Der Malteser Falke

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Kapitel V Der Levantiner

Spade achtete nicht auf die Pistole. Er hob die Arme, lehnte sich zurück und verschränkte die Finger hinter dem Kopf. Sein Blick war weiter ausdruckslos auf Cairos dunkles Gesicht gerichtet.

Cairo hüstelte entschuldigend und lächelte nervös. Sein Mund hatte jetzt einiges von seiner Farbe verloren. Die dunklen Augen waren feucht, ein wenig verlegen und sehr ernst. »Ich habe die Absicht, Ihre Wohnung zu durchsuchen, Mr. Spade. Ich warne Sie. Sollten Sie versuchen, mich daran zu hindern, werde ich nicht zögern, Sie zu erschießen.«

»Nur zu.« Spades Stimme war ebenso ausdruckslos wie sein Gesicht.

»Darf ich Sie bitten, aufzustehen«, wies der Mann mit der Pistole ihn an und richtete die Pistole auf Spades breite Brust. »Ich muss mich vergewissern, dass Sie keine Waffe bei sich tragen.«

Spade stand auf, schob den Stuhl mit den Waden zurück und streckte die Beine durch.

Cairo trat hinter ihn, wechselte die Pistole von der rechten in die linke Hand und hob Spades Sakko an, um einen Blick darunter zu werfen. Dann hielt er die Waffe an seinen Rücken, schob den freien Arm um ihn herum und tastete seine Brust ab. Sein Gesicht befand sich nur wenige Zentimeter unter und hinter Spades rechtem Ellbogen.

Spades Ellbogen ging nach unten, der restliche Körper wirbelte rechts herum. Cairos Kopf fuhr zurück, aber nicht weit genug: Spades rechter Hacken auf dem Lackschuh des kleinen Mannes sorgte dafür, dass er der Flugbahn des Ellbogens nicht ausweichen konnte. Er traf ihn unter dem Wangenknochen. Cairo taumelte und wäre gewiss gestürzt, hätte Spades Fuß ihn nicht festgenagelt. Spades Arm flog weiter, an dem verblüfften dunklen Gesicht vorbei, und streckte sich, um nach der Pistole zu greifen. Als Spades Finger sie berührten, ließ Cairo los. In seiner Hand wirkte sie winzig.

Spade nahm den Fuß von Cairos Schuh und drehte sich ganz zu ihm um. Mit der linken Hand packte er den kleinen Mann am Revers, wobei das mit dem Rubin verzierte grüne Halstuch hervorquoll, und steckte mit der anderen Hand die erbeutete Waffe in seine Sakkotasche. Spades gelb-graue Augen waren finster, und um den Mund zeigte sich ein Anflug von Missmut.

Cairo verzog das Gesicht vor Schmerz und Enttäuschung. In seinen Augen schimmerten Tränen. Die Gesichtsfarbe erinnerte an poliertes Blei, bis auf die Stelle, wo der Ellbogen die Wange gerötet hatte.

Spade drehte ihn mit der Hand am Revers langsam herum und schob ihn rückwärts, bis er dicht vor dem Stuhl stand, auf dem er eben noch gesessen hatte. Ein verwirrter Ausdruck trat an die Stelle des Schmerzes in dem bleifarbenen Gesicht. Dann lächelte Spade. Das Lächeln war sanft, fast träumerisch. Seine rechte Schulter hob sich ein wenig und der angewinkelte rechte Arm mit ihr. Faust, Handgelenk, Unterarm, Ellbogen und Oberarm bildeten eine feste Einheit, die allein von der lockeren Schulter gelenkt wurde. Dann traf die Faust Cairos Gesicht und bedeckte für einen Moment Kinn, Mundwinkel und den größten Teil der Wange zwischen Jochbein und Kiefer.

Cairo schloss die Augen und verlor das Bewusstsein.

Spade ließ seinen schlaffen Körper auf den Stuhl sinken, wo er, alle viere von sich gestreckt, mit offenem Mund und über der Rückenlehne baumelndem Kopf liegen blieb.

Methodisch leerte Spade nacheinander alle Taschen des leblosen Mannes und breitete den Inhalt auf dem Schreibtisch aus. Anschließend kehrte er zu seinem Stuhl zurück, zündete sich eine selbstgedrehte Zigarette an und nahm seine Beute in Augenschein. Ohne Hast, sorgfältig und gründlich, prüfte er jedes einzelne Stück.

