Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie

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Neuroplastizität

Worum geht es?

Neuroplastizität* ist die Fähigkeit des Gehirns*, als Reaktion auf Erfahrungen seine Struktur zu verändern. Eine Erfahrung aktiviert Neuronen*, die dann Gene „einschalten“ und in den Verbindungen zwischen den Neuronen strukturelle Veränderungen hervorrufen kann. Selbst der Fokus der Aufmerksamkeit* ist eine Form von Erfahrung, die Neuronen aktiviert, Gene einschaltet und in den Verbindungen zwischen den Neuronen strukturelle Veränderungen hervorruft. Auf diese Weise kann der mentale Prozess* der Fokussierung der Aufmerksamkeit die physische Struktur des Gehirns verändern. Das ist Neuroplastizität. Wie läuft dieser Prozess ab? Wenn wir einige der Einzelheiten verstehen, die diesem Prozess zugrunde liegen, können wir diese wichtige Frage beantworten.

Die Neuronale Aktivierung* bedingt die Bewegung geladener Teilchen, die als Ionen bezeichnet werden, die sich in die Zellmembran und aus der Zellmembran heraus und in dem langen, schlauchartigen Zellfortsatz, der als Axon bezeichnet wird, bewegen. Dieser elektrische Prozess wird als Aktionspotential bezeichnet und gleicht der Idee des Flusses* von Elektrizität entlang des Neurons. Wenn die Bewegung geladener Teilchen, die Ionen des Aktionspotentials, schließlich das Ende des Neurons erreicht, führt dies zur Freisetzung von Neurotransmittern. Neurotransmitter sind Chemikalien, die das nachfolgende Neuron erregen oder dämpfen können. Dies geschieht durch die Art und Weise, wie die Chemikalien über die Synapse* diffundieren, die zwei Neuronen miteinander verknüpft* und wie sie die aufnehmenden Rezeptoren der Membran des nachfolgenden Neurons erregen. Der Raum zwischen den beiden miteinander kommunizierenden Neuronen, in dem der Transmitter freigesetzt wird – die Synapse – ist im Grunde die Art und Weise, wie sich Neuronen miteinander verknüpfen. Der lange axonale Zellfortsatz verbindet das Neuron entweder mit dem Zellkörper der nachfolgenden Zelle oder mit den aufnehmenden Dendriten. Durch diese Verknüpfungen fließt die elektrochemische Energie* und daran beteiligt sind das Aktionspotential und die Aktivierung der Neurotransmitter/Rezeptoren. Wenn Neuronen aktiviert werden, dann fließen Aktionspotentiale die Membran des der Synapse vorgelagerten Neurons (präsynaptisches Neuron) entlang und die Transmitter aktivieren oder dämpfen das der Synapse nachgelagerte Neuron (postsynaptisches Neuron). Wenn das nachfolgende Neuron aktiviert wurde, dann erzeugt es selbst ein Aktionspotential – vergleichbar mit einer Strömung –, das den langen Zellfortsatz entlang fließt und das Ende der Synapse erreicht. Und hier beginnt diese Sequenz von neuem. Das ist die Bedeutung der neuronalen Aktivierung.

Das zeigt, dass ein Aspekt der neuronalen Funktion als die Bewegung von elektrischen (Ionen bewegen sich durch die Membran des Neurons) und chemischen (Freisetzung von Neurotransmittern und Wirksamkeit der Rezeptoren, vergleichbar mit einem Schlüssel in einem Schloss) Formen von Energie im Verlauf der Zeit gesehen werden kann. Der elektrochemische Energiefluss ist der verkörperte* Mechanismus, der in unserem Dreieck* der menschlichen Erfahrung vom Gehirn repräsentiert wird.

In einigen Situationen löst diese neuronale Aktivierung die genetische Maschinerie im Nukleus im Neuron aus, was zur Produktion des Proteins und zur Schaffung und Stärkung der Verbundenheit zwischen Neuronen führt. Der elektrochemische Energiefluss löst die Aktivierung von Genen und die Veränderung der Strukturen des Gehirns aus.

