Der Malteser Falke

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Kapitel IV Der schwarze Vogel



Miss Wonderly trug ein grünes Kreppkleid mit Gürtel, als sie die Tür des Apartments 1001 im Coronet öffnete. Ihr Gesicht war erhitzt. Das dunkelrote, ein wenig zerzauste Haar war auf der linken Seite gescheitelt und fiel lose über die rechte Schläfe.



Spade nahm den Hut ab und sagte: »Guten Morgen.«



Auf ihr Gesicht trat ein schwacher Widerschein von seinem Lächeln, doch ihre blauen Augen, die fast violett waren, blieben besorgt. Sie senkte den Kopf und sagte mit gedämpfter, schüchterner Stimme: »Kommen Sie herein, Mr. Spade.«



Sie führte ihn an den offenen Küchen-, Bad- und Schlafzimmertüren vorbei in einen weiß und rot gehaltenen Salon. Sie bat die Unordnung zu entschuldigen: »Ein grässliches Durcheinander. Ich bin noch beim Auspacken.«



Sie legte seinen Hut auf einen Tisch und setzte sich auf ein Sofa aus Walnussholz. Er nahm ihr gegenüber auf einem Stuhl mit Brokatbezug und ovaler Rückenlehne Platz.



Sie betrachtete ihre Hände, verschränkte die Finger und sagte: »Ich muss Ihnen ein furchtbares, ganz furchtbares Geständnis machen, Mr. Spade.«



Spade lächelte höflich, was sie nicht bemerkte, weil sie den Blick noch immer gesenkt hatte, und schwieg.



»Die … die Geschichte, die ich Ihnen gestern erzählt habe, war … ein Märchen«, stammelte sie und sah erst jetzt mit schrecklich verängstigten Augen zu ihm auf.



»Ach, das«, sagte Spade leichthin. »Wir haben Ihnen die Geschichte ohnehin nicht geglaubt.«



»Aber …« In den Schrecken und die Angst in ihren Augen mischte sich Verwirrung.



»Wir haben Ihren zweihundert Dollar geglaubt.«



»Soll das heißen …« Sie schien nicht zu begreifen.



»Das soll heißen, dass Sie uns zu viel gezahlt haben für eine wahre Geschichte«, erklärte er unverblümt, »aber dieses Zuviel hat ausgereicht, um die Lüge wettzumachen.«



Plötzlich leuchteten ihre Augen auf. Sie erhob sich ein paar Zentimeter vom Sofa, setzte sich wieder, strich das Kleid glatt, beugte sich vor und sagte eifrig: »Und Sie wären trotzdem bereit …«



Spade unterbrach sie, indem er eine Hand hob. Der obere Teil seines Gesichts war finster. Der untere lächelte. »Das kommt drauf an«, sagte er. »Das Dumme an dieser Sache, Miss … heißen Sie nun Wonderly oder Leblanc?«



Errötend murmelte sie: »In Wirklichkeit heiße ich O’Shaughnessy – Brigid O’Shaughnessy.«



»Das Dumme an der Sache ist, Miss O’Shaughnessy, wenn zwei Mordfälle wie diese zusammenkommen« – sie zuckte zusammen – »gerät alles in Panik. Die Polizei glaubt, dass sie hart durchgreifen muss, und der Umgang mit den Beteiligten wird schwieriger und kostspieliger. Nicht dass ich …«



Er hörte auf zu reden, denn sie hatte aufgehört zuzuhören. Sie wollte nur, dass er fertig wurde.