Als Erstes eine große Brieftasche aus dunklem, weichem Leder. Sie enthielt dreihundertfünfundsechzig Dollar in US-amerikanischen Geldnoten unterschiedlicher Größen; drei englische Fünf-Pfund-Scheine; einen griechischen Pass auf Cairos Namen mit Foto und zahlreichen Visum-Stempeln; fünf zusammengefaltete rosafarbene Bögen Luftpostpapier mit offenbar arabischen Schriftzeichen; einen aus der Zeitung gerissenen Artikel über den Fund von Archers und Thursbys Leichen; die postkartengroße Fotografie einer dunkelhäutigen Frau mit verwegen grausamem Blick, zärtlichen Lippen und spöttisch gesenkten Mundwinkeln; ein großes, mit den Jahren verblichenes Taschentuch aus Seide, ein wenig fadenscheinig in den Falten; ein paar von Mr. Joel Cairos geprägten Visitenkarten sowie die Eintrittskarte für einen Parkettplatz im Geary Theatre, gültig an diesem Abend.

Abgesehen davon gab es noch drei weitere Taschentücher aus farbiger Seide, die alle nach Chypre dufteten; eine Platinuhr, Marke Longines, an einer Kette aus Platin und Rotgold, mit einem birnenförmigen Anhänger aus einem hellen Metall; eine Handvoll amerikanischer, britischer, französischer und chinesischer Münzen; einen Ring mit einem halben Dutzend Schlüsseln; einen silbernen, mit Onyx verzierten Füllfederhalter; einen Metallkamm in einem Kunstleder-Etui; eine Nagelfeile in einem Kunstleder-Etui; einen kleinen Stadtplan von San Francisco; einen Gepäckschein der Southern-Pacific-Eisenbahngesellschaft; eine angebrochene Packung Veilchenpastillen; die Visitenkarte eines Versicherungsagenten aus Schanghai sowie vier Bögen Schreibpapier des Hotel Belvedere, einer davon in sauberer kleiner Blockschrift mit Samuel Spades Namen und den Adressen seines Büros und seiner Privatwohnung beschriftet.

Nachdem er alles aufmerksam untersucht hatte – er öffnete sogar den Rückendeckel der Uhr, um zu sehen, ob in ihrem Innern etwas versteckt war –, beugte Spade sich vor, nahm das Handgelenk des reglosen Mannes zwischen Daumen und Zeigefinger und fühlte seinen Puls. Dann ließ er es wieder fallen, lehnte sich zurück und drehte sich eine neue Zigarette. Während er rauchte, war sein Gesicht bis auf ein gelegentliches unwillkürliches Zucken der Unterlippe so still und in sich gekehrt, dass es beinahe geistesabwesend wirkte. Doch als Cairo plötzlich stöhnte und seine Lider flatterten, wurde Spades Gesichtsausdruck wieder höflich, und er legte den Hauch eines freundlichen Lächelns in Augen und Mund.

Joel Cairo kam langsam zu sich. Zuerst öffneten sich seine Augen, doch es verging eine volle Minute, bevor sie einen bestimmten Punkt an der Decke fixierten. Er schloss den Mund und schluckte, atmete dann schwer durch die Nase aus. Er zog einen Fuß heran und drehte die auf dem Oberschenkel ruhende Hand herum. Schließlich hob er den Kopf von der Stuhllehne. Er sah sich verwirrt um, entdeckte Spade und richtete sich auf. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, zuckte schmerzlich zusammen und fuhr mit der Hand zu der Stelle, wo Spades Faust ihn erwischt hatte und wo jetzt ein frischer Bluterguss prangte.

Gequält stieß er zwischen den Zähnen hervor: »Ich hätte Sie erschießen können, Mr. Spade.«

»Sie hätten es versuchen können«, räumte Spade ein.

»Ich habe es nicht versucht.«

»Ich weiß.«

»Warum haben Sie mich dann niedergeschlagen, obwohl Sie mir die Waffe bereits abgenommen hatten?«

»Tut mir leid«, sagte Spade und grinste wie ein Wolf bis zu den Backenzähnen, »aber stellen Sie sich vor, wie peinlich die Entdeckung war, dass Ihr Fünftausend-Dollar-Angebot nichts als warme Luft war.«

»Sie irren, Mr. Spade. Ich halte mein Angebot aufrecht.«

»Was Sie nicht sagen!« Spades Überraschung war echt.

