Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie

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Achtsames Gewahrsein

Worum geht es?

Achtsames Gewahrsein* kann als eine Form des Gewahrseins* beschrieben werden, in dem wir wach und offen für gegenwärtige Erfahrungen sind, ohne uns von Urteilen oder Vorannahmen ablenken zu lassen. Was es wirklich bedeutet, achtsam zu sein, ist ein Thema fortwährender Diskussionen. Aber die allgemeine Bedeutung des Begriffes zeigt sich in der Vorstellung, dass wir einem inneren oder äußeren Moment der Erfahrung vollkommen präsent, offen und akzeptierend begegnen können. Im Gegensatz dazu kann der Begriff „Gewahrsein“ allein auch auf eine Form des Wissens hindeuten, die nicht achtsam ist, weil wir uns vorurteilsvoller Überzeugungen gewahr sind. Aus diesen Überzeugungen heraus können wir dann aufgrund der bestehenden mentalen Modelle der Feinseligkeit auf feindselige Weise handeln. In diesem Fall sind wir möglicherweise vollkommen gewahr, aber wir sind nicht achtsam gewahr, weil wir nicht offen und akzeptierend sind. Stattdessen sind wir voller Vorurteile. Deshalb schließen einige Interpretationen des achtsamen Gewahrseins – und die Art und Weise, wie wir es in der Interpersonellen Neurobiologie* anwenden – auch die Unterscheidungsfähigkeit und eine moralische Haltung mit ein. Diese Haltung ist durch eine positive Wertschätzung anderer gekennzeichnet, ein nicht-urteilendes Gewahrsein, dessen zentrales Merkmal Akzeptanz und Mitgefühl* gegenüber dem Selbst* und anderen ist. Einige Auffassungen von achtsamem Gewahrsein begrenzen die Idee der Achtsamkeit auf einen Aspekt, den Fokus der Aufmerksamkeit*, darauf, dass der Fokus der Aufmerksamkeit in einer offenen Art und Weise auf das Hier und Jetzt gerichtet ist. Nach diesem Verständnis sollten wir Eigenschaften wie Mitgefühl und freundlicher Wertschätzung anderen Ideen wie Selbstmitgefühl, Empathie* und Moral* zuordnen und sie nicht mit achtsamem Gewahrsein vermischen.

Achtsames Gewahrsein kann ein natürlicher Aspekt des eigenen Lebens sein oder es kann durch Übungen wie Meditation, Yoga, Tai-Chi, Qigong oder Herzensgebet entwickelt werden. Um diese Unterscheidung hervorzuheben, können wir von einem achtsamen Zustand* und einer achtsamen Charaktereigenschaft sprechen. Ein Zustand ist eine zeitweilige Aktivierung mentaler oder neuronaler Prozesse*, etwa ein Geisteszustand*, der von Moment zu Moment kommt oder geht. Eine Eigenschaft ist eine sich wiederholende Seinsweise, sie kann ein gewohnheitsmäßiges Muster oder eine natürliche Weise der Interaktion mit der Welt sein. Die Begriffe „Achtsamkeit“ und „achtsame Charaktereigenschaften“ werden in der wissenschaftlichen Fachliteratur auf verschiedene Weise benutzt. Diese Begriffe können auf eine Seinsweise und auf messbare, bleibende Aspekte der Persönlichkeit eines Menschen hindeuten. Studien über achtsame Charaktereigenschaften zeigen beispielsweise Elemente eines nicht-urteilenden, nicht-reaktiven Gewahrseins für die Erfahrung von Moment zu Moment. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die innere Welt zu bezeichnen und zu beschreiben. Bei Menschen, die Achtsamkeitsübungen wie Meditation oder Yoga praktizieren, wurde zusätzlich die Fähigkeit der Selbstbeobachtung festgestellt.