»Sagen Sie mir die Wahrheit, Mr. Spade.« Ihre Stimme zitterte, als ränge sie um Fassung. Ihre Miene war angespannt, verzweifelt. »Ist das, was letzte Nacht passiert ist – meine Schuld?«



Spade schüttelte den Kopf. »Nein, es sei denn, es gibt Dinge, von denen ich nichts weiß«, sagte er. »Sie haben uns gewarnt, dass Thursby gefährlich sei. Natürlich haben Sie gelogen, was Ihre Schwester angeht und so weiter, aber das spielt keine Rolle. Wie gesagt – wir haben Ihnen nicht geglaubt.« Er zuckte mit den runden Schultern. »Deshalb denke ich nicht, dass es Ihre Schuld war.«



Sie sagte: »Danke«, sehr leise. Dann bewegte sie den Kopf hin und her. »Trotzdem werde ich mich immer schuldig fühlen.« Ihre Hand fuhr zur Kehle. »Mr. Archer war so … so lebendig gestern Nachmittag, so groß und stark und …«



»Hören Sie auf«, rief Spade. »Er wusste, worauf er sich einlässt. Das ist unser Risiko.«



»War er … war er verheiratet?«



»Ja, und er hatte eine Lebensversicherung über zehntausend Dollar, keine Kinder und eine Frau, die ihn nicht liebte.«



»Ach, bitte, reden Sie nicht so!«, flüsterte sie.



Spade zuckte erneut die Schultern. »So ist es nun mal.« Er warf einen Blick auf seine Uhr, stand auf und setzte sich neben sie auf das Sofa. »Wir haben keine Zeit, um uns jetzt darüber Gedanken zu machen.« Seine Stimme war freundlich, aber fest. »Da draußen laufen Scharen von Polizisten herum, stellvertretende Staatsanwälte, Reporter – alle auf der Suche nach Indizien. Was wollen Sie also von mir?«



»Ich möchte, dass Sie mich – aus diesem Schlamassel retten«, antwortete sie mit dünner, zitternder Stimme. Sie legte schüchtern die Hand auf seinen Ärmel. »Wissen diese Leute von mir, Mr. Spade?«



»Noch nicht. Ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen.«



»Was … was würden diese Leute denken, wenn sie wüssten, wie ich Kontakt zu Ihnen aufgenommen habe … mit all den Lügen?«



»Es würde ihnen verdächtig vorkommen. Deshalb habe ich die Polizisten hingehalten, bis ich mit Ihnen sprechen konnte. Ich dachte, vielleicht erzählen wir ihnen nicht alles. Vielleicht können wir eine Geschichte erfinden, die ihnen Sand in die Augen streut.«



»Sie glauben doch nicht, dass ich was mit den … mit den Morden zu tun habe, oder?«



Spade grinste und sagte: »Hab ich vergessen zu fragen. Haben Sie?«



»Nein.«



»Das ist gut. Nun. Was wollen wir also der Polizei erzählen?«



Sie rutschte unruhig hin und her. Die Augen zwischen den dichten Wimpern flatterten, als versuchte sie vergeblich, ihren Blick von dem seinen zu lösen. Sie wirkte kleiner, sehr jung und bedrückt.



»Muss die Polizei denn überhaupt etwas von mir erfahren?«, fragte sie. »Ich glaube, ich würde eher sterben, Mr. Spade. Ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären, aber könnten Sie mich nicht irgendwie vor ihnen beschützen, damit ich ihre Fragen nicht beantworten muss? Ich würde ein Verhör im Moment nicht durchstehen. Ich glaube wirklich, ich würde eher sterben. Könnten Sie das versuchen, Mr. Spade?«



»Vielleicht. Aber dazu müssen Sie wenigstens mir reinen Wein einschenken.«



Sie sank auf die Knie, vor seinen Knien. Sie sah zu ihm auf. Ihr Gesicht über den fest gefalteten Händen war blass, angespannt und verängstigt.



