Zorn der Lämmer

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Sogar eine Art kulturelles Leben hatte sich entwickelt. Daran hatte Gens, der selbst vor allem an Literatur interessiert war, tatkräftig mitgewirkt. Einen seiner größten Erfolge verzeichnete er, als er bei Murer die Erlaubnis zur Veröffentlichung einer eigenen Zeitung heraushandelte. Im Getto-Anzeiger erschienen Artikel, Kommentare, Rezensionen und Namenslisten. Es gab eine eigene jüdische Bibliothek, und sogar ein Turnverein wurde gegründet.

Gegen das geplante Theater hatte sich jedoch großer Widerstand formiert. Sogar am Morgen der Eröffnung musste die jüdische Polizei Spruchbänder von dem Gebäude entfernen. »Auf einem Friedhof spielt man kein Theater«, hatte in Großbuchstaben auf ihnen gestanden. Die Schauspielgruppe erfreute sich dennoch zufriedenstellender Besucherzahlen. Hier, im Theater, konnten Schriftsteller nun ungestört ihre Texte vortragen, Maler ihre Kunstwerke ausstellen und das Orchester Lieder von Beethoven, Chopin und Tschaikowsky spielen.

Es seien kultivierte Tage, hörte man die Menschen auf der Straße sagen.

Jakob Gens mochte diesen Ausdruck. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass er es war, der diese Errungenschaften maßgeblich ins Leben gerufen hatte. Nur dank ihnen gelang es den Bewohnern, das Leid für ein paar Stunden zu verdrängen.

*

Aus sicherer Entfernung observierte er das Gettotor. Leipke lehnte an einer bröckelnden Hauswand in der Ostrobramska-Straße und kaute auf einem Zahnstocher. In Gedanken ging er wieder und wieder die Schritte ihres Plans durch. Den litauischen Soldaten, der mit misstrauischem und geschultem Blick das Tor bewachte, verlor er dabei nicht aus den Augen.

Hoffentlich schöpfte dieser Scheißkerl keinen Verdacht, dachte Leipke.

Wie immer, wenn er nervös war, nestelte er an seiner Kleidung herum. So gut es eben ging, seitdem er bei der Explosion vor einem Jahr vier Finger an der rechten und drei an der linken Hand verloren hatte. Dennoch arbeitete er weiterhin in der Waffenfabrik, obwohl die Ursache des Unfalls nach wie vor nicht bekannt war. Von dem Unglückstag wusste Leipke nur noch, wie er mit bandagierten Händen im Krankenhaus aufgewacht war, denn die Detonation hatte auch den Großteil seiner Erinnerung geraubt. Manche seiner Kollegen behaupteten, es habe an einem fehlerhaften Zünder gelegen.

Plötzlich hörte Leipke das erlösende Geräusch: den Motor eines Lkw, der sich dem Gettotor näherte.

Äußerlich scheinbar desinteressiert, sah er dabei zu, wie das Fahrzeug im Schritttempo in die Niemiecka-Straße bog. Hinter dem Lenkrad erkannte er das unverwechselbare Gesicht von Shmuel Kaplinsky. Wie eine Landkarte der Gegend um Wilna sah es aus, gezeichnet von Hügeln und Tälern, durchzogen von roten und blauen Linien, die die Haupt- und Nebenstraßen markierten.

Nun kreuzten sich flüchtig die Blicke der beiden Männer. Doch obwohl sie einander kannten, reagierten sie nicht. Kein Nicken, kein geflüstertes Hallo, keine zum Gruß erhobene Hand. Nichts durfte ihren Plan gefährden.

Wenige Meter vor dem Tor kam der Lkw schließlich zum Stehen. Auf der Rückseite war das Firmenzeichen der Wilnaer Wasserwerke zu erkennen. Shmuel, der wie so viele in der Jungen Garde überzeugter Kommunist war, stieg aus, überquerte die Straße und strebte mit entschlossenen Schritten auf den Kanaldeckel in der Nähe des Gettozauns zu. Bekleidet mit einem blauen Arbeitsanzug und einem gelben Schutzhelm auf dem Kopf, trug er die perfekte Tarnung.

