Zorn der Lämmer

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*

Mit stolzgeschwellter Brust richtete Vitka sich auf. Neben ihr standen die Angehörigen des ersten von zwei Bataillonen, die Abba aufgestellt hatte. Ein Kampfgenosse schritt durch die Reihen und verteilte Gewehre und Granaten.

Vitka lächelte: Endlich hatte ihre Stunde geschlagen! Endlich verspürte sie wieder so etwas wie Hoffnung. Jetzt, da war sie sich sicher, würden sich sogar die restlichen Wilnaer Juden zum Aufstand gegen die Deutschen entschließen.

Denn die Nachricht vom Tod des Löwen hatte selbst diejenigen erzürnt, die dem Widerstand kritisch gegenüberstanden. Auch der Schuldige war schnell gefunden: Jakob Gens, dieser Verräter, der Murers Forderungen nach weiteren Menschen für die deutschen Arbeitslager immer widerspruchsloser nachkam. Doch obwohl er für seinen nächsten Auftrag sogar zweihundert neue jüdische Polizisten verpflichtet hatte, konnte er die Quote von fünftausend Menschen um Längen nicht erfüllen. Das Getto, in dem nur noch etwa zehntausend Bewohner lebten, glich mittlerweile einem leer gefischten See.

Deshalb waren im Morgengrauen deutsche Soldaten ins Getto einmarschiert. Hatten mit aufgepflanzten Bajonetten die verschlafenen Straßen durchwühlt, Menschen aus ihren Betten gezerrt und sie vor dem Hauptgebäude der jüdischen Polizei antreten lassen. Ihr Auftrag: So viele Juden wie möglich für die Arbeitslager zusammenzutreiben. Ein Kundschafter des Untergrunds, den das Geschrei aus seinem ohnehin unruhigen Schlaf gerissen hatte, sprintete daraufhin über Innenhöfe, kraxelte durch Fenster in zahllose Wohnungen, rüttelte so viele Menschen wie möglich wach und warnte sie vor der Ankunft der Deutschen.

Auch Vitka war eine von ihnen gewesen. Als man ihr die entscheidenden Worte ins Ohr flüsterte, sprang sie schlaftrunken aus dem Bett. Augenblicklich wusste sie, was sie zu tun hatte. Unverzüglich würde sie sich zum Treffpunkt des ersten Bataillons begeben und ihre Waffe in Empfang nehmen.

Sie brauchte ein paar Minuten, um sich an das fremde Umfeld, das Zimmer ihrer Freundin, zu gewöhnen. Ausnahmsweise hatte sie diesmal nicht im Hauptquartier des Widerstands geschlafen, sondern war bei ihrer Freundin Salome geblieben. Wenigstens für eine Nacht hatte sie Abstand gebraucht von dem Ort, den Abba und die anderen mittlerweile in einen Bunker verwandelt hatten: die Fenster mit dicken Büchern verbarrikadiert, um sich vor den Kugeln zu schützen, die Wände meterhoch vollgestellt mit Türmen aus Steinen und Flaschen mit Schwefelsäure sowie etlichen mit kochend heißem Wasser gefüllten Kanistern, die die Rebellen den Deutschen im Vorbeigehen übergießen würden.

Abba holte sie zurück in die Gegenwart. »Kameraden!«, rief er. »Ihr habt nun eure Waffen! Wir sind bereit zum Kampf!«

Dann teilte der Oberleutnant das Bataillon in drei Gruppen auf und gab den jeweiligen Anführern ihre Befehle. Die Vorhut, der auch Ruzka angehörte, sollte ihre Stellung im dritten Stock eines Hauses am Anfang der Straschun-Straße beziehen. Abbas Einheit hingegen würde sich etwa hundert Meter weiter hinten verschanzen. Für die dritte Gruppe, der Vitka zugeteilt war, lautete die Anweisung, sich im Haus gegenüber für den Angriff bereitzuhalten. So würden die Rebellen die Deutschen ins Kreuzfeuer nehmen, sobald sie die Vorhut passiert hätten.