Ob es sich nun um einen Zustand oder eine Charaktereigenschaft handelt, die genaue Bedeutung des Begriffes „achtsam“, wenn er diesen Aspekten hinzugefügt wird, befindet sich momentan noch in einem Prozess der Klärung. Es wird sich zeigen, auf welche genaue Definition und Terminologie man sich letztendlich einigen wird, aber eine große Anzahl von Studien zeigt, dass die Fähigkeit, sich der Erfahrung von Moment zu Moment gewahr zu werden, und die Fähigkeit, ablenkende automatische Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und Verhaltensweisen loszulassen und zum Sein in der Gegenwart zurückzukommen, gut für die eigene Gesundheit* und sogar gut für die Gesundheit anderer ist. Studien über achtsames Gewahrsein, die ein breites Spektrum von Anwendungen dieser Merkmale nutzen, zeigen, dass Achtsamkeit gut für die Gesundheit des Geistes* ist, weil die Emotionsregulation* ausgeglichen und die Flexibilität verstärkt wird. Zudem lässt sich erkennen, dass Achtsamkeit Menschen hilft, sich schwierigen Ereignissen zuzuwenden, statt sich davor zurückzuziehen. Wenn wir achtsam sind, können wir empathischer sein und die Gesundheit unserer Beziehungen* verbessert sich. Achtsamkeit verbessert auch die Gesundheit des Körpers, durch eine Stärkung der Immunfunktion und eine Zunahme der Telomerase – die Enzyme, aus denen die Telomere an den Enden der Chromosomen bestehen, und die die zelluläre Langlebigkeit verbessern. Durch Achtsamkeit können wir sogar eine stärkere Resilienz* im Angesicht chronischer Schmerzen entwickeln. Das achtsame Gewahrsein unterstützt unseren Geist, unsere Beziehungen und unser verkörpertes* Leben.

Implikationen: Was bedeutet achtsames Gewahrsein für unser Leben?

Die Vorteile für unsere Gesundheit, die wir durch achtsames Gewahrsein erfahren, legen nahe, dass es ein guter, grundlegender und wichtiger Aspekt unseres Lebens sein kann. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, wie wir zu einer spezifischen Definition dieser Seinsweise kommen. Die Fähigkeit, in unserem Leben präsent zu sein, ist gut für uns. Angesichts der Tatsache, dass es Übungen des achtsamen Gewahrseins* für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gibt, zeigt sich ein wirkungsvolles Potential für die Verbesserung des Wohlbefindens und der Resilienz über die ganze Lebensspanne hinweg. Die Unterstützung bei der absichtsvollen Schaffung achtsamer Zustände über längere Zeit kann der wichtigste Weg sein, um im Leben eines Menschen achtsame Charaktereigenschaften zu kultivieren, die Resilienz und Wohlbefinden fördern.

Aus Sicht der Interpersonellen Neurobiologie ist Achtsamkeit ein zutiefst integrativer Prozess im Geist, im Gehirn* und in unseren Beziehungen. Das ist auch der Grund, warum wir der Ansicht sind, dass das achtsame Gewahrsein mit Wohlbefinden einhergeht, und deshalb können wir auch sagen, dass die Vermittlung von Fertigkeiten, die Achtsamkeit unterstützen, ein Weg ist, um Integration* zu fördern. Weil Integration das Herz der Gesundheit ist, sind Güte* und Mitgefühl und die Entwicklung eines regelmäßigen Programms zur Kultivierung von achtsamen Fertigkeiten im Laufe der gesamten Lebensspanne für die Integration sehr sinnvoll.