»Ich habe kein gutes Leben geführt«, schluchzte sie. »Ich war schlecht – schlechter, als Sie es sich vorstellen können, aber ich bin nicht nur schlecht. Sehen Sie mich an, Mr. Spade. Sie wissen, dass ich nicht von Grund auf schlecht bin, nicht wahr? Sie können es sehen – nicht wahr, Mr. Spade? Können Sie mir dann nicht auch ein bisschen vertrauen? Ich bin so allein, ich habe Angst, mir hilft kein Mensch, wenn Sie es nicht tun. Ich weiß, ich habe kein Recht, Sie um Ihr Vertrauen zu bitten, solange ich mich selbst Ihnen nicht anvertraue. Ich vertraue Ihnen, aber ich kann es Ihnen trotzdem nicht erzählen. Noch nicht. Später werde ich es tun, sobald es geht. Ich habe Angst, Mr. Spade. Ich habe Angst, Ihnen zu vertrauen. Nein, das meine ich nicht so. Ich vertraue Ihnen, aber … ich habe auch Floyd vertraut und … ich habe niemanden sonst, niemanden, Mr. Spade. Aber Sie können mir helfen. Sie haben gesagt, dass Sie mir helfen können. Wenn ich nicht geglaubt hätte, dass Sie mich retten können, wäre ich heute weggelaufen, statt Sie hierher zu bitten. Wenn ich gedacht hätte, dass irgendwer anders mich retten könnte, würde ich jetzt nicht vor Ihnen knien. Ich weiß, es verstößt gegen jeden Anstand. Aber seien Sie nachsichtig, Mr. Spade, verlangen Sie keinen Anstand von mir. Sie sind stark, Sie sind erfinderisch, Sie sind mutig. Sie können mir bestimmt etwas von Ihrer Stärke, Ihrer Findigkeit, Ihrem Mut abgeben. Helfen Sie mir, Mr. Spade. Helfen Sie mir, denn ich brauche dringend Hilfe, und wer, wenn nicht Sie, wäre in der Lage und willens dazu? Helfen Sie mir! Ich habe nicht das Recht, Sie darum zu bitten, aber ich tue es trotzdem. Seien Sie nachsichtig, Mr. Spade. Sie können mir helfen. Tun Sie es.«



Spade, der während eines Großteils ihrer Rede die Luft angehalten hatte, stieß sie jetzt mit einem langen Atemzug durch die gespitzten Lippen aus und sagte: »Sie brauchen keine fremde Hilfe. Sie sind gut. Sehr gut sogar. Es sind hauptsächlich Ihre Augen, glaube ich, und dieses Tremolo, das Sie in Ihre Stimme legen, wenn Sie Dinge sagen wie: ›Seien Sie nachsichtig, Mr. Spade.‹«



Sie sprang auf. Ihr Gesicht war vor Verlegenheit errötet, trotzdem hielt sie den Kopf aufrecht und sah Spade geradewegs in die Augen.



»Ich habe es verdient«, antwortete sie. »Ich habe es verdient, aber – ach! – ich habe mir Ihre Hilfe so gewünscht. Ich wünsche sie mir immer noch und brauche sie sehr. Ich bin eine schlechte Lügnerin, aber es war nicht alles gelogen, was ich gesagt habe.« Sie wandte sich ab, nicht mehr ganz so aufrecht wie eben. »Ich bin selbst schuld, dass Sie mir jetzt nicht mehr glauben können.«



Spades Gesicht färbte sich rot. Er blickte zu Boden und murmelte: »Sie sind verdammt raffiniert.«



Brigid O’Shaughnessy ging zum Tisch und griff nach seinem Hut. Sie kam zurück und stellte sich vor ihn. Sie überreichte ihm den Hut nicht, sondern hielt ihn fest, sodass Spade ihn jederzeit nehmen konnte, wenn er wollte. Ihr Gesicht war weiß und schmal.



Spade sah seinen Hut an und fragte: »Was ist gestern Nacht passiert?«



»Floyd ist um neun ins Hotel gekommen. Dann haben wir einen Spaziergang gemacht. Es war mein Vorschlag, damit Mr. Archer ihn sehen konnte. In einem Restaurant, ich glaube in der Geary Street, haben wir eine Kleinigkeit gegessen und getanzt und sind dann gegen halb eins ins Hotel zurückgekehrt. Floyd brachte mich bis zum Eingang, und ich stand in der Lobby und habe beobachtet, wie Mr. Archer ihm die Straße runter folgte.«