»Juden!«, richtete Abba sein Wort noch einmal an die Widerstandskämpfer. »Es ist so weit: Die deutschen Henker stehen vor dem Tor. Wir haben nichts mehr zu verlieren, denn ihr Beil wird jeden von uns treffen. Deshalb sage ich euch: Erschlagen wir die Hunde, bevor sie uns erschlagen!« Die Rebellen streckten ihre Gewehre zum Himmel und jubelten dem Oberleutnant zu. »Heute ist die Stunde unserer Rache gekommen. Rächen wir uns für Ponary! Für unsere ermordeten Familien! Denn nur wenn wir kämpfen, können wir unser Leben und unsere Ehre bewahren.« Abba griff nach seinem Gewehr, lud es durch und ließ seinen Blick ein letztes Mal durch die Reihen vor ihm wandern. »Deshalb, liebe Freunde, fallen wir lieber im Kampf, als dass wir uns ihnen widerstandslos geschlagen geben.«

*

Yeichel Steinbaum legte sein Ohr ans Fenster und lauschte. Doch alles, was der Anführer der Vorhut hörte, war sein ruhiges Atmen.

Direkt nach Abba Kovners Ansprache versteckten sich die Rebellen in ihren Unterschlupfen. Während sie auf die Ankunft der Deutschen warteten, war bereits der Morgen verstrichen. Dann der Nachmittag, und nun sah Yeichel, wie Schatten der Abendsonne an der Fassade des gegenüberliegenden Hauses hinaufkletterten. Die wenigen anderen, die trotz der Warterei noch nicht eingenickt waren, schauten ihn mit einer Mischung aus Angst, Wut und Hoffnung in die Augen.

Irgendetwas musste schiefgelaufen sein. Ob Jakob Gens dabei seine Hände im Spiel hatte? Ging er davon aus, dass der Widerstand den deutschen Soldaten auflauerte? In diesem Fall hätte der Chef der jüdischen Polizei mit Sicherheit auch alles getan, um die drohende gewaltsame Auseinandersetzung noch abzuwenden. Denn eine solche hätte Gens’ Konzept zunichtegemacht. Wie konnte dieser Verräter nur tatsächlich glauben, dass er mit dieser Strategie der Kollaboration der größtmöglichen Zahl von Juden das Überleben sicherte?

Jetzt, kurz nach Sonnenuntergang, hörte Yeichel schließlich etwas. Ein stetig lauter werdendes Grollen, das sich ihnen von der Oszmianska-Straße her näherte. Wenig später konnte er sie durch das Fenster sehen: etwa zwanzig Männer in deutschgrauen Uniformen, die die Straße entlangmarschierten und mit ihren Gewehrkolben gegen die Fassaden schlugen.

»Kommt raus, ihr Judenschweine!«, schallten ihre Schreie zwischen den Häuserschluchten. »Oder wir sprengen euch in die Luft!«

Mit einem Handzeichen erteilte Yeichel den anderen den Befehl, die Gewehre zu laden und Stellung zu beziehen. Er legte den Zeigefinger auf seine Lippen und flüsterte: »Alles wartet auf mein Kommando.«

Yeichel wagte einen Blick auf die Straße. Aus dem Augenwinkel sah er einen Deutschen mit Schnauzbart, der eine große Kiste in das Haus gegenüber schleppte und kurze Zeit später ohne sie wieder herauskam. Auf sein Rufen hin flüchteten sich die übrigen Soldaten in nahe gelegene Toreinfahrten, warfen sich zu Boden oder gingen hinter der nächsten Ecke in Deckung.

Dann ertönte ein Knall und eine gewaltige Feuersbrunst schoss aus den Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes. Yeichel sah, wie Trümmer und Leichenteile auf die Straße regneten. Die Explosion hatte das Nachbarhaus mitsamt den Juden, die sich darin versteckt hielten, in Schutt und Asche zerlegt. Yeichels Augen weiteten sich. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Sein Herz galoppierte. Er spürte, dass der entscheidende Moment nun gekommen war.

»Feuer«, rief er, »mäht diese Hunde um!«

Die Rebellen schossen. Ein rauschender Kugelhagel prasselte auf die Deutschen ein, und inmitten des tödlichen Pfeifkonzerts der Projektile suchten die Soldaten panisch nach Schutz. Auch Yeichel zielte auf die uniformierten Männer drei Stockwerke unter ihm. Dabei war er so sehr auf sie konzentriert, dass er den Mann, der sich inmitten der Trümmer hinkniete und seinen Karabiner anlegte, zu spät entdeckte.

Wieder ein plötzlicher Knall. Yeichel spürte, wie ihn etwas getroffen haben musste. Sofort ließ er sein Gewehr fallen und tastete nach der Wunde am Hals. Blut lief zwischen seinen Fingern hindurch, er konnte es nicht aufhalten. Nur ein Röcheln entkam seinem Mund. Yeichel sah an sich herunter. Dunkles, dickflüssiges Blut quoll aus seinem Hals und bildete eine Lache auf dem Boden.