»Ich bin bereit, fünftausend Dollar für die Erstattung der Figur zu zahlen.« Cairo nahm die Hand von seinem geschwollenen Gesicht und richtete sich auf, geziert und geschäftsmäßig wie zuvor. »Haben Sie sie hier?«

»Nein.«

Cairo reagierte mit außerordentlich höflicher Skepsis. »Wenn sie nicht hier ist, warum haben Sie dann Ihr Leben aufs Spiel gesetzt, indem Sie sich einer Durchsuchung widersetzten?«

»Soll ich etwa seelenruhig zusehen, wie wildfremde Leute hier reinkommen und mich bedrohen?« Spade wies mit einem Finger auf Cairos Sachen, die noch auf seinem Schreibtisch lagen. »Sie haben meine Privatadresse. Waren Sie da auch schon?«

»Ja, Mr. Spade. Ich bin zwar bereit, fünftausend Dollar für die Wiederbeschaffung der Figur zu zahlen, aber es ist doch sicher verständlich, dass ich meinem Auftraggeber diese Ausgabe nach Möglichkeit ersparen wollte.«

»Wer ist es?«

Cairo schüttelte den Kopf und lächelte. »Sie müssen mir verzeihen, wenn ich diese Frage nicht beantworte.«

»Muss ich?« Spade beugte sich vor und lächelte mit schmalen Lippen. »Ich habe Sie am Schlafittchen, Cairo. Sie sind hier reinspaziert und haben sich mächtig in die beiden Morde von gestern Abend verstrickt. Die Polizei wird ihre helle Freude an Ihnen haben. Tja, und jetzt müssen Sie sich wohl mit mir arrangieren, sonst …«

Cairos Lächeln war zurückhaltend und in keiner Weise beunruhigt. »Ich habe umfassende Erkundigungen über Sie eingeholt, bevor ich etwas unternommen habe«, sagte er. »Man hat mir versichert, dass Sie viel zu vernünftig sind, um mit übermäßigen Skrupeln eine profitable Geschäftsbeziehung zu gefährden.«

Spade zuckte die Schultern. »Was für profitable Geschäftsbeziehungen?«

»Ich habe Ihnen fünftausend Dollar für die …«

Spade klopfte mit dem Handrücken auf Cairos Brieftasche und sagte: »Hier sind nicht annähernd fünftausend Dollar drin. Sie reden nur. Sie könnten mir eine Million bieten, damit ich Ihnen einen lila Elefanten beschaffe, doch was würde mir das nützen?«

»Verstehe, verstehe«, sagte Cairo nachdenklich. Er verdrehte die Augen. »Sie möchten eine Garantie dafür, dass es mir ernst ist.« Er strich sich mit der Fingerspitze über die rote Unterlippe. »Wäre Ihnen mit einem Vorschuss gedient?«

»Schon möglich.«

Cairo streckte die Hand nach seiner Brieftasche aus, verharrte, zog die Hand wieder zurück und fragte: »Wären Sie mit, sagen wir, hundert Dollar einverstanden?«

 

Spade griff nach der Brieftasche und nahm hundert Dollar heraus. Dann runzelte er die Stirn, sagte: »Oder lieber zweihundert«, und griff noch einmal zu.

Cairo sagte nichts.

»Ihre erste Vermutung war, dass ich mich im Besitz des Vogels befinde«, sagte Spade, nachdem er die zweihundert Dollar eingesteckt und die Brieftasche wieder auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Dem ist nicht so. Was ist Ihre zweite?«

»Dass Sie wissen, wo er sich befindet, oder – wenn nicht – dass Sie ihn wenigstens wiederbeschaffen können.«

Spade sagte weder Ja noch Nein – er schien kaum zugehört zu haben. Er fragte: »Welchen Beweis haben Sie dafür, dass Ihr Mann der rechtmäßige Besitzer ist?«

»So gut wie keinen, leider. Höchstens, dass auch niemand anderes einen rechtmäßigen Anspruch anmelden könnte. Und wenn Sie so viel über die Sache wissen, wie ich vermute – denn sonst wäre ich nicht hier –, ist Ihnen auch klar, dass die Art und Weise, wie man ihm die Figur entwendet hat, der beste Beweis dafür ist, dass er mehr Recht als jeder andere darauf hat. Mit Sicherheit aber mehr Recht als Thursby.«

»Was ist mit seiner Tochter?«, fragte Spade.

Cairo riss vor Erregung Mund und Augen auf, sein Gesicht färbte sich rot und seine Stimme wurde schrill. »Er ist nicht der Besitzer!«

Spade sagte: »So, so«, sanft und vieldeutig.

»Befindet er sich hier, in San Francisco?«, fragte Cairo weniger schrill, aber immer noch erregt.