Wochenlang war Shmuel damit beschäftigt gewesen, Karten der Kanalisation anzufertigen. Dafür hatte er alle Männer, die Abbas Aufruf zum Widerstand gefolgt waren, auf Erkundungsgänge durch die Schächte geschickt. Manchmal, wenn der anhaltende Regen diese überschwemmte, gab es dort unten nur wenig Luft zum Atmen. Die Männer mussten dann ihre Köpfe in den Nacken legen und sich schweigend durch die engen Rohre schieben, während sie beteten, in dem Geflecht aus Kammern und Korridoren nicht die Orientierung zu verlieren. Leider verschlang dieses düstere Labyrinth so manche von ihnen und spuckte sie erst Tage später als aufgequollene und von Ratten angenagte Leichen wieder aus.

Der kritische Blick des litauischen Soldaten holte Leipke zurück. Shmuel hatte nun dessen volle Aufmerksamkeit erregt.

»So früh am Morgen?«, fragte der Soldat mit kräftiger Stimme. »Was zum Teufel tun Sie da?«

Doch Shmuel ließ sich nicht beirren. Ruhig sah er seinem Gegenüber in die Augen und setzte schließlich wie selbstverständlich seine Arbeit fort.

»Ein sieben Meter langes Rohr verlegen«, antwortete er kühl. Umstellte den Kanaldeckel mit Pylonen, sicherte den Bereich zusätzlich mit Absperrband und pfiff kurzerhand zwei weitere Arbeiter herbei. Die Männer, die mit Taschenlampen und Brecheisen bewaffnet waren, zerrten gerade eine offensichtlich schwere Holzkiste von der Ladefläche des Lkw. Zu Leipkes Erleichterung schien der Soldat auf ihr Schauspiel hereinzufallen.

»Sieht nach ’ner echten Plackerei aus«, kommentierte er und nickte in die Richtung der beiden Arbeiter.

»Wenn Sie uns unter die Arme greifen möchten?« Shmuel sah ihn einladend an. »Wir können jede Hilfe gebrauchen.«

Der Soldat schmunzelte und winkte ab. Wortlos drehte er sich daraufhin zur Seite, begann seinen Kontrollgang entlang des Zauns und überließ die drei Männer sich selbst.

Das war gerade noch mal gut gegangen.

Nun sah Leipke dabei zu, wie Shmuel mit einer Brechstange den Kanaldeckel anhob. Als ob er etwas Bestimmtes suchte, leuchtete er mit einer Taschenlampe in das dunkle Loch hinab. Anschließend signalisierte er seinen Begleitern grünes Licht. Die Arbeiter hoben die Kiste an den Griffen hoch, bugsierten sie durch die schmale Öffnung und verschwanden daraufhin mit ihr in der Kanalisation.

Erst jetzt warf Shmuel ihrem Beobachter einen flüchtigen Blick zu. Kaum erkennbar nickte er in Leipkes Richtung. In einer Stunde, so die Bedeutung dieses verabredeten Zeichens, würden sie wieder zurück sein.

Die Kiste allerdings wäre dann um einige Gewehre leichter. Die erste Waffenlieferung des Widerstands war erfolgreich über die Bühne gegangen.

*

Zunächst nahm sie nur ein flüchtiges Rascheln wahr. Als es jedoch lauter und regelmäßiger wurde, richtete Janina Marewska sich auf und lauschte.

»Hörst du das auch?«, fragte Maria. Ihre kleine Schwester, mit der sie sich ein Bett teilte, war zwölf Jahre jünger.

»Schlaf weiter«, beruhigte Janina sie. Mit einer Hand drückte sie sie zurück in die Waagerechte. »Das kommt von den Feldern.«

Dann legte auch sie sich wieder hin und schloss die Augen. Die tägliche Schufterei in der Bäckerei ihres Vaters forderte ihre ganzen Kräfte, und so war sie dankbar für jede Stunde Schlaf. In Gedanken ging sie noch einmal ihre Aufgaben für den kommenden Tag durch.

Plötzlich wieder ein Klappern.

Janina schoss hoch in die Senkrechte. Hatte sie aus dem Augenwinkel tatsächlich etwas an ihrem Fenster vorbeihuschen gesehen? Hastig griff sie nach ihrer Brille. Im Mondschein erkannte sie die Umrisse eines Helms. Ihr Puls begann zu rasen, als sie in die Augen eines deutschen Soldaten blickte.

Mit einem Mal überschlugen sich die Ereignisse. Janina hörte, wie die Haustür aufgebrochen wurde und eine Gruppe von Männern hineinstürmte.

»Los, los! Alle raus!«, brüllten sie. Dazwischen vernahm Janina das Wimmern ihrer Mutter, die ihren kleinen Bruder Moshe auf dem Arm trug, und das verzweifelte Flehen ihres Vaters. All das nützte nichts. Mit vorgehaltenen Gewehren trieben die Deutschen sie auf die Straße. Sie gaben ihnen nicht einmal Zeit, sich anzukleiden.