»Oh mein Gott!«, hörte er Ruzka schreien.

Ihr angsterfüllter Blick war das Letzte, das Yeichel Scheinbaum zu sehen bekam, bevor er in sich zusammenfiel.

*

»Nein, warte! Das ist viel zu –«

»Hoch«, wollte er sagen. Doch seine Warnung war vergeblich. Kopfüber sprang Ruzka durch das offene Fenster im Treppenhaus hinaus in den Innenhof.

Leipke hörte einen dumpfen Aufprall. Um nachzusehen, blieb ihm keine Zeit. Auch er musste so schnell wie möglich raus aus diesem Haus. Hierzubleiben wäre sein sicheres Todesurteil. Deswegen schob er seine Sorgen um Ruzka beiseite und sprintete weiter die Treppen hinunter.

Im Erdgeschoss angekommen, wagte Leipke einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Zu seiner Rechten lagen deutsche Soldaten zwischen den Trümmern in Stellung und feuerten unablässig auf das Fenster der Wohnung, aus der die Rebellen sie beschossen hatten. Doch deren Gegenwehr wurde immer schwächer.

Er musste weitergehen, ermahnte Leipke sich in Gedanken. Schaute nach links und blickte in das kantige Gesicht eines deutschen Gefreiten.

»Stehen bleiben!«, befahl ihm der Soldat. Offensichtlich überrascht, dass ihm einer der Rebellen direkt in die Arme gelaufen war, ließ er vor Schreck beinahe sein Gewehr fallen.

Leipke zögerte nicht. Wie eine Raubkatze sprang er dem Deutschen an den Hals. Schlug ihm schnell hintereinander mehrmals ins Gesicht, bis seine Nase brach und ihn der Schmerz kurzzeitig lähmte. Leipke nutzte diese Gelegenheit, zerrte mit aller Kraft an dem Bajonett, das an der Koppel des Gefreiten befestigt war, zog es aus der Scheide und rammte die Klinge so fest er konnte in die Brust des Mannes, der nun unter ihm lag und wild um sich schlug. Die Stichverletzung ließ ihn seine letzten Kräfte mobilisieren. Er schlug weiter um sich, versuchte, Leipke zu treffen und so von ihm herunterzustoßen. Doch Leipke wehrte ihn ab, presste eine Hand auf seinen Mund und stieß das Bajonett noch einmal in seinen Oberkörper hinein. Blut quoll zwischen Leipkes Fingern hervor, und damit war die Gegenwehr gebrochen. Der Kopf des Soldaten kippte zur Seite. Ein letztes Zucken, dann war es vorbei. Leipke sah ihn sich genauer an. Er war jung, keine zwanzig Jahre alt. Glatte Wangen, keine Falten.

 

Eine Detonation riss Leipke aus seinen Betrachtungen. Ihm blieb nicht viel Zeit. Sofort öffnete er den Verschluss des Stahlhelms und riss ihn dem Toten vom Kopf. Falls die Deutschen auf ihn schossen, würde er ihn sicherlich gebrauchen können. Genauso wie das Bajonett. Mit einem beherzten Ruck zog er es wieder aus der Brust des Toten heraus, wischte die Klinge an dessen Uniform ab und befestigte es notdürftig an seinem Hosenbund. Anschließend durchwühlte er sämtliche Taschen. Stopfte zwei Packungen Nil-Zigaretten, mit denen man auf dem Schwarzmarkt hervorragend handeln konnte, unter sein Hemd und nahm den Mauser-Karabiner mitsamt dem letzten Munitionsstreifen an sich.

Gerade als Leipke sich wieder aufrichten wollte, traf ihn ein Gewehrkolben an der Schläfe. Zum Ausweichen war es zu spät.

*

Die Deutschen erwarteten ihn am Tor. Grob packten die Gestapo-Männer ihn an den Armen, öffneten eine der hinteren Türen ihres Dienstwagens, drückten seinen Kopf herunter und stießen ihn anschließend auf die Rückbank.

Durch das Fenster des Mercedes warf Jakob Gens einen Blick die Szpitalna-Straße hinunter. Das Getto, das für ihn jahrelang gleichbedeutend mit dem jüdischen Volk gewesen war, lag hinter ihm – sowohl räumlich als auch zeitlich. Nun war es zu einem Teil seiner Vergangenheit geworden. Ein seltsames Gefühl hatte ihn beschlichen, als die Gestapo-Männer ihn durch die Straßen geführt hatten. Denn zum ersten Mal hatte Gens sich tatsächlich wie ein Fremder gefühlt in der Stadt, die schnell zu seiner Heimat geworden war – und das, obwohl es den früheren Hauptmann der Reserve, der in der Gegend um Kaunas aufgewachsen war, erst 1940 zusammen mit seiner Familie hierhergezogen hatte.