Spade blinzelte schläfrig und schlug vor: »Ich glaube, es wäre besser, wenn wir unsere Karten endlich auf den Tisch legen.«

Cairo riss sich mit einem kleinen Ruck zusammen. »Dieser Ansicht bin ich nicht.« Seine Stimme klang jetzt aalglatt. »Sollten Sie mehr wissen als ich, werde ich von Ihrem Wissen profitieren, und dasselbe gilt umgekehrt auch für Sie, bis zu einer Summe von fünftausend Dollar. Falls nicht, habe ich einen Fehler gemacht, als ich mich an Sie wandte. Ihrem Vorschlag zu folgen, würde den Fehler nur noch größer machen.«

Spade nickte gleichgültig. Er deutete mit einer Handbewegung auf den Schreibtisch und sagte: »Hier sind Ihre Sachen.« Während Cairo sie wieder in seine Taschen verteilte, fuhr er fort: »Wir sind uns also einig – Sie zahlen meine Spesen, und ich treibe den schwarzen Vogel auf, plus fünftausend Dollar bei Übergabe?«

»Ja, Mr. Spade, das heißt fünftausend abzüglich aller vorab geleisteten Zahlungen – fünftausend insgesamt.«

»Na schön. Das ist nur legitim.« Spades Gesicht blieb ernst, bis auf die Fältchen in den Augenwinkeln. »Sie bezahlen mich nicht für einen Mord oder Einbruch, sondern dafür, mit weitgehend legalen Mitteln den schwarzen Vogel aufzutreiben.«

»Wenn es sich einrichten lässt«, sagte Cairo. Auch sein Gesicht war ernst, bis auf die Augen. »Vor allem legen wir Wert auf Diskretion.« Er stand auf und griff nach seinem Hut. »Ich wohne im Hotel Belvedere, falls Sie mich zu sprechen wünschen – Zimmer 635. Ich bin zuversichtlich, dass unsere Zusammenarbeit zur vollen Zufriedenheit für beide Seiten verlaufen wird, Mr. Spade.« Er zögerte. »Dürfte ich noch um meine Pistole bitten?«

»Klar. Ganz vergessen.«

Spade nahm die Pistole aus der Sakkotasche und reichte sie Cairo.

Cairo richtete sie auf Spades Brust.

»Wenn Sie bitte die Hände auf den Schreibtisch legen würden«, sagte Cairo sehr ernst. »Ich habe die Absicht, Ihr Büro zu durchsuchen.«

»Zum Henker!«, sagte Spade. Dann lachte er kehlig und sagte: »Na schön. Legen Sie los. Ich werde Sie nicht hindern.«

Kapitel VI Der zu klein geratene Schatten

Nachdem Cairo gegangen war, blieb Spade noch eine halbe Stunde sitzen, allein, still, mit gerunzelter Stirn. Dann sagte er laut, als wollte er ein Problem abtun: »Immerhin zahlen sie dafür«, und nahm eine Flasche Manhattan-Cocktail und einen Pappbecher aus der Schublade seines Schreibtischs. Er füllte ihn zu zwei Dritteln, trank, stellte die Flasche in den Schreibtisch zurück, warf den Becher in den Abfalleimer, setzte den Hut auf, zog den Mantel an, löschte das Licht und ging nach unten auf die abendlich erleuchtete Straße.

Ein etwas zu klein geratener junger Mann von zwanzig oder einundzwanzig Jahren mit flotter grauer Mütze und Mantel stand müßig an der Ecke unterhalb von Spades Bürogebäude.

Spade ging die Sutter Street hinauf bis Ecke Kearny Street, wo er einen Zigarrenladen betrat und zwei Beutel Bull Durham kaufte. Als er wieder herauskam, war der Junge einer von vier Leuten, die an der gegenüberliegenden Ecke auf die Straßenbahn warteten.

Spade aß im Herbert’s Grill in der Powell Street zu Abend. Als er um Viertel vor acht das Lokal wieder verließ, betrachtete der Junge die Auslage eines nahe gelegenen Herrenausstatters.

Spade ging zum Belvedere Hotel und fragte am Empfang nach Mr. Cairo. Man sagte ihm, Cairo sei ausgegangen. Der junge Mann saß in einem Sessel am anderen Ende der Lobby.

Spade ging zum Geary Theatre, konnte Cairo im Foyer nicht finden und postierte sich am Bordstein vor dem Theater. Der Junge lungerte mit anderen Taugenichtsen vor Marquard’s Restaurant herum, etwas weiter die Straße hinunter.