Es sind zwei Wege bekannt, wie in der Kindheit die Bildung der Synapsen abläuft. Einer dieser Wege ist ein Mechanismus der „Erfahrungserwartung“, durch den Gene die Natur der Verbindungen codieren, die sich im Fötus und im Neugeborenen bilden. Diese Verbindungen „erwarten“, dass das Kind grundlegende, durch die Zugehörigkeit zu einer Spezies bedingte Ereignisse erfahren wird, wie Beispiel Licht und Klängen ausgesetzt sein, um die vorher gebildeten synaptischen Verbindungen des Systems* der Wahrnehmung* des Sehens und Hörens aufrechtzuerhalten. Im Gegenzug dazu gibt es auch einen Mechanismus der Erfahrungsabhängigkeit durch den individualisierte Erfahrungen – wie das Sehen der Mutter im Park oder das Hören der Stimme des Vaters beim Schwimmen im Schwimmbecken – in einzigartiger Weise die genetische Maschinerie aktivieren. Dadurch werden Synapsen geschaffen, die von dieser bestimmten Reihe von Erfahrungen abhängig sind, um gebildet zu werden.

Solche grundlegenden neuronalen Verbindungen werden früh im Leben gebildet, und dieser Mechanismus bildet die Grundlage dafür, wie das Gehirn während des Aufwachsens des Kindes bei der Informationsverarbeitung* mitwirkt. Der Fokus der Aufmerksamkeit und die fortwährende Stimulation der neuronalen Aktivierung formen die wechselseitig verbundene neuronale Architektur eines Menschen im Verlauf seines Lebens.

Implikationen: Was bedeutet Neuroplastizität für unser Leben?

Neuronale Aktivierung ist mit mentalen Erfahrungen verbunden, wie Wahrnehmen, Denken, Fühlen oder Erinnern*. Wenn wir uns erinnern, geschieht die Aktivierung der Neuronen in einem Muster, das von Erfahrungen aus der Vergangenheit geformt wird. Auf diese Weise, in der die Vergangenheit das Handeln in der Gegenwart beeinflusst, lernen wir, wie wir uns erinnern; die Erinnerung wird von den Veränderungen in den neuronalen Verbindungen gebildet. Die Weise, wie die Erfahrung die neuronale Struktur formt, wird als Neuroplastizität bezeichnet. Dahinter steht ein einfacher Mechanismus, den wir folgendermaßen beschreiben können: Eine Aktivierung von Neuronen kann zu Veränderungen in der Stärke der Verbindungen zwischen den Neuronen, die zusammen aktiviert sind, führen. Wie geschieht dies?

Wenn Neurone aktiv erregt sind, setzen sie Transmitter frei und werden Teil einer Welle der neuronalen Aktivierungen in diesem Moment. Diese Aktivität führt manchmal zu einer Genexpression von Information* im Zellkern. In jedem unserer Zellkerne befindet sich die Desoxyribonukleinsäure oder DNA, die die Bausteine, das Alphabet, unserer Gene enthält. Die Sequenz der Nukleotide, aus denen unsere Chromosomen bestehen, ist die Verbindung all unserer genetischen Buchstaben, die die Worte unserer Gene bilden. Wir haben diese Sequenz von unseren Vorfahren geerbt, sie trägt die notwendigen Informationen, um unseren Körper zu bilden – und unsere neuronale Architektur zu formen. Die Genexpression führt zur Produktion von Proteinen, die dann die Struktur unseres Körpers und unseres Gehirns verändern können.

Gene sind wie Bücher in einer Bibliothek – sie müssen gelesen werden, um eine Wirkung auf die Welt zu haben. Bei der Genexpression wird die Doppelhelix der DNA, die im Zellkern aufgerollt ist, entwirrt, und die einsträngige RNA (Ribonukleinsäure) wird entschlüsselt. Die RNA bewegt sich dann zu den wichtigen Bereichen der Zelle außerhalb des Zellkerns, dem Zytoplasma, wo ein Ribosom die Sequenz der RNA aus Nukleotid-Molekülen in Sequenzen von Aminosäuren übersetzt, aus denen die Proteine bestehen, die nun gebildet werden. Diese Proteine haben fundamentalen Einfluss darauf, wie der Körper seine Struktur verändert – in diesem Fall, wie Neuronen neue oder stärkere synaptische Verbindungen miteinander bilden.