Die Neuroplastizität* unseres Gehirns ist der Grund, warum es sich als Antwort auf Erfahrungen verändert. Wenn wir lernen, unsere Aufmerksamkeit in einer Weise zu fokussieren, die unser achtsames Gewahrsein* stärkt, kann dies die Struktur unseres Gehirns verändern. Studien haben immer wieder gezeigt, dass bei diesen Forschungen zwar verschiedene Teile des Gehirns eine Rolle spielten, dass es im Allgemeinen aber immer integrative Regionen sind, die den Cortex*, den limbischen* Bereich, den Hirnstamm* den Körper als Ganzes und die sozialen Einflüsse von anderen Gehirnen miteinander verknüpfen*. Diese integrativen Bereiche beeinflussen die Primrealitäten*: die Emotionsregulation* und den Fokus der Aufmerksamkeit, die emotionale und soziale Intelligenz sowie die Fähigkeit für Empathie und Selbsterkenntnis. Zu diesen Regionen gehören der vordere und hintere cinguläre Cortex*, der orbitofrontale Cortex und die medialen und ventralen Bereiche des präfrontalen* Cortex, einschließlich der Insula* und des limbischen Hippocampus*.

Eine Möglichkeit, um einige dieser integrativen Bereiche des Gehirns, die beim achtsamen Gewahrsein* aktiviert werden, zusammenzufassen, besteht darin, sie als Teile einer mittleren präfrontalen* Gruppe von Bereichen des frontalen Cortex zu sehen (s. Abb. D-1). Diese Gruppe dient als Verbindung zwischen dem Körper als Ganzes, dem Hirnstamm, dem limbischen Bereich, dem Cortex und den Einflüssen anderer Menschen (oder man könnte auch sagen anderer Gehirne). Die neun Funktionen, die aus der integrativen Informationsverarbeitung der mittleren Präfrontalregion entstehen, sind Regulierunng* des Körpers, eingestimmte Kommunikation*, emotionale Balance, Angstmodulation, Reaktionsflexibilität*, Einsicht*, Empathie*, Moral* und Intuition*.

In diesem Zusammenhang gibt es faszinierende Forschungsergebnisse: Die Funktionen des mittleren Präfrontalcortex werden sowohl bei der Achtsamkeitspraxis als auch bei sicheren Bindungen* zwischen Eltern und Kind gemessen (acht der neun Funktionen). Diese Überlappung zwischen Achtsamkeit und Bindung ist ein Hinweis darauf, dass zwischen diesen beiden scheinbar unterschiedlichen Aspekten des menschlichen Lebens einige gemeinsame Prozesse existieren. Eine vorgeschlagene Begründung ist, dass die innere Reflexion* der Achtsamkeitspraxis eine Form der inneren Einstimmung* beinhaltet, das heißt, ein sich beobachtendes Selbst stimmt sich in einer offenen und gütigen Weise auf ein erfahrendes Selbst ein. In gleicher Weise wird eine sichere Bindung zwischen Eltern und Kind von einer interpersonellen Einstimmung* gekennzeichnet – eine Form der Kommunikation, bei der sich die Mutter oder der Vater in offener und freundlicher Weise auf das Kind einstimmt. Einstimmung – innerlich bei der Achtsamkeit und interpersonell bei der Bindung – kann deshalb als eine Form der Integration gesehen werden. In der Tat ist eine wichtige Folge von Integration Güte – gegenüber anderen und gegenüber uns selbst.

Über diese neun präfrontalen Funktionen herrscht auch an anderer Stelle Einigkeit. Die Befragung eines breiten Spektrums von Psychotherapeuten legt nahe, dass diese neun Funktionen der mittleren Präfrontalregion eine zusammenfassende Beschreibung von mentaler Gesundheit* geben. Zahlreiche Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen sind der Ansicht, dass diese Liste den Weg beschreibt, wie wir ein weises und gütiges Leben führen können. So wie es auch von vielen Traditionen der Weisheit* überall auf der Welt gelehrt wird – unter anderem der Tradition der Inuit und Lakota in Nordamerika, der polynesischen Kultur* im Pazifik, den hinduistischen und buddhistischen Traditionen in Asien, den islamischen und jüdischen Traditionen mit ihrem Ursprung im Mittleren Osten und den christlichen Traditionen, die sich in Europa entwickelt haben. Diese neun Funktionen des mittleren Präfrontalbereichs werden als das Ergebnis von neuronaler Integration* angesehen. Daher lassen die Forschungsergebnisse darauf schließen, dass Achtsamkeit, sichere Bindung*, mentale Gesundheit und ein weises und gütiges Leben das Ergebnis von neuronaler Integration sind – und gleichzeitig diese Integration fördern.