Draußen hatten sie bereits das halbe Dorf aufgereiht. Dicht aneinandergedrängt standen die Bewohner in ihren dünnen Nachtgewändern mit dem Rücken zur Kirchenmauer und zitterten vor Kälte. Zwischen ihnen entdeckte Janina das schockerstarrte Gesicht von Yaron. Für gewöhnlich hatte der Nachbarsjunge jeden Tag ein Lächeln auf den Lippen, wenn sie von der Arbeit in der Bäckerei nach Hause an seinem Fenster vorbeiging. Jetzt konnte Janina trotz der Dunkelheit erkennen, dass in seinen Augen nicht das übliche, freudvolle Funkeln, sondern stattdessen nackte Angst lag.

Den Bewohnern gegenüber stand eine Gruppe deutscher Soldaten. Überwacht von einem hochgewachsenen Offizier, der sein Gesicht unter einer Mütze mit dem unverkennbaren Adler verbarg und seine Hände tief in den Taschen seines ledernen Trenchcoats vergraben hatte. Bei seinem Anblick lief es Janina kalt den Rücken hinunter. Augenblicklich wurde ihr klar, dass er derjenige war, der in dieser Nacht über ihr Leben und das ihrer Nachbarn entscheiden würde.

Als plötzlich ein Mädchen in der Reihe die Kräfte verließen und es auf die Knie fiel, nickte der Offizier dem Soldaten an seiner Seite knapp zu. In der tiefschwarzen Nacht erkannte Janina zwar nicht, was dieser antwortete, doch an den Bewegungen seiner Lippen erahnte sie, dass es die zwei deutschesten Worte überhaupt waren: »Zu Befehl!«

Der Soldat eilte zu der Kirchenmauer hinüber, zog hinter seinem Rücken eine Peitsche hervor und prügelte unter dem Flehen der Mutter auf das bewusstlos am Boden kauernde Mädchen ein, bis Blut aus Mund und Nase seines Opfers quoll. Als das Mädchen aufhörte zu zucken, trat der Soldat mit seinen Militärstiefeln so lange auf seinen Schädel ein, bis dieser zerbrach. Das Geräusch fuhr Janina durch Mark und Bein. Die Mutter brach in einen Heulkrampf aus.

»Runter, du Judensau!«, herrschte der Soldat sie an. Mit einer Hand zeigte er auf seine Stiefel. »Ablecken!«

Weil sie seinen Befehl nicht befolgte, schlug er nun auch auf sie ein. Hob sie immer wieder hoch, wenn sie vornüber in den blutgetränkten Matsch gefallen war, und schlug mit dem Ledergriff seiner Peitsche zu. Bis sie schließlich auf allen vieren zu ihm kroch und anfing, mit der Spitze ihrer Zunge seine Stiefel abzulecken. Als der Soldat genug gesehen hatte, zückte er grinsend seine Pistole, presste die Mündung an den Kopf der Mutter und drückte ab. Jegliches Geräusch erstarb mit dem Knall auf dem Dorfplatz. Alle Bewohner schienen zu verstehen, dass niemand von ihnen diese Nacht überleben würde.

 

»Achtung!«, hallte der Befehl eines Unteroffiziers zwischen den Steinmauern. Synchron schlugen die übrigen Soldaten ihre Hacken zusammen. »Legt an!«

Janinas Blicke schossen zwischen ihnen und Yaron hin und her. Die Hände hinter dem Kopf gefaltet, stand der schmächtige Kerl mit den kurzen Haaren, für den sie schon seit geraumer Zeit schwärmte, reglos da und starrte in den Lauf des auf ihn gerichteten Gewehrs.

»Juden«, ertönte mit einem Mal die Stimme des Offiziers im Trenchcoat aus einem Sprachrohr. »Vierhundert tapfere und ehrenhafte deutsche Soldaten sind bei einem feigen Anschlag ermordet worden. Wie wir wissen, haben Bewohner dieses Dorfes die Täter bei der Ausführung unterstützt. Auf Befehl des Führers werden die Verbrecher nun ihre gerechte Strafe erhalten.«