Um zehn nach acht erschien Joel Cairo. Mit seinen federnden Trippelschritten kam er die Geary Street entlang. Er bemerkte den Privatdetektiv erst, als der ihm auf die Schulter klopfte. Einen Augenblick wirkte er überrascht, dann sagte er: »Ach ja, richtig, Sie haben die Theaterkarte gesehen.«

»Hm-mh. Ich würde Ihnen gern was zeigen.« Spade zog Cairo mit sich bis zum Bordstein, ein bisschen weg von den übrigen Theaterbesuchern, die auf Einlass warteten. »Den Jungen mit der Mütze da, vor dem Marquard’s.«

Cairo murmelte: »Verstehe«, und warf einen Blick auf seine Uhr. Dann sah er die Geary Street hinunter. Er betrachtete das Theaterplakat vor sich, auf dem George Arliss als Shylock zu sehen war, und verdrehte die dunklen Augen, bis sie den Jungen mit der Mütze erfassten, das kühle blasse Gesicht mit den geschwungenen Wimpern über den gesenkten Augen.

»Wer ist das?«, fragte Spade.

Cairo lächelte zu Spade auf. »Ich kenne ihn nicht.«

»Er ist mir durch die halbe Stadt gefolgt.«

Cairo fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. »Halten Sie es dann für klug, dass er uns zusammen sieht?«

»Woher soll ich das wissen?«, gab Spade zurück. »Jetzt ist es zu spät.«

Cairo nahm den Hut ab und strich sich mit der behandschuhten Hand über das Haar. Dann setzte er den Hut sorgfältig wieder auf und erklärte mit allem Anschein von Aufrichtigkeit: »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich ihn nicht kenne, Mr. Spade. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, dass ich nichts mit ihm zu tun habe. Sie sind der Einzige, den ich um Unterstützung gebeten habe, mein Ehrenwort.«

»Dann gehört er also zu den anderen?«

»Möglich.«

»Ich wollte es lediglich wissen, denn wenn er mir lästig wird, könnte es sein, dass ich gegen ihn vorgehen muss.«

»Machen Sie es so, wie es Ihnen richtig erscheint. Mein Freund ist er nicht.«

»Das ist gut. Ihre Vorstellung fängt gleich an. Wiedersehen«, sagte Spade, überquerte die Straße und stieg in eine Straßenbahn Richtung Westen.

Der Junge mit der Mütze stieg in dieselbe Bahn.

Spade stieg in der Hyde Street aus und ging zu seiner Wohnung. Es herrschte keine große Unordnung, trotzdem sah er auf den ersten Blick, dass sie durchsucht worden war. Nachdem Spade sich gewaschen, ein frisches Hemd angezogen und einen neuen Kragen umgebunden hatte, verließ er die Wohnung wieder, ging zur Sutter Street und nahm eine Straßenbahn nach Westen. Der Junge nahm sie ebenfalls.

Etwa sechs Blocks vom Coronet entfernt stieg Spade aus und betrat den Eingang eines hohen braunen Mietshauses. Dort drückte er drei Klingeln auf einmal. Das Haustürschloss summte. Er trat ein, ging an Fahrstuhl und Treppe vorbei durch einen langen Flur mit gelben Wänden bis zur Rückseite des Hauses, wo er auf eine Tür mit einem Yale-Schloss stieß. Sie führte auf einen kleinen Hof, und von dort kam er in eine Seitengasse, der er zwei Blocks weit folgte. Dann ging er über die California Street zum Coronet. Es war kurz vor halb zehn.

Die Lebhaftigkeit, mit der Brigid O’Shaughnessy ihn begrüßte, zeugte davon, dass sie nicht sicher gewesen war, ob er kommen würde. Sie trug ein Satinkleid in einem Blau, das man Artoise nannte in dieser Saison – die Träger mit blauem Mondstein besetzt, Schuhe und Strümpfe ebenfalls in Artoise.

Der rot-weiße Salon war mittlerweile aufgeräumt und mit Blumen in niedrigen, schwarz-silbernen Keramikvasen geschmückt. Drei kleine Holzscheite mit rauer Rinde brannten im Kamin. Spade schaute in die Flammen, während sie seinen Hut und seinen Mantel aufhängte.

»Bringen Sie gute Nachrichten?«, fragte sie, als sie wieder hereinkam. Hinter ihrem Lächeln flackerte Nervosität, sie hielt den Atem an.

»Wir müssen nichts preisgeben, was nicht schon bekannt ist.«

»Die Polizei muss also nichts über mich erfahren?«

»Nein.«

Sie seufzte erleichtert und setzte sich auf das Walnuss-Sofa. Ihr Gesicht entspannte sich ebenso wie der Rest ihres Körpers. Sie lächelte bewundernd zu ihm auf. »Wie um Himmels willen haben Sie das geschafft?«, fragte sie, mehr verwundert als neugierig.