 

Wenn wir das Konzept der Integration als zentral für Gesundheit und Resilienz ansehen, können wir verstehen, dass Übungen des achtsamen Gewahrseins eine zutiefst integrative Praxis sind. Mithilfe der absichtsvollen Kultivierung des achtsamen Gewahrseins kann das Gehirn stimuliert werden, um differenzierte* Gebiete miteinander zu verbinden, und Beziehungen können empathischer werden. Weil der Geist sowohl verkörpert als auch relational ist, zeigt die Verwendung dieser Form des Gewahrseins zur Förderung der Integration, wie wir unsere Gesundheit in vielen Aspekten unseres Lebens stärken können.

Aus Sicht der Interpersonellen Neurobiologie ist jede absichtsvolle Schaffung von Integration ein Teil des übergeordneten Ansatzes zur Verbesserung unserer Gesundheit. Wir sehen, dass die Übungen achtsamen Gewahrseins nicht nur ein grundlegender Teil der klinischen Interventionen, sondern ein wichtiges Element überhaupt aller pädagogischen Erfahrungen sind. Oft erfordern solche Übungen, dass wir uns eine „Einkehrzeit*“ nehmen, um über die innere Natur unseres subjektiven mentalen Lebens zu reflektieren*. Eine solche Einkehr können wir uns innerlich einstimmen, wobei ein beobachtendes Selbst die Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt auf ein erfahrendes Selbst im gegenwärtigen Augenblick fokussieren kann. Durch die zunehmende Fähigkeit zur inneren Einstimmung können wir vermuten, dass der Mensch tatsächlich die gleichen neuronalen Mechanismen nutzt, die auch im Kern der interpersonellen Einstimmung liegen. Auf diese Weise kultiviert das achtsame Gewahrsein in solch einer Einkehrzeit tatsächlich die neuronalen Voraussetzungen für Empathie und Mitgefühl gegenüber anderen. Einstimmung ist der gemeinsame Mechanismus, den wir in gesunden Beziehungen mit anderen, und in den Beziehungen, die wir mit uns selbst führen, finden. In diesem Sinne können wir Achtsamkeit als eine Möglichkeit verstehen, unser eigener bester Freund zu werden. Viele Studien legen nahe, dass der wirksamste Faktor zur Förderung von Gesundheit, Langlebigkeit und „Glück“ unsere interpersonellen Beziehungen sind. Könnte deshalb vielleicht auch Achtsamkeit eine Möglichkeit sein, um nicht nur unsere sozialen Verbindungen zu verbessern, sondern auch unsere Beziehung mit uns selbst? Stellen Sie sich vor, dass Sie Ihr Zuhause – Ihren Körper – mit Ihrem besten Freund teilen, statt mit einem neutralen Beobachter oder gar einem feindseligen Gegner. Das ist die Kraft der Achtsamkeit, durch die wir mittels des Dreiecks* der menschlichen Erfahrung Wohlbefinden schaffen können. Warum sollten wir solch ein integratives Training nicht jedem zugänglich machen und eine regelmäßige Einkehrzeit für junge und alte Menschen fördern? So könnte ihr Gehirn integrierter, ihre Beziehungen mit sich selbst und anderen freundlicher und bedeutungsvoller* und ihr Geist flexibler und widerstandsfähiger werden.

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Aufmerksamkeit

Worum geht es?