Der wichtigste Aspekt dabei ist, dass es durchschnittlich zehntausend Verbindungen gibt, die ein normales Neuron mit anderen Neuronen verbindet. Angesichts der Tatsache, dass unser Nervensystem aus Hunderten Milliarden Neuronen besteht, kommen wir auf Hunderte von Billionen synaptischer Verknüpfungen. Wenn wir zudem erkennen, dass die Neuronen des Gehirns von Billionen von Gliazellen umgeben sind und unterstützt werden – einschließlich derjenigen, die als Oligodendrozyten und Astrozyten bezeichnet werden – empfinden wir Demut angesichts unseres Unwissens darüber, „wie das Gehirn funktioniert“.

Wenn wir eine Fertigkeit entwickeln, bilden die Oligodendrozyten nach vielen Stunden Übung (einige Forscher sprechen von mindestens zehntausend Stunden) Myelin. Myelin ist eine fettige Hülle, die sich um das Axon herumwickelt. Wenn Myelin mit dabei ist, wird die Geschwindigkeit des Aktionspotentials, wenn es sich im Axon entlangbewegt, hundert Mal schneller. Mit Myelin ist auch die Erholungszeit, bevor die nächste Aktivierung auftritt – die Refraktärphase – dreißig Mal kürzer. Die Funktionsweise eines myelinisierten neuronalen Netzes* ist 3000 Mal (30 mal 100) besser. So ist es auch kein Wunder, dass Sportler bei Olympischen Spielen Meisterleistungen vollbringen, über die wir nur staunen können. Der Unterschied ist, dass wir nicht die Zeit und Disziplin zum Üben aufgebracht haben, um Myelin um dieselben neuronalen Netze dieser Fertigkeiten zu wickeln.

Es gibt verschiedene Wege, auf denen Neuroplastizität die Struktur unseres Gehirns als Reaktion auf unsere Erfahrungen verändert. Zwei dieser Möglichkeiten haben wir schon besprochen: Synaptogenese, bei der Synapsen gebildet oder gestärkt werden, und Myelinogenese, bei der neuronale Netze effizienter und schneller werden, weil eine isolierende Hülle um die wechselseitig verbundenen Axone gelegt wird. Möglicherweise gibt es auch Veränderungen in der Art und Weise, wie unsere Gliazellen dem Blutfluss erlauben, den notwendigen Sauerstoff und die Nährstoffe zu den aktivierten Regionen zu bringen. Und zwei andere Wege, wie die Neuroplastizität auf die neuronale Struktur wirkt, sind die Neurogenese und Epigenese*. Neurogenese, also die Differenzierung* der neutralen Stammzellen zu vollkommen reifen Neuronen im Gehirn, findet das ganze Leben über statt. Dieser Prozess, bis eine Stammzelle im wechselseitig verbundenen Gewebe des Gehirns ein voll entwickeltes Neuron gebildet hat, kann zwei oder drei Monate dauern. Im Gegensatz dazu steht die schnellere Bildung von Veränderungen in den synaptischen Verknüpfungen, die innerhalb von Minuten oder Stunden entstehen können und über eine Zeit von Tagen oder Wochen konsolidiert werden.

 

Forschungsstudien haben die langsamer entstehende Neurogenese in der Region des Hippocampus lokalisiert, aber zukünftige Untersuchungen werden die Differenzierung von Stammzellen vielleicht auch in anderen Bereichen zeigen. Für die Neuroplastizität gilt Folgendes: Die strukturellen Veränderungen im Gehirn umfassen möglicherweise das synaptische Wachstum schon bestehender Neurone, die sich nun zum ersten Mal miteinander verbinden. Diese strukturellen Veränderungen können auch das zeitaufwendigere Wachstum neuer Neurone umfassen, die dann in der Lage sind, ihre synaptischen Verknüpfungen zu vielen anderen Neuronen wachsen zu lassen. Wenn wir zu diesem Wachstum Myelin hinzunehmen, steigern wir die effektive funktionale Koppelung dieser synaptisch wechselseitig verbundenen Neuronen dreitausend Mal. So entsteht eine ziemlich effiziente neuronale Maschinerie des Energie- und Informationsflusses*. Das ist das Wunder der menschlichen Leistungsfähigkeit, egal ob wir Sportler bei den Olympischen Spielen sehen, einem Konzertpianisten zuhören, die wunderschöne Kunst eines Malers in uns aufnehmen, oder einfach erstaunt betrachten, wie wir als soziale Wesen funktionieren, wie wir aus einer tief empfundenen mitfühlenden* Fürsorge und dem Verständnis anderer schöpfen. In all diesen Aspekten spüren wir eine Wertschätzung für das Geheimnis und die Größe unserer menschlichen Fähigkeiten bei der Entwicklung komplexer Fertigkeiten. Der Raum unserer Möglichkeiten ist weit offen – wenn wir unseren Geist* weise nutzen!