»Die meisten Dinge in San Francisco kann man kaufen, oder man nimmt sie sich einfach.«

»Und Sie werden auch nicht in Schwierigkeiten geraten? Nehmen Sie doch Platz.« Sie rutschte ein Stück zur Seite.

»Solange sie sich in Grenzen halten, habe ich gegen Schwierigkeiten nichts einzuwenden«, sagte er mit einem Anflug von Selbstgefälligkeit.

Er stand neben dem Kamin und blickte auf sie herab. Seine Augen studierten, maßen und bewerteten sie unverhohlen. Sie errötete unter diesem offen prüfenden Blick, wirkte aber selbstbewusster als zuvor, mit einem Rest von Scheu in den Augen, der ihr gut stand. Er rührte sich nicht, bis klar war, dass er ihre Einladung, sich neben sie zu setzen, ignorieren würde – dann erst ging er zum Sofa.

»Sie sind nicht die, für die Sie sich ausgeben, habe ich recht?«, sagte er, während er sich setzte.

»Ich weiß nicht genau, was Sie meinen«, antwortete sie mit leiser Stimme und sah ihn verwirrt an.

»Das Schulmädchen-Getue«, erklärte er. »Stammeln, erröten und so weiter.«

Sie errötete und erwiderte hastig, ohne ihn anzusehen: »Ich habe Ihnen heute Nachmittag schon gesagt, was für ein schlechter Mensch ich war – schlechter, als Sie es sich vorstellen können.«

»Genau das meine ich«, sagte er. »Sie haben es mir heute Nachmittag gesagt, mit denselben Worten, in demselben Tonfall. Es ist eine Rede, die Sie auswendig gelernt haben.«

Einen Moment lang wirkte sie so verwirrt, dass es aussah, als würde sie in Tränen ausbrechen, doch dann lachte sie und sagte: »Na schön, Mr. Spade, dann bin ich eben nicht die, für die ich mich ausgebe. In Wirklichkeit bin ich achtzig Jahre alt, unvorstellbar böse und von Beruf Eisengießerin. Aber wenn es eine Rolle ist, dann eine, in die ich hineingewachsen bin, deshalb erwarten Sie sicher nicht, dass ich sie ganz ablege, oder?«

»Nein, nein, schon gut«, versicherte er ihr. »Allerdings wäre es auch nicht in Ordnung, wenn Sie tatsächlich das Unschuldslamm wären, als das Sie sich ausgeben. Dann kämen wir ja nie von der Stelle.«

»Dann werde ich kein Unschuldslamm sein«, versprach sie und legte die Hand aufs Herz.

»Ich habe Joel Cairo heute Abend getroffen«, sagte er beiläufig, wie jemand, der höflich Konversation machen will.

Die Unbekümmertheit verschwand aus ihrem Gesicht. Sie starrte ihn von der Seite an. Ihr Blick wurde erst ängstlich, dann vorsichtig. Er streckte die Beine aus und betrachtete seine übereinandergeschlagenen Füße. Seinem Gesicht war nicht anzumerken, ob er über irgendetwas nachdachte.

Nach einer langen Pause fragte sie unbehaglich:

»Sie … Sie kennen ihn?«

»Ich bin ihm heute Abend begegnet.« Spade sah nicht auf und behielt seinen beiläufigen Plauderton bei. »Er war auf dem Weg zu George Arliss.«

»Sie haben sich mit ihm unterhalten?«

»Nur ein oder zwei Minuten, bis die Vorstellung begann.«

Sie stand auf und trat zum Kamin, um im Feuer zu stochern. Dann verrückte sie eine Figur auf dem Kaminsims, ging durchs Zimmer, um eine Schachtel Zigaretten von einem Beistelltisch am anderen Ende zu holen, zupfte einen Vorhang glatt und kehrte zu ihrem Platz zurück. Ihr Gesicht war jetzt wieder glatt und sorglos.

 

Spade grinste sie von der Seite an und sagte: »Sie sind gut. Sehr gut.«

Ihr Ausdruck veränderte sich nicht. Ruhig fragte sie: »Was hat er gesagt?«

»Worüber?«

Sie zögerte. »Über mich.«

»Nichts.« Spade wandte sich ihr zu und gab ihr Feuer. Seine Augen glänzten in dem wie aus Holz geschnitzten Satansgesicht.

»Und was hat er sonst gesagt?«, fragte sie halb spielerisch, halb schmollend.