»Runter? Sie meinen in Richtung Market Street?«



»Ja.«



»Wissen Sie, was sie in der Bush Street, Ecke Stockton, gemacht haben, wo Archer erschossen wurde?«

 



»Ist das nicht in der Nähe von Floyds Hotel?«



»Nein, auf dem Weg von Ihrem Hotel zu seinem wäre es ein Umweg von gut zehn Blocks gewesen. Und was haben Sie gemacht, nachdem die beiden verschwunden waren?«



»Ich bin ins Bett gegangen. Und als ich heute Morgen zum Frühstück ausgehen wollte, habe ich die Schlagzeilen gesehen und gelesen, dass … Sie wissen schon. Dann bin ich zum Union Square gegangen, denn ich hatte gesehen, dass man dort Automobile mieten kann. Ich nahm eins und fuhr zum Hotel, um mein Gepäck zu holen. Nachdem ich gestern herausgefunden hatte, dass mein Hotelzimmer durchsucht worden war, wusste ich, dass ich von dort verschwinden musste. Ich fand am selben Nachmittag dieses Apartment. So bin ich hier gelandet. Dann habe ich in Ihrem Büro angerufen.«



»Ihr Zimmer im St. Mark ist durchsucht worden?«, fragte Spade.



»Ja, während ich bei Ihnen war.« Sie biss sich auf die Lippe. »Eigentlich wollte ich Ihnen das gar nicht erzählen.«



»Heißt das, ich soll keine weiteren Fragen dazu stellen?«



Sie nickte schüchtern.



Er runzelte die Stirn.



Sie schwenkte seinen Hut ein wenig hin und her.



Er lachte ungeduldig und sagte: »Hören Sie auf, mir damit vor der Nase rumzufuchteln. Habe ich nicht gesagt, dass ich tun werde, was ich kann?«



Sie lächelte zerknirscht, brachte den Hut zurück auf den Tisch und setzte sich wieder neben ihn aufs Sofa.



Er sagte: »Ich habe nichts dagegen, Ihnen blind zu vertrauen. Allerdings kann ich nichts für Sie tun, wenn ich nicht ansatzweise weiß, worum es geht. Beispielsweise würde mich brennend interessieren, wer dieser Floyd Thursby war.«



»Ich habe ihn in Asien kennengelernt.« Sie sprach bedächtig und betrachtete dabei ihren ausgestreckten Zeigefinger, der Achten auf das freie Stück Sofa zwischen ihnen zeichnete. »Letzte Woche sind wir aus Hongkong hier angekommen. Er war … er hatte versprochen, mir zu helfen. Doch er hat meine Hilflosigkeit und Abhängigkeit ausgenutzt, um mich zu hintergehen.«



»Inwiefern?«



Sie schüttelte den Kopf und sagte nichts.



Spade runzelte ungeduldig die Stirn und fragte: »Warum wollten Sie ihn beschatten lassen?«



»Ich wollte herausfinden, wie weit er gegangen ist. Er hatte mir nicht einmal gesagt, wo er wohnt. Ich wollte wissen, was er machte, mit wem er sich traf. Solche Dinge.«



»Hat er Archer umgelegt?«



Sie sah überrascht zu ihm auf. »Ja, ganz bestimmt«, sagte sie.



»Er hatte eine Luger in seinem Schulterholster. Archer wurde nicht mit einer Luger erschossen.«



»Er hatte noch einen Revolver in der Manteltasche«, sagte sie.