Neben der Synaptogenese, der Neurogenese, dem Wachstum von Myelin und anderer wichtiger, aber noch unentdeckter Funktionen unserer unterstützenden Gliazellen bei der Formung unserer Erfahrung, wurde auch festgestellt, dass Erfahrungen den Prozess der Genexpression verändern. Diese epigenetischen Veränderungen weisen auf Folgendes hin: Die Weise, wie der Energie- und Informationsfluss durch das Nervensystem* fließt – wie die Neuronen aktiviert werden – verändert direkt die Kontrollmoleküle, die die Genexpression regulieren*.

Epigenese* ist der Prozess, durch den Erfahrungen die Regulierung der Genexpression beeinflussen. Diese Veränderung der Genexpression wiederum wirkt darauf ein, wie strukturelle Veränderungen im Gehirn selbst geschaffen werden. Hier ist es wichtig anzumerken, dass die Untersuchungen nicht zeigen, dass die Erfahrung die Sequenz der Nukleotide im Genom verändert – das bedeutet, dass die Gene selbst nicht verändert werden. Wir müssen sehr vorsichtig sein, damit wir die Fakten nicht übertreiben, denn dies ist ein Thema, das für die Wissenschaft von großer Bedeutung ist. Wir können aber sagen, dass die regulierenden Moleküle, die ein Teil der Architektur der Chromosomen sind, verändert werden. Um es noch einmal zu betonen: Die Erfahrung verändert nicht die Sequenz der Nukleotide, aus denen die genetischen Buchstaben und Wörter im Buch unserer Chromosomen bestehen, aber die Erfahrung beeinflusst die Bibliothekare, die die Vergabe der Bücher regulieren. Nicht die Gene werden von der Erfahrung verändert, die Genexpression wird verändert. Diese regulativen Moleküle (aus den Gruppen der Histone und Methyle entlang der Chromosomen) formen unmittelbar, wie und wann sich Genexpression ereignet. Dadurch beeinflussen sie auch, wie und wann als Reaktion auf Erfahrungen die Hirnstruktur verändert wird.

Die Auswirkungen dieser epigenetischen Forschungsergebnisse sind groß, wenn wir beachten, dass in neueste Untersuchungen herausgefunden wurde, dass schwere Traumata* und Vernachlässigung* in der Kindheit die Expression der Gene verändern können, die für die neuronale Netze verantwortlich sind, die unsere Reaktion auf Stress* kontrollieren. Mit anderen Worten, im Falle von Vernachlässigung und Missbrauch* ist es nicht nur so, dass das Wachstum der integrativen neuronalen Netze gestört ist, sondern aufgrund der lang anhaltenden epigenetischen regulativen Veränderungen ist das hormonale Gleichgewicht gestört, das die Resilienz gegenüber Stress unterstützen würde. Zudem zeigen erste Studien, dass diese epigenetischen Veränderungen durch die Geschlechtszellen – das Spermium und das Ei – unserer Großeltern vererbt wurden. Wir können also epigenetische Störungen unserer Fähigkeit zur Selbstregulation* buchstäblich „geerbt“ haben – aufgrund der Stresssituationen, die unsere Großeltern möglicherweise erfahren haben. Dies ist die Weitergabe epigenetischer Veränderungen – es handelt sich nicht um genetische Veränderungen! Wenn wir wissen, dass diese Möglichkeit besteht, können wir unsere Aufmerksamkeit stärker auf die nicht-integrierten neuronalen Netze lenken, die durch solch eine mangelhafte Selbstregulation entstehen, welche intergenerational weitergegeben wird. Zukünftige Untersuchungen werden zeigen, ob die Vorstellung zutrifft, dass wir möglicherweise in der Lage sind, unsere eigenen inneren Zustände zu verändern und diese epigenetischen Herausforderungen durch therapeutische Interventionen rückgängig zu machen.