»Er hat mir fünftausend Dollar für den schwarzen Vogel geboten.«

Sie fuhr zusammen, ihre Zähne vergruben sich in der Zigarette. Sie warf einen kurzen, erschreckten Blick auf Spade und wandte sich wieder ab.

»Sie wollen jetzt nicht noch einmal im Feuer rumstochern und das Zimmer aufräumen, oder?«, fragte er lässig.

Sie lachte ihr klares, fröhliches Lachen, ließ das aufgeweichte Ende der Zigarette in den Aschenbecher fallen und richtete ihren klaren, fröhlichen Blick auf ihn. »Keine Sorge«, versprach sie. »Was haben Sie geantwortet?«

»Fünftausend Dollar ist ein Haufen Geld.«

Sie lächelte, doch als er sie unverwandt ernst musterte, wurde ihr Lächeln schwächer und löste sich schließlich ganz auf. An seine Stelle trat ein verletzter, verwirrter Ausdruck. »Sie ziehen nicht ernsthaft in Erwägung, darauf einzugehen, oder?«, fragte sie.

»Warum nicht? Fünftausend Dollar ist ein Haufen Geld.«

»Aber Mr. Spade, Sie haben versprochen, mir zu helfen.« Sie legte ihm beide Hände auf den Arm. »Ich habe Ihnen vertraut. Sie können doch nicht …« Sie brach ab, zog die Hände zurück und verschränkte nervös die Finger ineinander.

Spade lächelte freundlich in ihre bekümmerten Augen. »Ich will lieber nicht so genau wissen, wie sehr Sie mir vertraut haben«, sagte er. »Ich habe versprochen, Ihnen zu helfen – korrekt –, aber Sie haben nichts von irgendwelchen schwarzen Vögeln erwähnt.«

»Aber Sie müssen es doch gewusst haben … und Sie haben es nur einfach nicht erwähnt. Jetzt jedenfalls wissen Sie es. Sie werden doch nicht … Sie können mich doch nicht so behandeln.« Ihre Augen waren ein einziges kobaltblaues Flehen.

»Fünftausend Dollar ist ein Haufen Geld«, sagte er zum dritten Mal.

Sie hob Schultern und Hände und ließ sie dann wieder fallen, mit einer Geste, die ihre Niederlage zu akzeptieren schien. »Das stimmt«, räumte sie mit leiser, tonloser Stimme ein. »Erheblich mehr, als ich Ihnen anbieten könnte, falls ich für Ihre Loyalität bezahlen muss.«

Spade lachte. Das Lachen war kurz und ein wenig bitter. »Das ist wirklich gut«, sagte er. »Und das aus Ihrem Mund. Was haben Sie mir denn angeboten außer Geld? Haben Sie mir Vertrauen geschenkt? Die Wahrheit gesagt? Mir irgendwie geholfen, damit ich Ihnen helfen kann? Haben Sie nicht auch versucht, meine Loyalität mit Geld zu erkaufen und sonst nichts? Nun, wenn ich schon mit meiner Loyalität hausieren gehen muss, warum soll ich sie dann nicht an den Höchstbietenden verscherbeln?«

»Ich habe Ihnen alles Geld gegeben, das ich hatte.« Tränen schimmerten in den von weißen Ringen umgebenen Augen. Ihre Stimme war rau und zitterte. »Ich habe mich Ihrer Gnade ausgeliefert, Ihnen gesagt, dass ich ohne Ihre Hilfe verloren bin. Was muss ich denn noch tun?« Plötzlich rückte sie auf dem Sofa näher an ihn heran und rief zornig: »Kann ich Sie mit meinem Körper kaufen?«

Ihre Gesichter waren jetzt nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Spade umfasste ihre Wangen mit beiden Händen und küsste sie grob und verächtlich auf den Mund. Dann lehnte er sich zurück und sagte: »Ich werde drüber nachdenken.« Sein Gesicht war hart und wütend.

Sie saß immer noch da und berührte ihr starres Gesicht, wo seine Hände es verlassen hatten.

Er stand auf und sagte: »Lieber Himmel! Das hat doch alles keinen Sinn.« Er machte zwei Schritte auf den Kamin zu und blieb dann stehen, starrte finster auf die brennenden Scheite und knirschte mit den Zähnen.

Sie rührte sich nicht.