An diesem Morgen hatte Gens’ deutscher Kontaktmann ihm die Pläne der Gestapo verraten. In deren Augen hatte Gens versagt, denn als Leiter des Gettos, zu dem er Mitte des vergangenen Jahres nach der Auflösung des Judenrats ernannt worden war, wäre es seine Aufgabe gewesen, den Partisanen den Garaus zu machen. Daran war er spätestens seit dem begonnenen Aufstand nachweislich gescheitert.

»Fliehen Sie auf der Stelle in den Wald«, hatte der Kontaktmann ihm deshalb eindringlich empfohlen.

Doch Gens hatte eine andere Entscheidung getroffen. Er war sich sicher, dass sein Verschwinden den Juden schaden würde – und damit hätte er dem einzigen Ziel, dem er sich von Anfang an verschrieben hatte, zuwidergehandelt: nämlich, das Getto um jeden Preis zu erhalten. So hatte er in dem Glauben, die Bewohner zu schützen, Alte und Kranke an die Deutschen ausgeliefert und sich sogar an der Zerstörung ganzer Dörfer beteiligt. Tausende Menschen hatten durch sein Handeln ihr Leben lassen müssen, und trotzdem war Gens nach wie vor davon überzeugt, dass es ohne ihn noch unzählige mehr gewesen wären. Ob er in einer anderen Zeit ein Held gewesen wäre? Ob die nachfolgenden Generationen sich wohl an ihn erinnern würden? Wenn ja, wie würden sie seiner gedenken?

Nach kurzer Fahrt erreichten sie das Gestapo-Gefängnis in der Rosa-Straße. Ein junger, schneidiger Unteroffizier namens Müller nahm Gens in Empfang.

»Mitkommen«, befahl er. Er führte den Chef der jüdischen Polizei an den Zellen vorbei auf einen Hinterhof, wo eine Reihe uniformierter Soldaten mit hochgekrempelten Ärmeln auf sie wartete. Mit Schaufeln, die in einem hüfthohen Erdhügel steckten, hatten sie ein Loch ausgehoben, dessen Größe und Form nur einen einzigen Schluss zuließ.

»Umdrehen«, befahl Müller forsch.

Nachdem Gens ihm den Rücken zugewandt hatte, fesselte der Unteroffizier seine Hände. Dann spürte er etwas Kaltes am Hinterkopf. Es musste die Mündung der Walther-Pistole sein, die der Deutsche ihm in den Nacken bohrte.

Gens schloss die Augen. Ein letztes Mal erschien ihm seine Frau. Er sah sie vor sich, wie sie sein Gesicht in beiden Händen hielt und ihm zart und flüchtig auf die Stirn küsste. »Hab keine Angst«, sagte sie, »schon bald werden wir uns wiedersehen.«

Der Knall, der über den Innenhof schallte, riss Jakob Gens aus der Welt.

*

»Ich werde fliehen.« Während Abba diese Worte sagte, streichelte er mit einer Hand über das ausgemergelte Gesicht seiner Mutter. »Wir gehen nach Rudnicki.«

In den Wald, etwa zwanzig Kilometer vor Wilna gelegen, hatte der Partisanenführer in den letzten Monaten immer wieder Rebellen zu Erkundungszwecken geschickt. Mit dem Nachteil, dass sie nie erfuhren, wie viele von ihnen es auch tatsächlich dorthin geschafft hatten. Denn diesbezüglich erhielten sie keine Nachrichten.

Abba erschreckte, als er das schwache Röcheln seiner Mutter hörte. Schon seit Wochen musste er mit ansehen, wie sie im Bett ihrer kargen Wohnung vor sich hin vegetierte. Ihre Wangen waren blass, ihre Arme und Beine spindeldürr geworden. Jetzt, als sie ihn aus ihren kraftlosen Augen ansah, verstand er es: Heute saß er seiner Mutter zum letzten Mal gegenüber.

Wie Abba sich wohl an sie erinnern würde? Würde sie ihm als junge glückliche Mutter in den friedlichen Tagen vor dem Krieg im Gedächtnis bleiben? So, wie er sie aus ihren Fotoalben kannte? Oder aber als abgemagerte, traurige Frau, zur der die Ereignisse der letzten Jahre sie gemacht hatten? Die Deportation seines Vaters, der Krieg, das Leben im Getto.