Es gibt ein interessantes Forschungsergebnis, das für dieses Thema relevant ist: Die Praxis der Achtsamkeit* steigert die Menge eines Enzyms, welches die Langlebigkeit unserer Zellen unterstützt. Ersten Erkenntnissen zufolge hat die Achtsamkeitsmeditation eine positive Wirkung auf die Steigerung der Telomerase. Dies ist ein Enzym, das notwendig ist, um die Moleküle zu erhalten, die als Telomere bezeichnet werden. Die Telomere befinden sich am Ende eines jeden Chromosomen und sind für die Langlebigkeit der Zellen zuständig. Derartige Forschungsergebnisse unterstützen die Hoffnungen, die sich darauf richten, dass die Kraft des Geistes die epigenetische Regulierung der Genexpression zu verändern in der Lage ist.

Neuroplastizität hat einen Vorteil und einen Nachteil. Die Schwierigkeit ist, dass negative Erfahrungen die Hirnstruktur lang anhaltend verändern können und so unser Leben erschweren. Die positive Möglichkeit, die uns die Neuroplastizität eröffnet, besteht darin, dass es nie zu spät ist, um den Fokus der Aufmerksamkeit* zur Veränderung der Architektur des Gehirns zu nutzen. Es geht darum, zu lernen, wie wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren können, um dadurch die integrative Funktionsweise unseres Gehirns zu optimieren. Die Grundlagen der Neuroplastizität deuten auch auf mehrere Elemente hin, die dazu beitragen, dass unsere Erfahrung – einschließlich des Fokus der Aufmerksamkeit – unsere neuronalen Verbindungen bleibend verändert.

Sieben – oder möglicherweise acht – Faktoren unseres Lebens fördern die Neuroplastizität. Dazu gehören:

1. Ausdauerübungen – wenn es medizinisch möglich ist, kann Sport zum fortwährenden Wachstum des Gehirns beitragen.

2. Ausreichend Schlaf – wir verfestigen das im Laufe des Tages Gelernte, wenn wir genügend Schlaf mit vielen REM-Phasen (rapid eye movement, Traumphasen) bekommen.

3. Gute Ernährung – die „Erde“ der Hirnstruktur braucht gute Nahrung und Wasser, einschließlich gesicherter Quellen von Omega 3-Fettsäuren, um ihre Funktion gut zu erfüllen und die „Samen“ des guten Fokus der Aufmerksamkeit keimen zu lassen.

4. Beziehungen* – unsere Verbindungen mit anderen unterstützen ein lebendiges und formbares Gehirn.

5. Neuheit – wenn wir unseren Trott verlassen und das Gehirn für neue Stimuli öffnen, wenn wir spielerisch und spontan sind, kann das Gehirn weiter wachsen und jung bleiben.

6. Konzentrierte Aufmerksamkeit – wenn wir Multitasking und Ablenkungen vermeiden und uns gewahr werden, worauf wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren, können wir in der Tat die Freisetzung von Chemikalien (lokal und im ganzen Körper) stimulieren, die die Neuroplastizität unterstützen.

7. Einkehrzeit* – Wenn wir uns auf unsere eigenen inneren Empfindungen, Bilder, Gefühle und Gedanken fokussieren und innerlich reflektieren, unterstützen wir das Wachstum regulativer, integrativer neuronaler Netze.

8. Und möglicherweise Humor – einige Vorstudien deuten darauf hin, dass wir durch Lachen das gesunde* Wachstum des Gehirns fördern. Neuroplastizität scheint in der Tat „zum Lachen zu sein“.