Er drehte sich zu ihr um. Die beiden senkrechten Falten über seiner Nase bildeten tiefe Kerben zwischen geröteten Wülsten. »Sie können mich mal mit Ihrer Aufrichtigkeit«, sagte er, um eine ruhige Stimme bemüht. »Es ist mir egal, welche Tricks Sie anwenden oder welche Geheimnisse Sie haben, aber ich brauche einen Beweis dafür, dass Sie wissen, was Sie tun.«

»Das weiß ich sehr genau. Bitte glauben Sie mir, und auch, dass es so am besten ist und …«

»Zeigen Sie es mir«, befahl er. »Ich bin bereit, Ihnen zu helfen. Bislang habe ich getan, was ich konnte. Notfalls mache ich mit verbundenen Augen weiter, aber nur, wenn ich mehr Vertrauen zu Ihnen habe als im Augenblick. Sie müssen mich überzeugen, dass Sie wissen, worum es hier geht, und sich nicht einfach nur durchschummeln, in der Hoffnung, dass am Ende schon alles gut ausgehen wird.«

»Können Sie mir nicht noch ein kleines bisschen länger vertrauen?«

»Wie viel ist ein bisschen? Und worauf warten Sie?«

Sie biss sich auf die Lippe und senkte den Blick. »Ich muss mit Joel Cairo reden«, sagte sie kaum hörbar.

»Sie können sich noch heute Abend mit ihm treffen«, sagte Spade und warf einen Blick auf seine Uhr. »Die Theatervorstellung ist gleich zu Ende. Wir können ihn in seinem Hotel anrufen.«

Alarmiert hob sie den Blick. »Aber er darf nicht hierher kommen. Ich kann nicht riskieren, dass er weiß, wo ich bin. Ich habe Angst.«

»Dann bei mir«, schlug Spade vor.

Sie zögerte, ihre Mundwinkel zuckten. Dann fragte sie: »Glauben Sie, er würde dorthin kommen?«

Spade nickte.

»Also gut«, rief sie aus und sprang auf, die Augen groß und leuchtend. »Wollen wir gleich los?«

Sie lief in den Raum nebenan. Spade schlenderte zu dem Tisch in der Ecke und zog leise die Schublade auf. Sie enthielt zwei Kartenspiele, einen Block mit Punktekarten für Bridge, eine Messingschraube, ein Stück rote Kordel und einen goldenen Stift. Er hatte die Schublade wieder geschlossen und war dabei, sich eine Zigarette anzuzünden, als sie zurückkam. Sie trug einen kleinen schwarzen Hut und einen grauen Ledermantel und hatte seinen Hut und Mantel über dem Arm.

Ihr Taxi bremste hinter einem dunklen Wagen, der direkt vor Spades Hauseingang stand. Iva Archer saß allein in dem Wagen. Spade zog im Vorbeigehen den Hut und betrat mit Brigid O’Shaughnessy das Gebäude. In der Eingangshalle blieb er vor einer der Bänke stehen und fragte: »Macht es Ihnen was aus, hier einen Moment zu warten? Es wird nicht lange dauern.«

»Kein Problem«, sagte Brigid O’Shaughnessy und nahm Platz. »Lassen Sie sich ruhig Zeit.«

Spade ging hinaus zu dem dunklen Wagen. Als er die Tür öffnete, sagte Iva hastig: »Ich muss mit dir reden, Sam. Kann ich reinkommen?« Ihr Gesicht war blass und nervös.

»Im Moment nicht.«

Iva stieß die Zähne gegeneinander und fragte scharf: »Wer ist sie?«

»Ich habe nur eine Sekunde Zeit, Iva«, sagte Spade geduldig. »Worum geht es?«

»Wer ist sie?«, wiederholte Iva und deutete mit dem Kinn auf den Hauseingang.

Er wandte den Blick von ihr ab und sah die Straße hinab. Vor einer Autowerkstatt, an der nächsten Straßenecke, lehnte ein etwas zu klein geratener junger Mann von zwanzig oder einundzwanzig Jahren mit flotter grauer Mütze und Mantel an einer Wand. Spade runzelte die Stirn und wandte seinen Blick wieder Ivas beharrlichem Gesicht zu. »Was ist los?«, fragte er. »Ist was passiert? Du solltest so spät am Abend nicht herkommen.«

»Das glaube ich allmählich auch«, klagte sie. »Du hast mir gesagt, ich darf nicht ins Büro kommen, und jetzt darf ich auch nicht hierher kommen. Soll das heißen, dass ich dich nicht belästigen soll? Wenn es das ist, sag es mir lieber geradeheraus.«

»Iva, du hast kein Recht, dich so aufzuführen.«

»Das weiß ich selbst. Offenbar habe ich überhaupt keine Rechte, wenn es um dich geht. Ich habe mir eingebildet, es wäre anders. Ich dachte, wenn du wenigstens so tun könntest, als würdest du mich lieben …«

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