel seiner Heimat zu baden, so etwas in der Art. Auch wenn ich nur die Hälfte der Worte verstand, konnte ich doch feststellen, dass es sich um ein fröhliches Lied handelte. Auch die Zuschauer mochten es, und sie sangen beim Refrain mit und klatschten zum Takt der drei Kistentrommeln. Als das Lied zu Ende war, überhäuften die Städter den Teppichring mit roten und silbernen Münzen. Ich nahm eine aus Nicolas Börse und warf sie hin, und erst, nachdem sie das Licht eingefangen hatte, erkannte ich, dass es eine aus Gold war. Was solls. Es war ein gutes Lied.

Die Farbe meines Geldes erweckte die Aufmerksamkeit einer der Sczarni-Frauen, die die Münzen einsammelten. Sie war so hübsch wie ein Frühlingsmorgen: Ein zarter Rotton zierte ihre Wangen, und sie trug gerade genug Farbe auf ihren Lidern, dass man hätte meinen können, eher die Natur denn Absicht hätte sie aufgetragen. Ihre Augen hatten die Farbe von frischem Moos, und als sie sich hinab beugte, um meine Münze aufzuheben, zog das Klingeln ihrer Armbänder meinen Blick auf ihre zarten Handgelenke.

Sie kniete dort für einen Moment und sah zu mir auf. Die Winkel ihres nicht geschminkten Mundes zuckten, und eine Sekunde lang wusste ich nicht zu sagen, ob es ein Lächeln oder ein spöttisches Grinsen war. Bevor ich mit einer meiner nützlichen varisischen Redewendungen herausplatzen konnte, rief ein Junge nach ihr.

Es war der Beutelschneider, den ich ins Hafenbecken getaucht hatte. Sein Haar war trocken, doch seine wollene Kleidung triefte noch immer, und ich sah, dass ein Stück graues Seegras an seiner Hose hing. Er spuckte ein paar Worte in Varisisch aus, von denen ich einige gut kannte. Ich zeigte ihm den Zinken, eine fiese Geste mit dem Zeigefinger und dem kleinen Finger an meiner Kehle. Es wirkt übler, wenn man weiß, wie wir in Cheliax Verbrecher hinrichten.

Der Bursche beschwerte sich lang und breit bei den Sczarni. Der junge Mann, der vorhin gesungen hatte, stellte ihm eine Frage, und wieder schnappte ich ein paar Worte auf: „Geld“ und „Fremder“. Da begriff ich, wie dumm es gewesen war, mein Gold aufblitzen zu lassen. Auch wenn sie nicht vor der Menge über mich herfallen würden, könnte ich einen langen Schwanz von Halsabschneidern hinter mir herziehen, wenn ich hier wegging.

Der grauhaarige Geiger sagte etwas, woraufhin das gesamte Lager der Sczarni in Gelächter ausbrach, doch das rot anlaufende Gesicht des Jungen sagte mir, dass der Witz auf seine Kosten ging, nicht auf meine.

„Wir stehlen nicht von denen, die freiwillig geben“, sagte die Schönheit vor mir. Ihr Taldani war ausgezeichnet, wenn auch mit starkem Akzent. „Dragos hat Recht. Du hast Milosch eine gute Lektion erteilt.“

Ich lächelte ein wenig und kratzte mir die Nase. „Und auch ein gutes Bad, hoffe ich.“

Einige der Sczarni lachten sofort und ebenso die anderen, nachdem der Geiger es übersetzt hatte. Milosch durchbohrte mich mit einem brennenden Blick.

„Ich heiße Malena“, sagte die Tänzerin. Ihr Haar war dunkler als eine Nacht bei Neumond, besetzt mit Juwelen, die wie Sterne zwischen den Wolken hervorblitzten.

„Radovan.“ Ich bot ihr eine vereinfachte Version einer dieser vornehmen Verbeugungen an, die der Prinzipal vor dem Spiegel übt, wenn er glaubt, dass keiner zusieht.

Malena musterte mich. „Du siehst aus wie ein Varisier“, sagte sie, „aber deine Kleidung ist die eines Ausländers.“ Ich hatte meine neuen roten Stiefel und die Jacke besonders lieb gewonnen. Alles war aus bestem chelischen Leder hergestellt und verbarg den Großteil meiner Arbeitsmittel. Ihr Kompliment machte die ständigen Diskussionen wett, die ich mit meinem Brötchengeber darüber auszufechten hatte, dass ich es vermied, die Jeggare-Livree zu tragen.

„Mein Name ist varisisch“, sagte ich. „Geboren wurde ich in Cheliax.“

„Aber deine Eltern stammen aus Ustalav?“

„Vielleicht.“ Ich zuckte mit den Schultern. Die Chancen dafür standen ziemlich gut, aber ich wusste nicht genug über meine Eltern, um eine Unterhaltung über sie zu führen, also wechselte ich das Thema.

„Ich mag dieses Lied“, sagte ich. „Wie heißt es?“

„Das ist ‚Der Prinz der Wölfe‘, ein sehr altes Lied“, antwortete sie. „Vili singt es gut.“ Ohne ihre Augen von mir abzuwenden, nickte sie in Richtung des Sängers, der mir diesen territorialen Blick zuwarf, den ich häufig sehe, wenn ich mit schönen Frauen spreche.