»Haben Sie ihn gesehen?«



»O ja, oft. Ich weiß, dass er ihn immer bei sich hatte. Gestern Abend habe ich ihn nicht gesehen, aber ohne den Revolver in der Manteltasche geht er nicht aus dem Haus.«



»Wozu so viele Waffen?«



»Er hat davon gelebt. In Hongkong hieß es, er wäre als Leibwächter für einen Glücksspieler nach Asien gekommen. Der Mann hätte die Staaten verlassen müssen und wäre seitdem wie vom Erdboden verschluckt. Gerüchten zufolge wusste Floyd darüber Bescheid. Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er immer schwer bewaffnet war und nicht zu Bett ging, ohne den Boden rings um sein Bett mit zerknülltem Zeitungspapier zu präparieren, damit niemand heimlich sein Zimmer betreten konnte.«



»Da haben Sie sich aber einen feinen Kumpel ausgesucht, Kompliment.«



»Weil nur so einer mir hätte helfen können«, antwortete sie schlicht, »wenn er loyal gewesen wäre.«



»Ja, wenn.« Spade kniff mit Daumen und Zeigefinger seine Unterlippe zusammen und warf ihr einen finsteren Blick zu. Die senkrechten Furchen über seiner Nase verstärkten sich, sodass die Brauen eine fast durchgehende Linie bildeten. »Wie tief sitzen Sie tatsächlich in der Tinte?«



»Bis zum Hals«, sagte sie.



»Ist Gewalt im Spiel?«



»Ich bin keine Heldin. Ich glaube, was Schlimmeres als den Tod gibt es nicht.«



»Es geht also um Leben und Tod?«



»So gewiss, wie wir beide hier sitzen« – sie schauderte – »es sei denn, Sie helfen mir.«



Er nahm die Hand vom Mund und strich sich durchs Haar. »Ich bin nicht der liebe Gott«, sagte er gereizt. »Ich kann Ihnen keine Wunder versprechen.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Die Zeit vergeht, und Sie geben mir nichts, womit ich arbeiten könnte. Wer hat Thursby umgelegt?«



Sie hielt sich ein zerknülltes Taschentuch an den Mund und sagte: »Das weiß ich nicht.«



»Ihre Feinde oder seine?«



»Keine Ahnung. Seine, hoffe ich. Ich weiß es nicht.«



»Auf welche Weise sollte er Ihnen helfen? Warum haben Sie ihn aus Hongkong mit hierher genommen?«



Sie warf ihm einen angsterfüllten Blick zu und schüttelte stumm den Kopf. Ihr Gesicht war erschöpft und erschreckend störrisch.



Spade stand auf, steckte die Hände in die Taschen seines Sakkos und sah ernst auf sie herab. »Es hat keinen Zweck«, sagte er aufgebracht. »Ich kann nichts für Sie tun. Ich weiß nicht, was Sie wollen. Ich weiß nicht mal, ob Ihnen selbst klar ist, was Sie wollen.«



Sie ließ den Kopf hängen und schluchzte.



Er stieß ein animalisch knurrendes Geräusch aus und trat zum Tisch, um nach seinem Hut zu greifen.



»Aber Sie werden doch nicht zur Polizei gehen?«, flehte sie mit halb erstickter Stimme, ohne aufzusehen.



»Zur Polizei gehen!«, rief er aus, seine Stimme laut vor Wut. »Seit vier Uhr früh sitzen die mir im Nacken. Ich habe mir ordentlich Ärger eingehandelt, weil ich sie hingehalten habe. Und wofür? Für die verrückte Idee, dass ich Ihnen helfen könnte! Aber ich kann es nicht. Ich werd’s nicht mal versuchen.« Er setzte sich den Hut auf den Kopf und drückte ihn tief in die Stirn. »Ich zur Polizei? Ich muss nur irgendwo stehen bleiben, und schon fällt die ganze Meute über mich her. Ich werde denen sagen, was ich weiß – und Sie müssen selber sehen, wie Sie klarkommen.«



Sie erhob sich und stellte sich kerzengerade vor ihn hin, obwohl ihre Knie zitterten. Das bleiche, von Panik ergriffene Gesicht war hoch erhoben, trotzdem konnte sie das Zittern der Mundwinkel und des Kinns nicht unterdrücken. »Sie waren geduldig«, sagte sie. »Sie haben versucht, mir zu helfen. Aber es hat keinen Zweck und würde vermutlich auch nichts nützen.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Ich danke Ihnen für das, was Sie getan haben. Ich … ich muss selber sehen, wie ich klarkomme.«



Erneut stieß Spade das kehlige Knurren aus, dann setzte er sich wieder aufs Sofa. »Wie viel Geld haben Sie?«, fragte er.