Janina hatte davon gehört. Nur ein paar Kilometer von hier war auf einer Brücke ein Zug der Wehrmacht explodiert und in die Schlucht gestürzt. Ihr Vater hatte sogar die Flammen gesehen, die am Himmel aufgetaucht waren. Im Dorf hatte man gerätselt, wer wohl für diesen Anschlag verantwortlich gewesen war. Es mussten Partisanen gewesen sein, hatte so mancher gemutmaßt. Viele äußerten die Sorge, dass die Widerstandskämpfer sie eines Tages noch alle ins Grab bringen würden, und so hatte es niemanden gegeben, der diese Aktion offen für gut befunden, geschweige denn sie unterstützt hätte. Außer Yaron, von dem Janina wusste, dass er die stille Kollaboration vieler Menschen immer wieder scharf verurteilt hatte. In ihren seltenen zweisamen Gesprächen hatte er davon fantasiert, nach Wilna ins Getto zu gehen und sich dort einer Gruppe von Rebellen anzuschließen. Für diesen Mut bewunderte Janina ihn, denn sie selbst hätte ihn niemals aufgebracht.

Ein plötzlicher Schrei holte sie zurück.

»Feuer!«, befahl der deutsche Unteroffizier. Ließ seinen Arm nach unten fallen wie das Beil eines Henkers und gab damit den Soldaten das Zeichen zum Abdrücken. In dem Bruchteil einer Sekunde riss die Salve die Menschen von den Beinen. Als Janina sah, wie Yaron getroffen fiel, brach auch sie zusammen, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Nur kurz spürte Janina den schmerzhaften Aufprall eines Gewehrkolbens, mit dem der Soldat in ihrem Rücken sie ohnmächtig schlug.

*

Abba konnte nicht glauben, was er da hörte. Mit leuchtenden Augen rückte er dicht an den Empfänger heran. Ihn lauter zu drehen, wäre zu riskant gewesen, denn den Juden war der Besitz von Radios und Telefonen strengstens verboten.

Davon ließ sich der Oberleutnant der FPO jedoch nicht beirren. Nacht für Nacht verbarrikadierte Abba sich in einem Keller im Getto, mehrere Meter unter der Straße. Rauchte eine Zigarette nach der anderen und hörte SWIT, den Rundfunksender des Untergrunds. In der Hoffnung, irgendein Lebenszeichen von außerhalb des Gettos zu erhalten.

Manchmal, wenn Vitka und Ruzka ihn begleiteten, ließ Abba sogar Musik laufen. Dann tanzten sie miteinander die Nächte durch, vergaßen für ein paar Stunden den quälenden Hunger, der sie schwächte, die Strapazen des Waffenschmuggels und die schwindende Hoffnung darauf, dass die Juden sich ihnen, den Rebellen, eines Tages anschließen und gegen die Deutschen kämpfen würden. Seltene, deshalb aber umso süßere und ungetrübtere Freude. Hinterher kam es vor, dass Abba sich manchmal schuldig fühlte, weil die Menschen im Getto niemals solche Momente, sondern nur tägliches, grenzenloses Leid erlebten. Ein Gefühl, das ihn auch befiel, als er von der Racheaktion in Oszmiana erfuhr. Eines der Rebellenmädchen, die auf seinen Befehl die Dörfer in der Umgebung abklapperten, hatte ihm die erschütternde Botschaft überbracht: Im Schutz der Nacht war die SS in das Dorf einmarschiert und hatte alle Bewohner erschossen. Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder und Neugeborene. Danach hatten sie sämtliche Häuser in Brand gesteckt und waren wieder abgezogen. In dem Dorf schwelte noch tagelang das Feuer. So blieben von Oszmiana nur Erinnerungen übrig. Als Vergeltung für den ersten Anschlag der FPO, die Sprengung des Wehrmachtszuges, hatten die Deutschen das Dorf von der Landkarte gelöscht.

Jetzt, als die Stimme des Ansagers im Empfänger knisterte, empfand Abba hingegen nichts als Begeisterung. »Achtung, Achtung! Hier spricht der polnische Widerstand. Seit heute, neunzehnter April 1943, befindet sich das Warschauer Getto im Aufstand.«

Zitternd vor Aufregung lauschte Abba den folgenden Ausführungen. Mit jeder weiteren Information funkelten seine Augen immer heller. Sie sprachen von Schusswechseln. Davon, dass die Warschauer Rebellen geschmuggelte Maschinengewehre einsetzten und zahlreiche deutsche Soldaten töteten. Von Molotowcocktails, die durch den Himmel schwirrten und ihn mit gleißenden Stichflammen erhellten. Von Bewohnern, die – aus ihren Hinterhalten feuernd – den Kugelhagel auf ihre Unterdrücker richteten.