In der Interpersonellen Neurobiologie* suchen wir nach direkten Anwendungsmöglichkeiten von Wissenschaft für den praktischen Nutzen in der Welt. Eine Möglichkeit, um die grundlegenden Prinzipien der Neuroplastizität anzuwenden, besteht in der „täglichen Ernährung“ durch mentale Aktivitäten*, die das gesunde Wachstum des Geistes, des Gehirns und der Beziehungen fördern. Einer meiner Kollegen, David Rock, hat ein Menü des gesunden Geistes* gestaltet, das mit einer Empfehlung für einen tägliche Speiseplan vergleichbar ist (s. Abb. J). Wir empfehlen den Menschen, einen Weg zu finden, um die Aktivitäten des Menüs in eine regelmäßige Routine einzubinden. Regelmäßigkeit scheint der Schlüssel zu sein, um Gewohnheiten zu schaffen und zu erhalten. Und Regelmäßigkeit spielt offenbar auch bei der Förderung der neuroplastischen Veränderungen eine wichtige Rolle. Zu den sieben empfohlenen mentalen Aktivitäten gehören Zeit für Schlaf, Zeit für den Körper, Zeit für Verbundenheit, Zeit für Entspannung, Zeit für Spiel, fokussierte Zeit und Einkehrzeit.

In Bezug auf das Wachstum des integrativen Gewebes, ein gesundes Gehirn, einen gesunden Geist und um ein Netz sozialer Beziehungen zu unterstützen, bestimmt die besondere Fokussierung der Aufmerksamkeit die spezifische Aktivierung der Neurone. Aufmerksamkeit aktiviert die spezifischen Pfade neuronaler Aktivierung im Gehirn. Die Neuronen, die zusammen aktiviert werden, können ihre Verbindungen miteinander stärken. Wenn solche Koppelungen ihrer Natur nach integrativ sind, sehen wir, wie der Fokus der Aufmerksamkeit das Wachstum der integrativen strukturellen Veränderungen im Gehirn möglicherweise fördern kann. Dadurch wird wiederum die integrative Funktionsweise unterstützt, die das Herz der Gesundheit ist.

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SNAG: „Neuronen, die zusammen aktiviert sind, vernetzen sich“

Worum geht es?

SNAG* ist eine Abkürzung, die für „die Stimulation von neuronaler Aktivierung und neuronalem Wachstum“ steht (stimulate neuronal activation and growth). Wenn wir das Gehirn* mit SNAG stimulieren, versuchen wir absichtsvoll die neuronale Aktivierung* und die darauf folgende Genexpression zu fördern, die es den Neuronen* ermöglicht, ihre Verbindungen miteinander wachsen zu lassen.

Diese einfache Abkürzung basiert auf der Arbeit zahlreicher bahnbrechender Denker. Der gesamte Ansatz der Interpersonellen Neurobiologie* ermöglicht es uns, „auf den Schultern von Riesen zu stehen“, denn wir finden in einer ganzen Reihe von Disziplinen konsiliente* Erkenntnisse. In diesem Abschnitt werden wir nur einige ausgewählte Forscher erwähnen, deren Arbeit auf den Gebieten der Erinnerung* und der neuronalen Funktionsweise dafür gesorgt hat, dass es das Konzept von SNAG überhaupt gibt. Viele weitere Forscher könnten hier erwähnt werden, aber das ist nicht die Aufgabe dieses Leitfadens. Stattdessen wird dieser kurze Überblick nur einen ersten Eindruck von all den Forschungen geben können, die die Bedeutung dieser Abkürzung unterstützen. Zahlreiche klinische und akademische Autoren haben geschrieben, dass bei der Aktivierung miteinander verbundener Neuronen die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie in Zukunft zusammen aktiviert werden. Sigmund Freud bezeichnete diese Feststellung als Gesetz der Assoziation und Donald Hebb diskutierte in seinen Werken die gleiche Vorstellung. Deshalb sprechen Neurowissenschaftler heute vom „Hebbschen Gesetz“ oder von der „Hebbschen Synapse*“, die durch diese verbundene Aktivierung gebildet wird. Carla Schatz, eine Neurowissenschaftlerin, die Hebbs Ideen weiterführte, nutzte eine leicht einprägbare Formulierung: „Neuronen, die zusammen aktiviert werden, vernetzten sich“* („Neurons that fire together, wire together“). Und Robert Post und seine Kollegen erweiterten die Formulierung und fügten hinzu: „und überleben zusammen“. Dadurch wollten sie andeuten, dass wir Fähigkeiten des Gehirns „nutzen oder verlieren“ können („use it oder loose it“) – wenn Neuronen zusammen aktiviert werden, verringert sich ihre Menge nicht. Der Verlust neuronaler Verbindungen wird als neuronales Beschneiden, als Parcellation oder Apoptose, bezeichnet. Fred Gage hat gezeigt, wie Neuheit das Wachstum neuer Neuronen in der Hirnregion des Hippocampus* stimuliert. Und Eric Kandel erhielt den Nobelpreis für seine Forschungsarbeit, in der er zeigte, wie neuronale Aktivierung tatsächlich die Genexpression fördert und diese verbundenen Muster des synaptischen Wachstums unterstützt. Michael Meaney und andere haben auch zu unserem Verständnis darüber beigetragen, wie die Erfahrung und davon ausgelöste neuronale Aktivierung das Wachstum des Gehirns beeinflusst. Es konnte gezeigt werden, wie Erfahrungen in der Kindheit die neuronalen Verbindungen in Bereichen formen, welche die Reaktion auf Stress* regulieren, und außerdem, wie die epigenetische* Kontrolle der Genexpression in diesen neuronalen Gebieten verändert wird.