Die Frage verwirrte sie. Sie biss sich auf die Unterlippe und antwortete zögernd: »Noch etwa fünfhundert Dollar.«



»Geben Sie sie her.«



Sie zögerte und warf ihm einen eingeschüchterten Blick zu. Sein Mund, die Brauen, Hände und Schultern – alles zeugte von seiner Gereiztheit. Sie ging ins Schlafzimmer und kam einen Moment später mit einem Bündel Geldscheine zurück.



Er nahm es ihr ab, zählte. »Das sind nur vierhundert.«



»Etwas brauche ich zum Leben«, erklärte sie kleinlaut und legte eine Hand auf die Brust.



»Können Sie noch mehr auftreiben?«



»Nein.«



»Sie müssen doch irgendwas haben, um sich Geld zu beschaffen«, beharrte er.



»Ein paar Ringe sind noch da, ein bisschen Schmuck.«



»Den müssen Sie verpfänden«, sagte er und streckte die Hand aus. »Das Remedial ist der beste Ort dafür – Ecke Mission Street und Fifth.«



Sie sah ihn flehend an. Seine gelb-grauen Augen waren hart und unerbittlich. Langsam steckte sie die Hand in ihren Ausschnitt, zog ein paar zusammengerollte Scheine heraus und legte sie ihm in die ausgestreckte Hand.



Er strich sie glatt und zählte – vier Zwanziger, vier Zehner und ein Fünfer. Er gab ihr zwei Zehner und den Fünfer zurück und steckte den Rest ein. Dann stand er auf und sagte: »Ich gehe jetzt und sehe, was ich tun kann. Ich komme wieder, sobald es möglich ist, und bringe so gute Nachrichten, wie es sich machen lässt. Ich läute viermal – lang, kurz, lang, kurz – dann wissen Sie, dass ich es bin. Sie müssen mich nicht zur Tür begleiten. Ich finde allein raus.«



Er ließ sie mitten im Zimmer stehen, wo ihre blauen Augen ihm verwirrt nachsahen.





Spade betrat das Empfangszimmer durch eine Tür mit der Aufschrift

Wise, Merican & Wise

. Die rothaarige Sekretärin vor der Telefonanlage sagte: »Oh, hallo, Mr. Spade.«



»Hallo, Schätzchen«, sagte er, »ist Sid zu sprechen?«



Er stand mit einer Hand auf ihrer fülligen Schulter neben ihr, während sie mit einem Stöpsel hantierte und in die Sprechmuschel sagte: »Mr. Spade möchte Sie sprechen, Mr. Wise.« Sie blickte zu Spade auf. »Gehen Sie einfach durch.«



Er drückte ihr freundlich die Schulter, ging durch den Empfang in einen schwach erleuchteten Gang und folgte ihm bis zu einer Milchglastür am Ende. Dort trat er in ein Büro, wo ein untersetzter Mann mit olivfarbener Haut, einem müden, ovalen Gesicht und spärlichem, von Schuppen gesprenkeltem Haar an seinem wuchtigen Schreibtisch saß, auf dem sich Unmengen von Papieren stapelten.



Der Mann schwenkte seinen kalten Zigarettenstummel in Spades Richtung. »Zieh dir einen Stuhl ran. Miles hat es also heute Nacht erwischt?« Weder sein müdes Gesicht noch seine durchdringende Stimme deuteten auf irgendwelche Gefühle hin.