Als sie mühsam versuchte sich aufzurichten, drückte Abba sie sanft wieder zurück. Es war nicht gut, wenn sie sich anstrengte, das hatte er ihr nun schon mehrere Male gesagt. Sie musste sich ausruhen.

»Was wird aus mir?«, krächzte sie.

Abba holte tief Luft. Wie um alles in der Welt sollte er ihr nur die Wahrheit sagen? Verpackt in wohlklingende Worte? Oder unverblümt und geradeheraus? Egal für welchen Weg er sich entschied, das Ergebnis würde immer dasselbe sein. Denn das, was er seiner Mutter nun erklären musste, war nichts Geringeres als ihr Todesurteil.

»Es wird sehr anstrengend werden«, sagte Abba. »Shmuel hat für uns eine Karte von der Kanalisation angefertigt. So gelangen wir hoffentlich nach draußen.« Wieder streichelte er seiner Mutter übers Gesicht. »Dort unten werden nur Menschen überleben, die …«, sie sah ihn erwartungsvoll an, »in guter körperlicher Verfassung sind.«

Seine Mutter nickte stumm.

In der Tat hatte Shmuel, der umgehend nach dem gescheiterten Aufstand in der Straschun-Straße aufgetaucht war, sich wegen ihrer Flucht skeptisch geäußert. »Ist verdammt schmal da unten«, hatte er von seinen Eindrücken berichtet. Rußverschmiert, als sei er aus der Unterwelt gestiegen, war er aus den Kanälen wieder aufgetaucht. »Schon für uns allein wird’s knapp werden.« Er hatte alles andere als zuversichtlich geklungen. »Aber solange das Wasser nicht steigt, können wir’s schaffen.«

»Und wenn doch?«, hatte Abba gefragt.

»Dann werden wir alle ertrinken.«

Die traurigen Augen seiner Mutter, mit denen sie ihren Sohn ansah, holten Abba zurück.

»Wann werdet ihr gehen?«, fragte sie. Ihr Blick verriet, dass sie erahnte, wie gefährlich das Unterfangen in Wirklichkeit war. Um sie zu beruhigen, streichelte Abba über ihre Hand.

»Bei Anbruch der Dunkelheit«, antwortete er.

So, wie sie es immer getan hatten, wenn eine Trennung auf unbestimmte Zeit bevorstand, versuchten sie nun einander aufzuheitern – mit dem Unterschied, dass es diesmal eine für die Ewigkeit war.

Mit dem breitesten Lächeln auf den Lippen, welches ihr Zustand zuließ, erzählte seine Mutter lustige Anekdoten aus Abbas Kindheit. Davon, wie er ihnen, vor allem jedoch seinem Vater, schon früh als Geschichtenerzähler aufgefallen und ihnen damit manchmal auch auf die Nerven gegangen war. Dass er seinen unverwechselbaren Blick, dieses durchdringende Starren, ebenfalls bereits als Kind entwickelt hatte und wie seine jüngere Schwester unfreiwillig zur ersten Zuhörerin seiner Redekunst geworden war.

»Du bist schon immer ein Anführer gewesen«, flüsterte seine Mutter.

Zum Abschied lagen sie sich minutenlang in den Armen. Weil sie es für einen Fall wie diesen so vereinbart hatten, gingen sie daraufhin wortlos auseinander. Behutsam schloss Abba hinter sich die Tür, während er ein letztes, gequältes Schluchzen seiner Mutter hörte.

Draußen empfing ihn ein wolkenverhangener Himmel. Als er mit tränenfeuchten Augen nach oben sah, kreisten schwarze Vögel über ihm. Mit hängendem Kopf trottete er los, in Gedanken noch immer bei den Erlebnissen der letzten Stunden. In winzigen Schritten näherte er sich dem Hauptquartier des Widerstands.

Dann, kurz bevor Abba in die Straschun-Straße einbog, entdeckte er sie. An allen Wänden, an denen er vorbeiging, klebten Flugblätter der Gestapo.

Im Namen des Reichskommissars: Das Getto ist schnellstmöglich zu räumen! Die Bewohner werden nach Estland und Lettland umgesiedelt. Die Bevölkerung ist verpflichtet, bis morgen zwölf Uhr mittags ihr Hab und Gut zusammenzupacken und das Getto zu verlassen.

Jetzt ging es los, dachte Abba. Ihre letzte Stunde hatte geschlagen. Murer machte seine Drohung wahr.