Aufmerksamkeit* ist der Prozess*, der die Richtung des Energie- und Informationsflusses* formt. Aufmerksamkeit kann im Bewusstsein* sein, dann sind wir uns des Objektes unserer Aufmerksamkeit bewusst. Aufmerksamkeit kann auch nicht-bewusst* sein, dann ist der Energie- und Informationsfluss ausgerichtet, doch wir uns dieses Flusses* nicht bewusst. Die Fachbegriffe dafür sind fokale (bewusste) und nichtfokale (unbewusste) Aufmerksamkeit.

Implikationen: Was bedeutet Aufmerksamkeit für unser Leben?

Wenn wir das Gewahrsein* nutzen, um absichtsvoll die Richtung des Energie- und Informationsflusses zu verändern, stärken wir die Fähigkeit zu fokaler Aufmerksamkeit, durch die wir die Möglichkeit zur Entscheidung und Flexibilität stärken. Wir können auswählen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken, wir können diese Aufmerksamkeit aufrechterhalten und dann die Aufmerksamkeit wechseln, wenn es nötig ist. Wir können Kindern, Jugendlichen und sogar Erwachsenen vermitteln, wie sich die fokale Aufmerksamkeit stärken lässt. In vielerlei Hinsicht ermöglicht uns die fokale Aufmerksamkeit, Absichten* in Handlungen zu verwandeln und dabei ein Gefühl von Sinn und Entscheidungsfreiheit zu empfinden. Wenn in einem Moment die fokale Aufmerksamkeit verwendet wird, wird unsere explizite Erinnerung* für dieses Ereignis effektiver gebildet. Die langfristige Codierung* der Erinnerung erfordert die Festigung der synaptischen Verknüpfungen* zwischen Neuronen* durch langfristige Potentiation. Wenn diese Formen von gespeicherter Erinnerung explizit codiert werden, dann sind sie als faktische und autobiographische Repräsentationen* zugänglich und können, wenn nötig, durchsucht werden. Die explizite Erinnerung ist flexibler und flüssiger als ihr impliziter Gegenpart.

Auch die nichtfokale Aufmerksamkeit formt unsere Erinnerung, aber sie beeinflusst vor allem die implizite Erinnerung*, die unsere Emotionenn*, Wahrnehmungen*, unser Gefühl, mit etwas vertraut zu sein, und unseren körperlichen Ausdruck codiert* und speichert*. Wenn die fokale Aufmerksamkeit blockiert ist, wie es bei einer traumatischen* Erfahrung der Fall sein kann, dann kann die explizite Erinnerung, die im Hippocampus* in der limbischen Region* entsteht, nicht gebildet werden. Auch in solch einer Situation formen sich Verbindungen zwischen den Neuronen – die Grundlage von Erinnerung –, aber daran sind Regionen des Gehirns* beteiligt, die nicht durch den Hippocampus miteinander verknüpft sind. Diese impliziten neuronalen Verbindungen beeinflussen dann unsere Gefühle, Gedanken, unsere Entscheidungsfindung und unsere Verhaltensreaktionen, doch oft kennen wir die Ursachen dieser impliziten Einflüsse nicht. Ein Beispiel: Studien deuten darauf hin, dass die Basalganglien, die unter dem Cortex* liegen, für regelkonformes Verhalten verantwortlich sind, das man implizit erlernen und automatisch anwenden kann. Zudem scheint die Amygdala* auch die emotionalen Reaktionen – beispielsweise Angst – implizit zu verschlüsseln, weshalb wir durch Priming darauf vorbereitet werden, in dieser Weise zu reagieren.