 

Implikationen: Was bedeutet es für unser Leben, dass Neuronen, die zusammen aktiviert werden, sich vernetzen?

Wir sind unsere Aufmerksamkeit*. Je intensiver und vielleicht auch spezifischer unsere neuronale Aktivierung ist (die wir mit dem Fokus unserer Aufmerksamkeit schaffen), desto mehr bleibende synaptische Veränderungen werden wir wahrscheinlich in unserem Gehirn initiieren. Ein Aspekt des Geistes* ist der Prozess*, der den Energie- und Informationsfluss* reguliert*. Deshalb können wir sagen, dass der Geist Aufmerksamkeit ist: Was wir mit unserem Geist tun, kann die Struktur unseres Gehirns verändern. Aufmerksamkeit ist der Prozess, der den Fluss von Information* reguliert. Somit können wir durch die Erkenntnisse der Neuroplastizität* erkennen, dass ein Aspekt des Geistes – ein Prozess, der den Energie-und Informationsfluss reguliert – die Struktur des Gehirns verändern kann. Im Umgang mit Kindern, in der Pädagogik und in der Psychotherapie nutzen wir den relationalen*Aspekt des Geistes, um die Aufmerksamkeit unseres Kindes, des Schülers oder Klienten/Patienten zu fokussieren, um die neuronale Aktivierung auf eine Weise zu fördern, die potentiell die Struktur des Gehirns verändert. Das ist die fundamentale Grundlage des Lernens. So stimulieren wir das Gehirn mit SNAG.

Sobald die synaptische Vernetzung des Gehirns verändert ist, werden Pfade, die im Nervensystem* als Mechanismus für den Energie- und Informationsfluss dienen, die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass diese Muster fortdauern. Das ist die Verbesserung des Lernens. Das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, verändert uns: Sei es unfreiwillig, wie bei Missbrauch* oder Vernachlässigung* oder freiwillig durch das, worauf wir im Alltag oder in der Schule unsere Aufmerksamkeit richten. Auf diese Weise kann Lernen sowohl negativ als auch positiv sein. Wir Menschen werden zutiefst und dauerhaft von unseren Erfahrungen beeinflusst.

Der Energie- und Informationsfluss steuert die neuronale Aktivierung. Wenn Neuronen zusammen aktiviert sind, stärken sie ihre synaptischen Verbindungen. Dadurch wird es wahrscheinlicher, dass die damit verbundenen Aktivierungsmuster im Lauf der Zeit wieder erscheinen. Für einen Lehrer sind dies gute Nachrichten, denn pädagogische Erfahrungen können das Gehirn der Schüler positiv verändern – wodurch sie auf dem Weg in eine Zukunft, die wir nicht kennen, unterstützt werden. Denn wenn wir das gestern Gelernte benutzen, um heute unsere Kinder zu unterrichten, dann bereiten wir sie nicht gut auf das Morgen vor. Doch indem wir uns auf die wichtigen R’s der Pädagogik* fokussieren, durch die wir Resilienz entwickeln können – Reflexion* und Beziehungen* – kann der Unterricht das Gehirn der Schüler absichtsvoll zu Resilienz* stimulieren (vgl. SNAG*). Wir müssen uns nicht länger durch Lehrprogramme einengen lassen, die unser integratives, präfrontales neuronales Netz* nicht berücksichtigen, sondern wir können ein Programm entwickeln, bei dem „der präfrontale Cortex* nicht unberücksichtigt bleibt“. Dies gelingt, indem wir Übungen der Einkehrzeit* kultivieren, die die Bedeutung von Reflexion und Beziehungen hervorheben, welche der Kern der Resilienz sind, und durch die durch eine gut entwickelte integrative Präfrontalregion entsteht.