ZWEITES BUCH –
Rudnicki

Ruzka folgte dem flackernden Licht der Grubenlampe, das sie durch die Dunkelheit führte.

Nur mit einer gehörigen Portion Glück hatte sie die Explosion überlebt. Kurz nachdem eine Pistolenkugel Yeichel aus dem Leben gerissen hatte, war er ihr wieder aufgefallen: der deutsche Soldat mit dem Schnauzbart, der erneut eine schwere Kiste vor seinem Bauch trug. Diesmal schleppte er sie allerdings genau in das Haus hinein, in dem die Rebellen sich verschanzt hatten.

Ruzka schaltete blitzschnell. Ihnen blieben nur noch wenige Sekunden.

»Raus hier!«, brüllte sie. Doch in dem Kugelhagel, der ihren Raum durchsiebte, gingen ihre Schreie hoffnungslos unter.

Zusammen mit Leipke, der sie als Einziger gehört hatte, hetzte Ruzka schließlich die Treppen hinunter. Dann, als sie ein offenes Fenster entdeckte, hechtete sie durch es hindurch in den Innenhof. Ihre Landung war hart, und so spürte sie umgehend einen brutalen Schmerz, der vom Knöchel her ihr Bein heraufkletterte. Sie musste ihn sich mindestens verstaucht, wenn nicht sogar gebrochen haben.

Noch während sie sich wieder auf die Beine quälte, hörte sie plötzlich ein leises Klicken. Ruzka erstarrte.

Die Explosion erschütterte ihren Körper so heftig, dass sie umgehend die Besinnung verlor.

Erst Stunden später war Ruzka im Hauptquartier des Widerstands wieder zu sich gekommen. Immer noch benommen, schaute sie sich in der Wohnung um. Da war Abba, der neben dem Fenster an der Wand lehnte und apathisch an einer Zigarette zog. Vitka, die neben ihr auf der Matratze lag und ihr mütterlich über den Kopf streichelte. Sie brauchten nichts zu sagen. Durch den traurigen Blick in ihren Augen erfuhr Ruzka alles, was sie wissen musste.

Der Aufstand war gescheitert.

»Wo ist Leipke?«, fragte sie. »Er war doch mit mir in dem Treppenhaus?«

Ruzka versuchte sich aufzurichten. Als jedoch ein stechender Schmerz wie ein Blitz durch ihr Bein schoss, ließ sie sich umgehend wieder auf die Matratze fallen.

Abba warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. »Die Deutschen haben ihn«, sagte er. »Wer weiß, was sie alles mit ihm anstellen.«

Für einen Moment herrschte Stille.

»Und was ist mit Gens?«, fragte Ruzka schließlich. »Hast du schon mit ihm gesprochen?«

Abba formte seine Hand zu einer Pistole. Legte sie an seine Schläfe, simulierte einen Schuss und ließ seinen Kopf zur Seite fallen. »Gestapo«, sagte er.

»Und nun?«

Vitka drehte ihren Kopf zu Ruzka. »Wir haben Informationen, dass die Deutschen das Getto räumen.«

»Und zwar sehr bald«, fügte Abba hinzu. »Das bedeutet, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt.«

Das Geräusch des Regens schob Ruzkas Erinnerungen beiseite. Holte sie zurück in den engen Schacht, durch den sie sich auf allen vieren kriechend einen Weg durch Abfall und Rattenkot bahnte. An besonders schmalen Stellen stieß sie sich ihre Rippen, und wie Shmuel es prophezeit hatte, stand ihr das stinkende Abwasser bis zum Kinn. Ruzka musste sich strecken, damit sie wenigstens ein bisschen von der ohnehin verbrauchten Luft einatmen konnte.

Ihr Gefühl für die Zeit hatte sie längst im Stich gelassen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie und die anderen nun schon hier unten in der Dunkelheit gefangen waren. Ob sie die Welt über ihnen jemals wiedersehen würden? Wenn ja, wie würden sie weitermachen? Würden sie ihren Kampf gegen die Deutschen fortsetzen können, so, wie sie es geplant hatten?

Dann führten die Schächte endlich nach oben. Drei Kilometer vom Gettozaun entfernt gelangten die Rebellen zurück an die Oberfläche. Shmuel, mit dreckverschmiertem Gesicht, schmutziger Brille und zerrissener Jacke, nahm sie in Empfang. An Armen und Beinen hievte er die Flüchtenden aus den Kanalrohren ans Tageslicht.

 

Als würde sie aus ihrem eigenen Grab steigen, dachte Ruzka.