Da war sie endlich. Die lang ersehnte Revolte, zu der Abba auch die Warschauer Juden gedrängt hatte. Zuria war erfolgreich gewesen: Vor einem Jahr hatte Abba das Mädchen nach Polen geschickt, damit sie den dortigen Zionisten vom Massaker in Ponary erzählte und seine Rede vom Silvesterabend vorlas. In Abbas Augen war es besser, als freier Mensch zu sterben, als durch die Gnade seines Mörders weiterzuleben. Das sollte sie ihnen mitteilen, und anscheinend hatten seine Worte nun Früchte getragen. Jetzt würden ihm hoffentlich auch die litauischen Juden folgen, dachte Abba.

*

Zielstrebig marschierte sie auf das Gettotor zu.

Anna Borkowskas Herz trommelte wie verrückt. Ein Gefühl, als würde es augenblicklich aus ihrer Brust springen. Der Judenstern, den Schwester Dalia an ihren Mantel genäht hatte, vibrierte bei jedem Schlag. Trotz der winterlichen Temperaturen lief warmer Schweiß unter ihrem Kopftuch an den Schläfen herunter. Für sie als gläubige Christin war es ein beklemmendes Gefühl, den Judenstern zu tragen. Nicht nur, weil sie sich dadurch selbst in Gefahr begab, sondern weil auch sie nun zum ersten Mal die Unterdrückung spürte, die mit ihm verbunden war. Die Entwürdigung, die permanente menschliche Herabsetzung. Wie grausam musste es wohl für die Menschen sein, die ihn jeden Tag zu tragen gezwungen waren. Es war Anna Borkowska nun klar, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Wenn sie sich den Juden im Getto schon nicht anschließen konnte, dann würde sie ihren Kampf zumindest mit allen Mitteln unterstützen. Koste es, was es wolle. Denn so hatte sie Gottes Auftrag verstanden.

Trotzdem durfte sich die Mutter Oberin ihre Aufregung nicht anmerken lassen. Ihr Auftreten musste natürlich und selbstverständlich wirken. So, als wäre sie wirklich nur eine bettelarme, schüchterne Jüdin, die von der Plackerei in einer der Fabriken der Stadt nach Hause kam.

Jetzt, als es nur noch wenige Meter bis zu der Menschenschlange vor ihr waren, vernahm Anna die herrischen Stimmen der jüdischen Polizisten. So unauffällig wie möglich beobachtete sie die Männer bei ihrer Arbeit. Sah zu, wie sie mit finsteren Mienen einen nach dem anderen zu sich riefen und abtasteten. Mit dem, was Anna in ihrer Hose versteckte, würden sie sie direkt aussortieren. Würden sie an die Gestapo weiterleiten, was ihren sofortigen Tod bedeutete.

Doch sie hatte eine Eintrittskarte, und diese Eintrittskarte hieß Chajm. Chajm Goldmann – ein Junge an der Schwelle zur Volljährigkeit, den die FPO bestochen hatte. Ob es Gottes Wille war, dass sein Name auf Hebräisch »Leben« bedeutete? Denn er, der sich wegen der Privilegien freiwillig für die jüdische Polizei gemeldet hatte, würde darüber entscheiden, ob die Mutter Oberin weiterleben durfte – oder sterben musste.

Hoffentlich hatten sie sie ihm ausreichend beschrieben, dachte Anna. Spätestens wenn Chajm bei der Kon­trolle erfühlte, was sie ins Getto zu schmuggeln versuchte, würde die Stunde der Wahrheit schlagen.

»Der Nächste!«, rief der schmächtige junge Mann.

Anna stellte sich vor ihn und verschränkte die Hände hinter ihrem Kopf. An einer Hauswand auf der anderen Straßenseite glaubte sie ihre Kontaktfrau zu erkennen. Wenn alles nach Plan verlief, würde Anna von ihr, die mit bangen Blicken zu ihr herübersah, zum Hauptquartier des Widerstands geführt werden. Dorthin, wo die Kämpfer bereits sehnsüchtig auf ihre Lieferung warteten.

Die Betonung lag auf »wenn«.

»Führst du etwas bei dir, Jude?« Chajms kräftige Stimme schoss durch Annas Körper. Es fühlte sich an, als würde er sie mit seinem Blick durchbohren. »Sag’s besser gleich. Wir finden es sowieso.«

Anna schüttelte den Kopf. Wieder rann Schweiß an ihren Schläfen herunter. Sie konnte einfach nicht aufhören zu schwitzen.