Eine Erklärung für diese Forschungsergebnisse wäre, dass die nichtfokale Aufmerksamkeit die Informationen* formt, die in der impliziten Erinnerung gebildet werden. Diese neuronale Verbindung benötigt nicht den Hippocampus zur Codierung oder zur Wiedererinnerung*. Mit anderen Worten, wenn Informationen ohne Gewahrsein (nichtfokal) reguliert* werden, dann werden neuronale Netze* aktiviert, die die Erfahrung als implizite Erinnerung codieren und speichern. Der Hippocampus ist nicht daran beteiligt, denn diese integrative Struktur benötigt Gewahrsein (Präsenz mit fokaler Aufmerksamkeit), um die Integration* von Erfahrungen zu gewährleisten. Deshalb sind die Elemente, die gebildet werden, wenn nur die nichtfokale Aufmerksamkeit benutzt wird, um eine Erfahrung zu verarbeiten, nur in einer impliziten Form vorhanden.

Geteilte Aufmerksamkeit ist der Prozess, bei dem die fokale Aufmerksamkeit auf einen Aspekt einer Erfahrung gelenkt wird, zum Beispiel ein nicht-traumatisierendes Element der Umgebung während eines Angriffs. Die nichtfokale Aufmerksamkeit wird auf ein anderes Element einer Erfahrung gerichtet, beispielsweise auf den traumatisierenden Aspekt des Ereignisses. In der Erfahrung der geteilten Aufmerksamkeit sind wir uns dessen bewusst, was im Brennpunkt der fokalen Aufmerksamkeit lag, doch wir sind uns nicht der nichtfokal wahrgenommenen Elemente bewusst; sie werden in impliziter Form codiert und gespeichert. Auf diese Weise kann geteilte Aufmerksamkeit zu einer Blockade der expliziten Codierung der traumatischen Aspekte einer Erfahrung führen, weil diese Aspekte während der Erfahrung nicht im Brennpunkt der Aufmerksamkeit lagen. Nur implizite Elemente werden codiert und gespeichert. Zusätzlich zum Mechanismus der geteilten Aufmerksamkeit kann die Freisetzung großer Mengen Cortisol die Aktivierung des Hippocampus noch stärker behindern. So wird die explizite Codierung einer überwältigenden Erfahrung verhindert. Die gleichzeitige Freisetzung von Katecholaminen (Noradrenalin oder Adrenalin) kann zudem die Codierung impliziter Erinnerung der Aspekte des Traumas verstärken, die körperlich schmerzhaft und emotional leidvoll sind und die mit nichtfokaler Aufmerksamkeit wahrgenommen wurden. Leider werden die nichtfokale Aufmerksamkeit und die darauf folgende Bildung impliziter Erinnerungen an eine traumatische Erfahrung nicht von der Teilung der Aufmerksamkeit behindert. Sie könnten durch diese Freisetzung von Noradrenalin sogar noch verstärkt werden.

Dieses Profil der zunehmenden impliziten Erinnerung und der blockierten Codierung expliziter Erinnerung bei einer traumatischen Erfahrung könnte ein wichtiger Mechanismus bei der Entstehung einer posttraumatischen Belastungsstörung sein. Aus Sicht der Interpersonellen Neurobiologie* ist ein Trauma ein schmerzvolles Beispiel für eine mangelhafte Integration.

Ein Verständnis dessen, was für eine Rolle nichtfokale Aufmerksamkeit und fokale Aufmerksamkeit bei der unterschiedlichen Codierung impliziter und expliziter Erinnerung spielt, kann uns nicht nur helfen, die Wirkung von Traumata auf den Geist* zu verstehen, sondern es kann auch zu neuen Strategien der klinischen Intervention führen. Beeinträchtigte Integration könnte im Zentrum des Prozesses stehen, durch den negative physiologische Reaktionen und geteilte Aufmerksamkeit einen Menschen beeinflussen. Demgemäß wären integrative Interventionen die gebotene Verfahrensweise bei der Behandlung von traumatischen Erfahrungen. Wenn wir traumatisierten Menschen die Fertigkeiten des achtsamen Gewahrseins*, der inneren Bilder und der Ressourcenbildung lehren, können sie den Fokus ihrer Aufmerksamkeit nutzen, um ihren inneren Zustand* der Fehlregulation* zu verändern. Aufmerksamkeit kann eine wichtige Rolle spielen, um die Konfiguration posttraumatischer Erinnerung in einen besser integrierten Zustand zu verwandeln, der mit dem Heilungsprozess einhergeht.