»Willkommen in der Freiheit«, sagte Shmuel. Mit dem Ärmel wischte er sich den Ruß aus dem Gesicht. »Hast wohl nicht mehr dran geglaubt, dass wir es schaffen, was?«

Ruzka schüttelte den Kopf. Es stimmte. Dort unten hatte sie mit allem abgeschlossen.

Shmuel lächelte. »Betrachte es mal von dieser Seite«, sagte er. »Heute hat Gott dir zum zweiten Mal das Leben geschenkt.«

*

Vor Schreck stürzte Vitka beinahe rücklings auf die Wiese. Ruzka schoss nach hinten herum, fing sie auf und presste eine Hand auf ihren Mund. Gerade noch so hatte sie verhindert, dass Vitkas Schreie über die Felder schallten. Auf keinen Fall durften sie die Außenwelt auf sich aufmerksam machen.

Als Vitka sich wieder unter Kontrolle hatte, sank sie schluchzend auf die Knie. Mit Tränen in den Augen betrachtete sie den leblosen Körper, der vor ihr lag. Es war ein fürchterlicher Anblick: Auf der Leiche kauerten Vögel und pickten entweder das tote Fleisch oder die Insekten, die auf ihr saßen, Vitka wollte es nicht genauer wissen. Sie erbrach sich ins Gras. Nicht nur wegen des Anblicks, sondern auch weil sie die Tote erkannt hatte. Es war Linda Goldberg. Eines der Mädchen, das Abba losgeschickt hatte, um ihre Fluchtwege in den Wald auszukundschaften. Wie so viele war Linda jedoch nie ins Getto zurückgekehrt. Jetzt wussten sie warum.

»Zum Teufel mit den Deutschen«, flüsterte Abba. Aus hasserfüllten Augen blickte er auf die Szenerie vor seinen Füßen. Ein anderer Ausdruck hätte in ihnen keinen Platz mehr gehabt.

Obwohl er den Weg nach Rudnicki nicht kannte, hatte Abba die Rebellen sicher an den Waldrand gelotst. Nachdem sie im Keller des Gebäudes des Sicherheitsdienstes in der Subocz-Straße auf den günstigsten Moment gewartet hatten, waren sie bei Anbruch der Dämmerung als Liebespaare getarnt durch die Stadt gezogen. Vorbei an anderen Flüchtenden, die nicht so viel Glück gehabt hatten. Rebellen, deren Maskerade aufgeflogen war, sodass die Deutschen sie zur Strafe an Laternen aufgehängt hatten. Männer, Frauen und Kinder, deren Arme schlaff herunterhingen.

Dann hatte der Regen eingesetzt. Immer stärker und stärker, bis es schließlich geschüttet hatte wie aus Eimern.

»Könnte Tartaki sein«, vermutete Abba, als sie Stunden später endlich das nächste Dorf außerhalb der Stadt erreicht hatten. Unverhohlen sprach ihr Anführer einen der Bewohner an, der auf einem Feld schuftete, und fragte ihn nach dem Weg. Zu Vitkas Überraschung half der Bauernjunge ihnen bereitwillig weiter. Er erklärte ihnen, wie sie über sumpfige Waldwege, Hügel und durch bedrückende Schluchten gehen mussten, bis zu einer weitläufigen Wiese, an deren Ende ein Trampelpfad in den Wald eintauchte. Das war ihr Weg nach Rudnicki.

*

Der Gestank war unerträglich. Leipke drehte sich der Magen herum. In seinem Hals schmeckte er Erbrochenes. Doch so fest er sich auch die Nase zuhielt, der strenge Geruch fand immer wieder einen Weg in sein Riechorgan.

Wie lange er nun schon hier in diesem Waggon hockte? Leipke konnte es nur schätzen. Aufgrund der niedrigen Geschwindigkeit, mit der der Güterzug über Felder, Brücken und durch Tunnel tuckerte, und wegen der zahlreichen Zwischenstopps hatte er sein Zeitgefühl verloren. Mindestens drei volle Tage, mutmaßte er, mussten vergangen sein, seitdem die Deutschen sie zusammengepfercht und auf die Reise mit unbekanntem Ziel geschickt hatten.

Sie, das waren Juden, die überwiegend aus dem Getto stammten. Dicht an dicht teilten sie sich die wenigen Quadratmeter. Saßen so eng beieinander, dass Umfallen nicht möglich war, und die Wenigen unter ihnen, die einen Platz auf einer der Pritschen ergattert hatten, lagen nebeneinander wie Ölsardinen.