In Bezug auf die Psychotherapie können wir verstehen, dass unsere Aufgabe darin besteht, in „vier Dimensionen“ zu schauen, wenn wir unsere Wahrnehmung auf den Verlauf der Zeit ausdehnen. So können wir feststellen, dass der Mensch, mit dem wir arbeiten, in synaptischen Schatten* eines langen Lebens eingebettet ist, die sich in der Form von Narrativen*, Erinnerungen, den Formen des Fokussierens der Aufmerksamkeit und in den Interaktionen, die dieser Mensch mit uns als Therapeuten hat, zeigen. Es ist Teil der Kunst, ein Therapeut zu sein, dass wir lernen, über Zeit hinweg zu schauen. Dazu gehört auch das Erkennen potentieller Möglichkeiten, damit wir die Bewegung der Menschen, denen wir helfen, in Richtung einer tiefer integrierten Lebensweise unterstützen können.

Eltern können wach werden für die Möglichkeit – und die Herausforderung – integrative Erfahrungen für ihre Kinder zu schaffen, die ihr Gehirn zur Integration* stimulieren. Wenn wir uns dieses Potentials gewahr werden, kann die Elternschaft wirklich ein Weg sein, die Kraft der Neuroplastizität zu nutzen, um die zukünftigen Generationen positiv zu beeinflussen (intergenerationale Weitergabe).

Für jeden, der anderen oder sich selbst dabei hilft, in Richtung Integration zu wachsen, ist es hilfreich, die neuronalen Netze des Gehirns zu kennen, die für das neuroplastische Wachstum notwendig sind. Eltern sollten wissen, was für eine Art von Unterstützung und Stimulation bestimmte Regionen des Gehirns ihres Kindes brauchen, um integrativ wachsen zu können – dazu gehören die Verknüpfung* der linken und rechten Hemisphäre* oder die Verbindung der Reaktionen des Körpers mit dem kortikalen Gewahrsein*. Ein Lehrer kann einen Lehrplan anwenden, der mit dem Wissen um Neuroplastizität geschrieben wurde. So kann ein Programm entwickelt werden, das die Integration des gesamten Gehirns fördert. Therapeuten, die darum wissen, welchen Einfluss die Kraft der Aufmerksamkeit auf die Veränderung von Strukturen im Gehirn hat, können die Natur der therapeutischen Beziehungen neu verstehen und Erfahrungen anwenden, die das Gehirn zur Integration stimulieren.

Das Gehirn verändert sich nicht in einem Vakuum. Die Interpersonelle Neurobiologie erinnert uns daran, dass das Gehirn zutiefst sozial ist. Vor diesem Hintergrund können wir uns dem Dreieck* von Geist, Gehirn und Beziehungen zuwenden und dabei bedenken, dass sogar neu-roplastische Veränderungen durch unterstützende Beziehungen gefördert werden. Beispielsweise konnten Studien, die das Erlernen von Sprache bei kleinen Kindern untersucht haben, zeigen, dass der Unterricht mit Computern, bei dem die Beziehung mit einem anderen Menschen fehlt, nicht annähernd so wirksam ist, wie der Unterricht mittels Beziehung. Denn der limbische* Bereich des Gehirns, der unsere Zustände* der Motivation und die Bildung von Erinnerungen umfasst, ist direkt mit unserem Bedürfnis nach Beziehungen, nach Bindung*, assoziiert.

Die Anwendung aller sieben (oder acht!) Faktoren der Neuroplastizität – einschließlich der Beziehungen und der Reflexion während der Einkehrzeit – kann das gesunde* Wachstum des Gehirns unterstützen. Wenn wir das Gehirn mittels SNAG zur Integration stimulieren, sorgen wir dafür, dass Neuronen zusammen aktiviert werden und sich in einer Weise vernetzen, die zutiefst transformierend wirkt.