Aus Sicht der Interpersonellen Neurobiologie ist Aufmerksamkeit das „Skalpell“, durch das sich neuronale Pfade umgestalten lassen: Aufmerksamkeit wirkt für einen Kliniker oder Lehrer so wie das Skalpell für einen Chirurgen. Durch fokale Aufmerksamkeit können Menschen darin bestärkt werden, ihre neuronalen Neigungen, die als Reaktion auf das Trauma entstanden sind, in neue Zustände integrativer Aktivierung zu verwandeln. Kinder, deren Lehrer ihre Vorstellungskraft nutzen und sie inspirieren, aufmerksam zu sein, werden in der Lage sein, zu lernen und ein Gerüst des Wissens über sich selbst und die Welt auszubilden. Aufmerksamkeit ist die Triebkraft für Veränderung und Wachstum.

Aufmerksamkeit ist der Prozess, der den Energie- und Informationsfluss reguliert. Auf diese Weise ist es nicht das, was der Geist „tut“, sondern was der Geist „ist“. Aufmerksamkeit steht beispielsweise bei Menschen, die ein Trauma erfahren haben, im Zentrum der Symptome, durch die sich ihr Leiden manifestiert. Eine gesteigerte Wachsamkeit für subtile Stimuli, die jemanden an ein schmerzvolles Ereignis in der Vergangenheit erinnern, zeigt, wie die Aufmerksamkeit vom Trauma in Besitz genommen (versklavt) wurde. Betäubung ist eine Möglichkeit, wie fokale Aufmerksamkeit – Aufmerksamkeit mit Gewahrsein – blockiert wird, so dass Signale des Körpers nicht mehr wahrgenommen werden können. Die Aufmerksamkeit wird vom Trauma gebunden.

 

Wie steht dies mit der Integration in Verbindung? Wenn bei einem Menschen Chaos* oder Erstarrung* festgestellt wird, kann der Bereich des Lebens, in dem die Integration behindert ist, in den Mittelpunkt der klinischen Intervention gestellt werden. Zu einer Intervention gehört die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf weniger entwickelte Bereiche, damit sie differenzierter* werden. Als Nächstes werden dann die getrennten Bereiche durch die gleichzeitige Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Prozesse, die aus diesen differenzierten Bereichen entstehen, miteinander verknüpft. Die Kernaussage des Satzes, „Neuronen, die zusammen aktiviert werden, vernetzen sich*“, besteht darin, dass die Muster der neuronalen Aktivierung* sich aufgrund des Fokus der Aufmerksamkeit verändern. Dort, wo wir unsere Aufmerksamkeit hinlenken, wird die neuronale Aktivierung zwischen wechselseitig verbundenen Neuronen stimuliert. Diese Koppelung der neuronalen Aktivierung führt zu Veränderungen bei der Eiweißsynthese und der Zunahme synaptischer Verbindungen. So nutzen wir die Aufmerksamkeit, um im Gehirn neuronale Aktivierung und neuronales Wachstum zu stimulieren (SNAG*: stimulate neuronal activation and growth). Wenn sich die Muster der Aktivierung verändern, werden die neuronalen Verbindungen neu vernetzt.

Im Mindsight Institute, dem Zentrum der Interpersonellen Neurobiologie, verwenden wir diese Formulierung: „neue Vernetzungen inspirieren“. Das bedeutet, dass unsere Beziehungen* mit anderen uns dazu motivieren können, unsere Aufmerksamkeit auf neue und integrativer Weise zu fokussieren, so dass wir einen resilienten Geist und ein gesundes Gehirn entwickeln.