Es hatte nur wenige Minuten gedauert, bis der Gestank sich nach ihrer Abfahrt ausgebreitet hatte. Viele hatten sich beim Einsteigen in die Hose gemacht. Zusammen mit dem süßlichen Duft nach Schweiß und dem Geruch von Erbrochenem ergab es eine olfaktorische Mischung, die alles dominierte. Und da durch das einzige, schmale Fenster so gut wie kein Sauerstoff eindrang, fielen die Menschen reihenweise in Ohnmacht. Die meisten kamen wieder zu sich, nachdem man sie mehrere Male geohrfeigt hatte. Andere entschwanden für immer.

Plötzlich tippte Leipkes Sitznachbarin ihm auf die Schulter. »Hallo? Bist du noch da?«, fragte sie.

Leipke schüttelte sich kurz. »Ja, ich …«, antwortete er benommen, »ich brauchte nur mal etwas Ruhe.«

Helene, mit der er sich bereits ausgiebig unterhalten hatte, lächelte. Ihre braunen Augen funkelten. Sie strahlten dieselbe Wärme und Jugend aus wie die von Ruzka, und sogar in weiteren Dingen hätten sie durchaus Schwestern sein können. So war auch Helene nicht besonders hochgewachsen, hatte ähnlich krauses Haar und ein spitzbübisches Gesicht. Der beinahe einzige und zugleich größte Unterschied bestand in der Farbe ihrer Haut, denn Helenes war so hell und weiß wie frisch gefallener Schnee.

Leipke vermisste Ruzka. Was wohl nach ihrem Sprung aus dem Fenster aus ihr geworden war? Hoffentlich hatte sie sich dabei nicht allzu schwer verletzt. Außerdem fragte er sich, ob ihr die Flucht vor den Deutschen gelungen war. Die Tatsache, dass sie nicht mit ihm hier in dem Waggon saß, stimmte ihn vorsichtig optimistisch.

Trotzdem bezweifelte Leipke, dass er sie jemals wiedersehen würde. Nicht nur, weil auch er diese unvorstellbaren Gerüchte von den Lagern, in denen die Nazis die Juden systematisch ermordeten, gehört hatte. Sondern weil er davon ausging, dass die Deutschen nach dem gescheiterten Aufstand das Getto rücksichtslos auflösen würden, und wenn Ruzka, Abba, Vitka und die anderen nicht durch die Kanalisation flohen, würden sie demnach früher oder später der Gestapo in die Hände fallen. Dann würde ihnen dasselbe Schicksal drohen wie Wittenberg – und den unzähligen anderen Juden, die bereits hingerichtet worden waren.

Wieder tippte Helene ihm auf die Schulter. »Worüber hast du nachgedacht?«, fing sie erneut ein Gespräch an.

Leipke richtete sich auf und schüttelte seine Arme und Beine aus. Er hoffte, dass dies seine Müdigkeit vertreiben würde.

»Ich habe mich gefragt, wo sie uns wohl hinbringen.«

»Auf jeden Fall fahren wir Richtung Norden.«

»Bist du sicher? Wie kannst du das wissen?«

»Ganz einfach.« Mit einer Hand drehte Helene seinen Kopf sanft zu dem mit Stacheldraht verhauenen Fenster, dem sie gegenübersaßen. »Aus dem Fenster da gucken wir nach Osten. Das heißt, dass zu unserer Linken Norden ist. Und da die Bäume, die ich von hier aus sehen kann, sich von links nach rechts bewegen …« Wieder schenkte sie ihm ein Lächeln.

»Woher weißt du, dass das Fenster nach Osten zeigt?«

»Du hast in der Schule wohl nicht sonderlich gut aufgepasst, was?« Helene zwinkerte. »Heute Morgen hat mir die Sonne ins Gesicht geschienen.«

»Die Sonne geht im Osten auf«, sagte Leipke nun mehr zu sich selbst. »Kluges Mädchen.«

»Wohin sie uns fahren, weiß ich leider trotzdem nicht.«

Leipke schloss die Augen. Er versuchte, sich eine Landkarte des Baltikums vorzustellen, malte gedanklich eine Linie von Wilna ausgehend Richtung Norden. Schätzte, dass sie nicht mehr als zwanzig Kilometer pro Stunde zurücklegten, überschlug die Anzahl und Dauer der Zwischenstopps und kam so auf eine Distanz zwischen fünfhundert und sechshundert Kilometern.

»Tallinn«, sagte Leipke. Die nördlichste Stadt des Baltikums, direkt an der Ostsee gelegen.

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