»Gut«, sagte Chajm und startete sein Kontrollprogramm. Tastete zunächst ihre angewinkelten Arme ab, dann Kopf, Nacken, Hals und Schultern. Wanderte an ihrem Oberkörper herunter, bis er zu ihrer Hüfte und zu ihren Oberschenkeln kam. Und schließlich zu der Stelle, an der Schwester Dalia die Handgranaten mit Tüchern festgebunden hatte.

Chajm stoppte. Sein Blick schoss nach oben.

Anna schloss ihre Augen und betete. Noch nie hatte sie Gottes Barmherzigkeit so sehr gebraucht wie jetzt.

*

Leider hatte Abba mit seiner Vermutung recht behalten: Sie hätten Jakob Gens nicht über den Weg trauen dürfen. Wie ihr Anführer vorhergesagt hatte, waren sie von diesem elendigen Verräter in eine hinterlistige Falle gelockt worden.

Leipke stand nur wenige Meter vom Hauptgebäude der jüdischen Polizei in der Szpitalna-Straße entfernt und beobachtete den Ausgang. Ähnlich wie Vitka war auch er die Idealbesetzung für Aufträge wie diese, denn dank seiner kräftigen Statur, seiner blonden Haare und seiner blauen Augen sah er exakt so aus, wie die Deutschen sich einen Arier vorstellten.

Aus diesem Grund fiel er auch den beiden SS-Männern, die zusammen mit Wittenberg aus dem Gebäude kamen, nicht auf. Indem er vortäuschte, in eine andere Richtung zu sehen, observierte Leipke aus dem Augenwinkel jede ihrer Handlungen. Sah zu, wie sie dem Löwen, wie Wittenberg bei den Rebellen hieß, schwere Ketten anlegten, die auf dem Boden schleiften. Er beobachtete, wie sie im Gänsemarsch auf das Gettotor zustrebten, vor dem ein dunkelgrauer Mercedes mit laufendem Motor auf sie wartete.

Dann war der Moment gekommen. Leipke holte tief Luft und blies kurz und kräftig in seine Trillerpfeife. Erschrocken schossen die SS-Männer zu ihm herum.

Shmuel, der auf dieses Zeichen gewartet hatte, nutzte den Moment ihrer Unaufmerksamkeit, sprang aus einer dunklen Seitenstraße, stürzte sich auf sie und versetzte ihnen mit einem Brecheisen blitzschnell zwei Schläge auf den Hinterkopf. Während die SS-Männer daraufhin benommen zu Boden sanken, winkte er hektisch Leipke herbei.

»Los, wir müssen von hier verschwinden«, befahl er und warf Wittenberg zur Tarnung einen Mantel über. »Wir haben nicht viel Zeit. Hier wird’s gleich vor Gestapo nur so wimmeln.«

Mit vereinten Kräften packten sie den Löwen unter den Armen und schleppten ihn in die Straschun-Straße. In den Keller des Hauses, in dem sich neben dem Hauptquartier des Widerstands sowie dem Waffenlager auch eine Werkstatt befand. Dort angekommen, schnappte Shmuel sich eine Metallsäge und befreite Wittenberg von den Ketten. Gemeinsam warteten sie darauf, dass die anderen wie verabredet eintreffen würden. Eine Viertelstunde später kamen sie an.

Leipke errötete, als Ruzka ihn erneut mit diesem für sie so typischen, warmen Blick begrüßte. Seitdem er sie bei Abbas Ansprache an Silvester im Keller des Ratsgebäudes zum ersten Mal so leidenschaftlich und wortgewandt erlebt hatte, ging ihm das krausköpfige Mädchen mit dem wippenden Gang einfach nicht mehr aus dem Kopf. Wie er inzwischen herausgefunden hatte, waren sie sogar gleich alt. Was ihm jedoch zu schaffen machte, waren die Gerüchte. Wie viel wohl an ihnen dran war? Ob es tatsächlich stimmte, dass Abba, Vitka und Ruzka eine Dreierbeziehung führten?

»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte Shmuel schließlich. Wittenberg, der von der Befreiungsaktion immer noch mitgenommen war, sah ihm reglos in die Augen. »Am besten ziehen Sie das hier an.«

Der Löwe kauerte sich auf einen Hocker, streifte sich das Kleid über, das sie ihm organisiert hatten, und band sich ein Tuch um den Kopf. Um seine Verwandlung perfekt zu machen, schminkten Vitka und Ruzka ihm die Lider und die Lippen. Als sie fertig waren, nickte Shmuel anerkennend.