»Hm-mh, deshalb bin ich hier.« Spade runzelte die Stirn und räusperte sich. »Ich fürchte, ich muss einen Untersuchungsrichter abwimmeln, Sid. Kann ich mich hinter meinem Berufsgeheimnis verschanzen, so wie ein Priester oder Anwalt?«



Sid Wise hob die Schultern und senkte die Mundwinkel. »Warum nicht? Eine Untersuchung ist keine Gerichtsverhandlung. Auf alle Fälle kannst du es versuchen. Du hast schon ganz andere Sachen gebracht.«



»Ich weiß, aber Dundy wird unverschämt, und diesmal könnte es ernst werden. Setz deinen Hut auf, Sid, wir müssen ein paar Leute aufsuchen. Ich möchte gern sichergehen.«



Sid Wise warf einen Blick auf die Papierstapel auf seinem Schreibtisch und seufzte, ehe er sich erhob und zu einem Schrank neben dem Fenster ging.



»Du bist ein sturer Bock, Sammy!«, sagte er und nahm den Hut vom Haken.





Um zehn nach fünf kehrte Spade in sein Büro zurück. Effie Perine saß an seinem Schreibtisch und las in der

Time

. Spade setzte sich auf den Tisch und fragte: »Was Neues?«



»Hier nicht. Du siehst aus wie die Katze, die einen Kanarienvogel verputzt hat.«



Er grinste selbstzufrieden. »Ich glaube, wir haben eine Zukunft. Ich hatte schon immer den Verdacht, dass es uns erheblich besser gehen würde, wenn Miles eines Tages verschwinden und irgendwo abkratzen würde. Kannst du dich bitte um die Blumen kümmern?«



»Schon erledigt.«



»Du bist ein unbezahlbarer Engel! Und was sagt deine weibliche Intuition heute?«



»Wozu?«



»Was hältst du von Wonderly?«



»Eine ganze Menge«, antwortete die junge Frau wie aus der Pistole geschossen.



»Sie hat zu viele Namen«, sinnierte Spade. »Wonderly, Leblanc, und jetzt sagt sie, der richtige ist O’Shaughnessy.«



»Von mir aus kann sie alle Namen im Telefonbuch haben. Die Frau ist in Ordnung, und das weißt du auch.«



»Bin nicht sicher.« Spade blinzelte Effie Perine schläfrig zu. Dann kicherte er. »Auf alle Fälle hat sie siebenhundert Piepen in zwei Tagen lockergemacht, und das ist schon mal nicht schlecht.«



Effie Perine setzte sich auf und sagte: »Wenn diese Frau Probleme hat und du lässt sie im Stich oder nutzt sie aus, werde ich dir das nie verzeihen, Sam, und dich auch nie wieder respektieren, solange ich lebe.«



Spade lächelte gekünstelt. Dann runzelte er die Stirn. Das Stirnrunzeln war ebenfalls gekünstelt. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch das Geräusch der Tür im Vorzimmer hinderte ihn dran.



Effie Perine stand auf und ging hinüber zur Tür. Spade nahm den Hut ab und setzte sich an seinen Schreibtisch. Die junge Frau kam wieder herein und reichte ihm eine Visitenkarte –

Mr. Joel Cairo

.



»Ein sehr sonderbarer Typ«, sagte sie.



»Dann nichts wie rein mit ihm, Liebling!«





Mr. Joel Cairo war ein feingliedriger, dunkelhäutiger Mann von mittlerer Größe mit levantinischen Gesichtszügen. Sein schwarzes, glattes Haar glänzte. Auf dem leuchtenden Grün seines Halstuchs funkelte ein klobiger Rubin, eingefasst von vier Stabdiamanten. Das schwarze Sakko, maßgeschneidert für seine schmächtigen Schultern, spannte ein wenig um die Hüften. Die Hose saß strammer um die kräftigen Beine, als es der neuesten Mode entsprach. Rehbraune Gamaschen verbargen die Schäfte der Lackschuhe. Er hielt eine Melone in der behandschuhten Hand, während er mit federnden Trippelschritten auf Spade zuging. Chypre-Duft umwehte ihn.

 



Spade nickte seinem Besucher zu, dann zu einem Stuhl und sagte: »Setzen Sie sich, Mr. Cairo.«



Cairo verbeugte sich tief über seinem Hut, sagte: »Vielen Dank« mit hoher, dünner Stimme und setzte sich g