 

»Wir müssen den Widerstand in Alarmbereitschaft versetzen«, sagte er. »Falls die Deutschen jetzt das Getto stürmen, werden wir kämpfen!«

*

Keuchend rannte Ruzka dem wütenden Mob hinterher. Durch ihre kurzen Beine war sie jedoch eindeutig im Nachteil, und schon bald drohte sie deshalb den Kontakt zu der aufgebrachten Menschenmenge zu verlieren. Abba, den sie vor sich herjagten, konnte sie kaum noch sehen. In ihrem Rücken lauerten weitere hysterische Bewohner, die ihr dicht auf den Fersen waren.

»Gebt uns Wittenberg!«, skandierten die Leute und bewarfen sie mit Abfall.

Nach der gelungenen Befreiung des Löwen war Murer unverhofft in Gens’ Büro aufgetaucht. Natürlich hatte der Oberst gewusst, dass der Chef der jüdischen Polizei auch Kontakte zum Untergrund pflegte.

»Richte diesen Schädlingen Folgendes aus«, hatte er Gens unmissverständlich befohlen, »entweder sie liefern mir Wittenberg oder ich lasse das Getto liquidieren.« In Windeseile hatte sich seine Drohung wie ein Lauffeuer unter den Bewohnern verbreitet.

Im Morgengrauen entbrannte sich der Zorn schließlich. Die Rebellen waren gerade dabei, sich in ihrem Hauptquartier in der Straschun-Straße zu beraten, als plötzlich eine Scheibe klirrte. Zunächst war nur ein einzelner Stein durchs Fenster geflogen. Kurz darauf ein zweiter, dann ein dritter. Alle warfen sich auf den Boden und schützten mit den Händen ihren Kopf.

Als der Boden großflächig mit Steinen und Scherben bedeckt war, kehrte eine kurze Feuerpause ein. Mutig krabbelte Ruzka auf den Knien zum Fenster und lugte durch den gesplitterten Holzrahmen hinaus auf die Straße. Dort unten hatte sich eine Horde johlender Männer formiert. Lautstark forderten sie Wittenbergs Auslieferung. »Gebt ihn raus! Gebt ihn raus!«, riefen sie unablässig.

»Wir müssen da runter«, sagte Abba.

»Und was willst du tun?«, wandte Shmuel ein. »Hört sich das an, als würden die mit uns reden wollen?«

»Wir müssen es versuchen.« Abba richtete sich behutsam auf und zeigte zum Fenster. »Der Löwe darf ihnen unter keinen Umständen in die Hände fallen.«

Unten angekommen, wurden die Rebellen von wütenden Männern und Frauen empfangen. Ruzka glaubte, unter ihnen sogar ein paar ihrer Freunde ausmachen zu können.

»Du bist ein Fanatiker!«, schrien die Bewohner in Abbas Richtung. Einige versuchten, ihm ins Gesicht zu spucken. »Wir wollen nicht für Wittenberg sterben!«

Auf einmal kam Bewegung in den Mob. Binnen Sekunden roch es auf der Straße nach Blut. Auf beiden Seiten stürzten Menschen zu Boden, kauerten sich schützend zusammen und japsten nach Luft. Eine plötzliche Entladung des Hasses, wie die Eruption eines Vulkans. Eine unbändige Wut, von der Ruzka vermutete, dass sie einzig in der ständigen Angst vor dem Tod begründet war, die über den Bewohnern des Gettos schwebte. Ein Ventil, das nach einem Ablass forderte. Zum Glück gelang es Ruzka, den Schlägen und Tritten auszuweichen.

Doch dann ließen die Angreifer überraschend von den Rebellen ab. Unverrichteter Dinge nahmen sie ihre Beine in die Hand und rannten davon.

»Hinterher!«, krächzte Abba. Obwohl er selbst einige Schläge einstecken musste, hatte er sich trotz seines schmächtigen Körperbaus wacker gehalten. Mühsam quälte er sich auf die Beine, und mitsamt den wenigen, die noch bei Bewusstsein waren, nahm er die Verfolgung auf. Ruzka, die verschont geblieben war, hatte alle Mühe, den Trupp nicht aus den Augen zu verlieren.

Wie entfesselt stürmten die Bewohner nun durchs Getto. Filzten Haus für Haus, durchwühlten alle Zimmer, rissen falsche Wände nieder und durchsuchten jeden Winkel nach Wittenberg. Aus Sicherheitsgründen wusste Ruzka selbst nicht, wo der Löwe sich versteckt hielt. Nicht mal Abba und Glassmann, die beiden Oberleutnants, wussten es. Shmuel, der an der Befreiungsaktion des Löwen beteiligt gewesen war, hatte ihn an einem streng geheimen Ort untergebracht.

Dann tauchte Wittenberg mit einem Mal auf der Straße auf. Der Mob hatte seinen Unterschlupf ausfindig gemacht. Der Löwe sprintete aus der Dachkammer, in der er sich versteckt gehalten hatte, verließ das Haus durch die Hintertür und rannte ins Freie. Als wäre die Stimmung nicht schon aufgebracht genug gewesen, lieferte sein Erscheinen nun den Startschuss für eine wilde Hetzjagd. Quer durchs Getto.

Bis Ruzka aus der Ferne plötzlich einen Trupp jüdischer Polizisten ausmachte. »Halt!«, wollte sie Wittenberg zurufen. Doch der Löwe hätte sie nicht gehört, und so musste Ruzka machtlos zusehen, wie er weiter auf die Polizisten zustürmte. Als sie ihn erkannten, stellten die jungen Männer sich dreiecksförmig auf, wie ein menschlicher Keil, und zückten ihre Schlagstöcke. Doch bevor der Löwe ihnen in die Arme lief, zog er in vollem Lauf eine Pistole hervor, zielte auf die Köpfe der Männer – und drückte ab.

Der Knall schoss Ruzka durch den ganzen Körper und ließ sie an Ort und Stelle erstarren.

*

Während er sich in dem Raum umsah, ließ Isaak Wittenberg die kleine Kapsel durch seine Finger wandern. Schon vor Stunden hatten sie ihn hierhergebracht. In ein Hinterzimmer im Hauptquartier der Gestapo, das sich in der prachtvollen, von Bäumen und luxuriösen Geschäften sowie noblen Lokalen gesäumten Vilnius-Straße befand. Hatten ihn zunächst durch einen langen Flur und schließlich in diese leere, fensterlose Kammer geführt. Als er sie betrat, empfing ihn der finstere Blick Adolf Hitlers, dessen übergroßes Porträt wie eine ständige Drohung an der Wand hing.

Wittenberg fiel es nicht schwer zu erahnen, welches Schicksal ihm bevorstand. Er rechnete damit, dass jeden Augenblick die schwere Zellentür aufgehen, man ihn in einen entlegenen Raum führen und dort das angekündigte Verhör beginnen würde. Doch egal, was sie auch mit ihm anstellten, er würde der geheimen Staatspolizei niemals die Waffenverstecke des Untergrunds verraten. Zu überzeugt war er davon, für die rechte Sache zu kämpfen, und wenn sein Tod das unvermeidliche Opfer war, das zu erbringen ihm von seinem Schicksal auferlegt wurde, würde er diesem mit Freude nachkommen. Er, als Angehöriger einer Generation von revolutionär denkenden und leidenschaftlich kämpfenden Bauernkriegern, würde den Lauf der Dinge jedenfalls nicht aufhalten.

Jetzt nahm Wittenberg die Kapsel genauer in Augenschein. Nachdenklich ließ er sie zwischen seinen Fingern tanzen. Es war Jakob Gens gewesen, der ihm das Zyankali zugesteckt und ihm empfohlen hatte, sie im Mund aufzubewahren.

»Du musst nur das erste Verhör durchhalten«, hatte er ihm bei seiner Verhaftung ins Ohr geflüstert, »danach werde ich meine Kontakte bemühen. Dann hole ich dich hier raus.«

Wittenberg glaubte diesem schmierigen Kollaborateur jedoch kein Wort mehr. Zu frisch war die Erinnerung an seinen Verrat. Daran, dass der Chef der jüdischen Polizei ihn, Kovner und Glassmann, die beiden Oberleutnants der FPO, unter einem Vorwand zu sich gelockt hatte. Nur um Wittenberg umgehend den beiden SS-Offizieren auszuliefern, die plötzlich in seinem Büro aufgetaucht waren. Noch während sie ihn abgeführt hatten, hatte Gens ihm schließlich die schlanke Kapsel mit Blausäure gegeben.

»Falls du es nicht mehr aushältst«, hatte er geflüstert und ihm dabei zugezwinkert.

Jetzt hörte Wittenberg dumpfe Geräusche hinter der Zellentür. Offensichtlich versuchte jemand, sich Zugang zu dem Kerker zu verschaffen.

Es ging los, dachte Wittenberg. Ein letztes Mal schwor er sich, dass sie kein Wort aus ihm herausbekommen würden. Was auch immer ihn erwartete.